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INTERNATIONAL/109: Argentinien - Zahl flüchtiger Menschenrechtsverletzer nimmt zu (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. August 2013

Argentinien: Laxe Sicherheitsauflagen, viele Helfershelfer - Zahl flüchtiger Menschenrechtsverletzer nimmt zu

von Marcela Valente



Buenos Aires, 1. August (IPS) - In Argentinien gelingt Personen, die wegen Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 angeklagt beziehungsweise verurteilt worden sind, zunehmend die Flucht. So ist ihre Zahl innerhalb eines Jahres von fast 40 (2011) auf 54 gestiegen, wie aus einer Untersuchung des Zentrums für Rechts- und Sozialstudien (CELS) hervorgeht.

Nach aktuellen Angaben der Generalstaatsanwaltschaft müssen sich derzeit 1.049 Personen einem Verfahren im Zusammenhang mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellen. 471 Personen standen bereits vor Gewicht, 426 von ihnen wurden rechtskräftig verurteilt. Von den insgesamt 853 inhaftierten Personen - die Zahl beinhaltet auch die Untersuchungshäftlinge - sitzen 60 Prozent in regulären Gefängnissen ein, 36 stehen unter Hausarrest. Die übrigen verteilen sich über Militäreinrichtungen und Krankenstationen.

Die CELS-Forscherin Lorena Balardini führt die erfolgreiche Flucht der Häftlinge auf unterschiedliche Faktoren zurück. Zum einem würden die Sicherheitsbestimmungen zu lax gehandhabt, zum anderen könnten die Schergen der Diktatur offenbar auf ein gut funktionierendes Netzwerk aus Helfershelfern und auf umfangreiche finanzielle Mittel zurückgreifen.


Inszenierter Gesundheitstransport

Der bislang letzte erfolgreiche Fluchtversuch ereignete sich am 25. Juli. Nach ihrer Verurteilung in der Provinz San Juan drei Wochen zuvor zu lebenslänglich und 25 Jahren ohne Hafterleichterung waren Jorge Olivera und Gustavo de Marchi zur dermatologischen, kinesiologischen und psychiatrischen Behandlung ins 1.300 Kilometer entfernte Cosme-Argerich-Militärzentralkrankenhaus in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires gebracht worden und abgetaucht.

Zunächst hatte das Gericht in San Juan, das Olivera und de Marchi zu den schweren Haftstrafen verurteilt hatte, den Überstellungsantrag von Oliveras Frau Marta Ravasi, Psychologin am Cosme-Argerich-Hospital abgewiesen. Dann aber wurde es in einem zweiten Anlauf von dem Vertretungsrichter Miguel Ángel Gálvez genehmigt.

Die argentinische Justiz hat inzwischen internationale Haftbefehle gegen die zwei Flüchtlinge erlassen, das Justizministerium ein Kopfgeld in Höhe von zwei Millionen Peso (364.000 Dollar) ausgesetzt. Darüber hinaus wurden die mutmaßlich an der Flucht beteiligten Militärs und Strafvollzugsbeamten ausgetauscht beziehungsweise in den Ruhestand versetzt. Ebenso wurde Anzeige gegen den Richter Gálvez erstattet.

Um weiteren Fluchtversuchen inhaftierter Menschenrechtsverletzer vorzubeugen, wurden alle diesbezüglichen Gefangenentransporte ausgesetzt. Zudem ist eine gesundheitliche Untersuchung aller dieser speziellen Gefangenen vorgesehen. Auch werden diese künftig nicht mehr in Armeehospitäler, sondern in das für die jeweilige Haftanstalt zuständige Gesundheitszentrum gebracht. Krankentransporte sollen nur noch dann erfolgen, wenn eine Bescheinigung über Krankheitssymptome oder Schmerzen vorliegt.

Das Justizministerium verfügt über ein Nationales Häftlingssuchprogramm für Personen, die wegen Menschenrechtsverstößen verurteilt worden sind. Dieses Programm berücksichtigt 52 Fälle und sieht Belohnungen im Fall der Ergreifung der Flüchtigen vor.

"Am schwierigsten ist der Fall von Jorge Vildoza", meint die CELS-Wissenschaftlerin Balardini in Anspielung auf den ehemaligen Marinehauptmann, der 1976 und 1977 zur Leitung des berüchtigten geheimen Folter- und Haftzentrums ESMA in Buenos Aires gehörte. Viele Diktaturopfer waren hier zum letzten Mal lebend gesehen worden.

Vildoza und seine Frau, Ana María Grimaldos, zogen 1986 in die Schweiz. Das Paar hatte ein Kind mitgenommen, das 1977 in der ESMA geboren worden war. Zwei Jahre später erließ die argentinische Justiz einen internationalen Haftbefehl gegen den Ex-Militär wegen illegaler Aneignung eines Minderjährigen.

1998 stellte sich das inzwischen erwachsene Entführungsopfer der argentinischen Justiz und ließ über eine DNA-Analyse seine Identität feststellen. Er war als Sohn von Hugo Penino und Cecilia Viñas geboren worden. Cecilia Viñas war zum Zeitpunkt ihrer Festnahme im siebten Monat schwanger gewesen und zuletzt in der ESMA lebend gesehen worden. Dennoch blieb Sohn Javier Penino Viñas bis zu seiner Heirat im Haus seiner Entführer/Adoptiveltern.

Grimaldos wurde vor einem Jahr bei dem Versuch, mit gefälschten Papieren nach Argentinien einzureisen, gefasst. Ihr wird derzeit der Prozess wegen Kindsraub gemacht. Obwohl sie behauptet, dass ihr Mann bereits verstorben sei, setzt Argentinien die Suche nach ihm fort.

CELS zufolge benötigen die flüchtigen Menschenrechtsverletzer Hilfe von außen, finanzielle Unterstützung, um sich mit gefälschten Dokumenten aus dem Bannkreis der argentinischen Justiz zu retten. Auch müssen Anwälte, der Umzug und die Unterhaltskosten in einem anderen Land bestritten werden.


Freiheit durch Kautionsregelung

Olivera, der zunächst von den Amnestiegesetzen profitiert hatte, war im Jahr 2000 in Italien auf Geheiß der französischen Justiz festgenommen worden. Doch mit Hilfe gefälschter Papiere konnte auch er sich in Sicherheit bringen. Erst 2007, als die Gerichtsverfahren gegen die Menschenrechtsverletzer in Uniform wieder aufgenommen wurden, ordnete die Justiz seine Festnahme an. Im Jahr darauf wurde er verhaftet, vor Gericht gestellt und im letzten Monat verurteilt.

Margarita Camus, ein Folteropfer, macht die Flucht von Olivera, de Marchi und den anderen schwer zu schaffen. "Wir wissen, was das für Menschen sind, wie sie sich im Verborgenen bewegen. Das macht uns nervös", sagt sie.

Fluchtversuche, wie sie Olivera und de Marchi gelungen sind, werden auch von weniger bekannten Diktaturhandlangern unternommen. Einer von ihnen ist Carlos Arroyo. Im Vorfeld seines Verfahrens war er auf Kaution freigelassen worden - und nutzte die kurze Freiheit zur Flucht.

In Formosa im Nordosten des Landes sollte am 31. Juli das Verfahren gegen neun Personen eröffnet werden, die für die Entführung von 74 Menschen verantwortlich gemacht werden. Doch der Hauptangeklagte Ángel Spada hatte sich im Juni abgesetzt. Auch er profitierte von einer Freilassung auf Kaution. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.cels.org.ar/home/
http://fiscales.gob.ar/lesa-humanidad/wp-content/uploads/sites/4/2013/07/Informe-a-Julio-del-20131.pdf
http://www.jus.gob.ar/la-justicia-argentina/personas-buscadas/delitos-de-lesa-humanidad.aspx
http://www.ipsnoticias.net/2013/07/represores-en-fuga-en-argentina/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 1. August 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2013