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INTERNATIONAL/095: Mexiko - Lang ersehntes "Verschwundenen-Gesetz" in Kraft (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Februar 2013

Mexiko: Lang ersehntes "Verschwundenen-Gesetz" in Kraft

von Daniela Pastrana


Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Das Opfergesetz wurde erstmals in Ciudad Juárez gefordert
Bild: © Daniela Pastrana/IPS

Mexiko-Stadt, 8. Februar (IPS) - "Wir werden solange kämpfen, bis unseren Kindern Gerechtigkeit widerfährt", sagt Araceli Rodríguez, Mutter eines jungen Polizisten, der zusammen mit sieben weiteren Personen am 16. November 2009 im westmexikanischen Bundesstaat de Michoacán 'verschwand'.

Rodríguez ist eine von mehreren Dutzend Betroffenen, die durch den Kampf des ehemaligen Staatspräsidenten Felipe Calderón gegen den Drogenhandel Angehörige verloren haben. Von einem neuen Gesetz, das am 9. Februar in Kraft tritt, erhofft sie sich nun Hilfe bei der Suche nach ihrem Sohn Luis Ángel León Rodríguez.

"Wenn er tatsächlich tot ist, dann soll man mir seine Asche zeigen. Wenn er wirklich verbrannt wurde, will ich seine Zähne sehen", sagt Rodríguez. "Ich werde diesen Kampf erst dann aufgeben, wenn all diejenigen, die für seinen Tod verantwortlich sind, hinter Gittern sitzen und sein Name von allen Makeln befreit ist."

Die Mutter ist seit zwei Jahren Mitglied der Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde, die der Lyriker Javier Sicilia gegründet hat und die maßgeblich zur Verabschiedung des Allgemeinen Gesetzes für Opfer von Gewalt beigetragen hat. Vor 20 Monaten hatte die Organisation im nordmexikanischen Ciudad Juárez ein Gesetz gefordert, das sich mit den Folgen der Gewalt in Mexiko beschäftigt. Unterstützung kam vom Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen. Am 9. Januar dieses Jahres wurde es schließlich verabschiedet.


Ein Gesetz, dass es nicht geben dürfte

"Genau genommen dürfte es dieses Gesetz gar nicht geben", sagt Sicilia. "Wir brauchen es jetzt, weil andere Gesetze nicht angewendet und weil die Bürger des Landes nicht ordentlich geschützt werden und weil wir uns inmitten eines Krieges befinden, den es nicht geben sollte." Sicilia hat im schmutzigen Krieg in Mexiko seinen Sohn verloren: Juan Francisco wurde im März 2011 umgebracht. Seitdem reist der Dichter durch das gesamte Land und klopft an die Türen von Regierungsvertretern, mit dem Ziel, die tödliche Sicherheitspolitik des Landes zu stoppen.

Kurz nach seinem Amtsantritt im Dezember 2006 hatte der damalige Präsident Calderón den Drogenkartellen des Landes den Krieg erklärt. Die Sicherheitspolitik wurde stark verschärft, die Militärpräsenz erhöht, und die Polizei mit weitgreifenden Befugnissen ausgestattet. Seitdem wurde das Personal der Polizei um das Sechsfache aufgestockt und deren Jahreshaushalt von 800 Millionen auf drei Milliarden US-Dollar erhöht.

60.000 Menschen sind seitdem umgekommen und 25.000 verschwunden - so die offiziellen Zahlen. Menschenrechtsorganisationen gehen von weit höheren Zahlen aus. Darüber hinaus wurden 250.000 Menschen vertrieben.

Die Bewegung für Frieden war erstmals im November 2011 mit der Forderung eines Opfergesetzes an die Öffentlichkeit gegangen. Nachdem das Parlament schließlich sein Placet gab, legte Präsident Calderón sein Veto ein. Erst sein Amtsnachfolger Enrique Peña Nieto stellte sich hinter die Regelung und erklärte: "Es ist dringend an der Zeit, einen legalen Rahmen für den Umgang mit den Opfern von Gewalt zu schaffen."

"Für uns ist es ein großer Triumph, dass das Gesetz nun endlich in Kraft tritt. Aber bis es tatsächlich vielen Menschen zugutekommt und Erfolge zeigt, ist es noch ein langer Weg", sagt Margarita López, deren 16 Jahre alte Tochter verschwand und vermutlich einem Verbrechen zum Opfer fiel.

Auch López wäre beinahe selbst ums Leben gekommen: Am 19. Januar hatte sie einen Termin mit argentinischen Forensikern, die ihre DNA mit Proben eines Skelettes vergleichen wollten, von dem die Behörden annehmen, dass es sich um die Überreste ihrer Tochter handelt. Dabei wäre sie beinahe Opfer eines Attentats geworden. "Ich bin es leid zu kämpfen", sagt sie. "Die Behörden sind selbst Teil des Problems, und das macht es so schwierig. Ich überlege immer wieder, das Land zu verlassen, aber dann denke ich: Wer wird dann noch nach meiner Tochter suchen?"


Regierung durch 'Abwesenheitserklärung' unter Handlungsdruck

Das Gesetz regelt den juristischen Schutz der Opfer, die psychologische und medizinische Betreuung sowie Schadenersatzzahlungen. Darüber hinaus sichert sie den Opfern und deren Angehörigen das Recht auf Wohnen und Bildung zu und die Möglichkeit, sich um eine 'Abwesenheitserklärung' zu bemühen. Sie überträgt den Eltern der Opfer die Fürsorge über ihre Enkel und zwingt den Staat dazu, die 'Abwesenden' zu suchen.

Auch wenn das neue Gesetz lückenhaft ist, sind Opferfamilien und Menschenrechtler gleichermaßen froh, dass der Staat das Verschwinden von Menschen überhaupt anerkennt. Die Bewegung für den Frieden will nun dafür sorgen, dass das Gesetz so schnell wie möglich im ganzen Land bekannt wird. Dafür bereitet sie Workshops und Vorträge in allen 31 mexikanischen Bundesstaaten vor. (Ende/IPS/jt/2013)


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http://movimientoporlapaz.mx/
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2013