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INTERNATIONAL/080: Ägypten - Streitkräfte sollen für Verbrechen haftbar gemacht werden (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. September 2012

Ägypten: Kein Entkommen für Militärführer - Streitkräfte sollen für Verbrechen während der Rebellion haftbar gemacht werden

von Cam McGrath


Aktivisten fordern Bestrafung der für Verbrechen an Demonstranten verantwortlichen Militärs - Bild: © Cam McGrath/IPS

Aktivisten fordern Bestrafung der für Verbrechen an Demonstranten verantwortlichen Militärs
Bild: © Cam McGrath/IPS

Kairo, 17. September - In Ägypten hatte die Bevölkerung die Militärs während der Revolution im letzten Jahr als ihre Befreier begrüßt. Doch die Freude war schnell verflogen. Viele Ägypter sind inzwischen der Meinung, dass die 16-monatige Übergangszeit unter dem Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF) bis zum Amtsantritt des zivilen Präsidenten Mohamed Morsi im Juni noch repressiver war als die 29 Jahre unter dem ehemaligen Machthaber Husni Mubarak.

"Die Militärs hatten sich damals als Wächter der Revolution eingeführt. Erst glaubten wir ihnen, doch dann kam die Ernüchterung", sagt der Jugendführer Mohamed Abbas. Aktivisten beschuldigen den SCAF, Ägypten von einem autoritären Polizeistaat in eine Militärdiktatur verwandelt zu haben. Sie verlangen, die hochrangigen Offiziere für die vielen Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, die sie während der Übergangszeit zu verantworten hatten.

Viele der Übergriffe gehen auf die Bemühungen der Streitkräfte zurück, den Aufstand unter Kontrolle zu bringen. Demonstranten berichteten über Folter und Demütigungen in Militärgewahrsam. Etwa 12.000 Zivilisten waren zudem in Scheinprozessen zu schweren Haftstrafen verurteilt wurden.

Wie die Ägyptische Initiative für persönliche Rechte (EIPR) berichtet, wurden bei den Militäreinsätzen zur Auflösung verschiedener Sitzstreiks in Kairo Dutzende Menschen getötet. Sie beschuldigt die Streitkräfte ferner, im vergangenen Oktober im Kairoer Maspero-Viertel Soldaten und den Mob auf eine Gruppe vorwiegend christlicher Demonstranten gehetzt zu haben. Dabei starben 28 Menschen und Hunderte wurden verletzt.

Der seit dem 30. Juni amtierende Morsi hat die älteren militärischen Führer in den Ruhestand versetzt und einen Ermittlungsausschuss eingerichtet, der die Übergriffe der Militärs auf die Zivilbevölkerung in der Übergangszeit untersuchen soll. Das aus Regierungs- und zivilen Vertretern zusammengesetzte Gremium soll noch in diesem Monat seine Ergebnisse vorlegen.

Doch Aktivisten irritiert, dass Morsi den ehemaligen SCAF-Chef Hussein Tantawi und den früheren Stabschef Sami Anan vor ihrer Pensionierung noch hoch dekoriert hat. Sie befürchten, dass den beiden Immunität zugesagt wurde. Das wollen sie nicht zulassen. "Vor der Revolution hatten wir Angst, unsere Rechte einzufordern", meint Abbas. "Doch nun werden wir nicht mehr klein beigeben."

Die Jugendbewegung 6. April, die den Aufstand mitorganisiert hatte, der zum Sturz von Mubarak führte, hat bereits angekündigt, gerichtlich gegen Tantawi und andere ehemalige SCAF-Mitglieder vorzugehen. "Wir machen sie für den Tod von Demonstranten während des Übergangs, von Christen in Maspero im Oktober und für Verleumdungen verantwortlich, die zu Gewalt gegen Demonstranten führte", sagt Ahmed Maher, der Leiter der Jugendbewegung.

Anwälte und Aktivisten haben bereits mehr als zwei Dutzend Klagen gegen SCAF-Mitglieder und höhergestellte Sicherheitsoffiziere eingereicht, die sie des Verrats an der Revolution und Verbrechen beschuldigen. Problem ist nur, dass die Verfahren nur von Militärgerichten verhandelt werden können.

"Militärgerichte sind weder glaubwürdig noch transparent", meint dazu Heba Hegazi, Koordinatorin der Hakemohum-Kampagne ('Verfolgt sie'), die sich dafür einsetzt, dass die Militärs ihre Immunität verlieren und vor Zivilgerichte gestellt werden können. "Das haben bereits frühere Verfahren gezeigt."

Im März hatte ein Militärgericht einen Armeearzt freigesprochen, der im letzten Jahr 'Jungfräulichkeitstests' an weiblichen Häftlingen durchgeführt hatte. In einem anderen Fall wurden drei Soldaten wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, die im vergangenen Oktober in Maspero mit gepanzerten Mannschaftswagen koptische Demonstranten überfahren hatten. Obwohl Beweise vorlagen, wonach der SCAF absichtlich religiösen Hass geschürt hatte, wurden keine höheren Offiziere verurteilt.

Viele Ägypter enttäuschte auch der Ausgang der Verfahren gegen Mubarak und seine Helfershelfer. Während ein Zivilgericht den ehemaligen Staatschef und dessen früheren Innenminister Habib El-Adly wegen des Todes von 800 Demonstranten während des Volksaufstands im letzten Jahr zu 25 Jahren Haft verurteilte, wurden andere hochgestellte Sicherheitskräfte von jeder Verantwortung freigesprochen.

Hegazi zufolge gibt sich der SCAF alle Mühe, um seine Führungsriege zu schützen und Übergriffe zu vertuschen. Dennoch ist sie zuversichtlich, dass diejenigen, die ihre Macht missbraucht haben, für ihre Taten doch noch büßen werden. "Vor der Revolution hatten wir schließlich auch nicht gedacht, dass wir Mubarak entmachten und vor Gericht stellen könnten." (Ende/IPS/kb/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2012