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MELDUNG/451: Mehr als 125.000 Menschen gegen CETA - Verfassungsbeschwerde eingereicht (Campact)


Campact - Pressemitteilung vom 30. August 2016

Mehr als 125.000 Menschen gegen CETA:
Campact, foodwatch und Mehr Demokratie reichen größte Verfassungsbeschwerde der Geschichte ein

- Handelsabkommen mit Kanada verstößt in vier Punkten gegen das Grundgesetz
- Einstweilige Anordnung soll "vorläufige Anwendung" von CETA verhindern


Erfurt/Karlsruhe/Berlin, 30. August 2016. Die Organisationen Campact, foodwatch und Mehr Demokratie haben heute [30.06.2016] beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen das Handelsabkommen CETA eingereicht. Mehr als

125.000 Menschen haben sich der Beschwerde "Nein zu CETA" angeschlossen - es ist damit die größte Bürgerklage in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Verteilt auf mehr als 70 Kartons, wurden die Vollmachten am heutigen Dienstag in Erfurt in einen Laster geladen und auf den Weg nach Karlsruhe gebracht. Das in Erfurt ansässige gemeinnützige Christophoruswerk hatte die Vollmachten erfasst und sortiert. - Morgen (Mittwoch) Vormittag sollen die Vollmachten, mit denen sich die Bürgerinnen und Bürger der CETA-Beschwerde anschließen, an das Bundesverfassungsgericht übergeben werden.

Nach Einschätzung der Organisationen verstößt das geplante Abkommen zwischen der EU und Kanada gleich in vier Punkten gegen das Grundgesetz. Das Bündnis hat beim Bundesverfassungsgericht zudem eine einstweilige Anordnung beantragt: Damit würde das Gericht den deutschen Vertreter im Handelsministerrat - nach dem Stand der Dinge Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel - auffordern, gegen die geplante "vorläufige Anwendung" von CETA zu stimmen, mit der das Abkommen bereits vor einer Abstimmung im Bundestag in Kraft gesetzt werden soll. Eine solche "vorläufige Anwendung" soll in diesem Herbst vom Ministerrat beschlossen werden.

"Die vorläufige Anwendung von CETA ist brandgefährlich, denn damit werden Fakten geschaffen. Demokratisch nicht legitimierte Gremien und investorenfreundliche Schiedsgerichte würden bereits anfangen zu arbeiten, das Vorsorgeprinzip könnte ausgehebelt werden - das alles ohne Zustimmung des Bundestages", erklärte Roman Huber, geschäftsführender Bundesvorstand der Vereins Mehr Demokratie.

"Es steht außer Frage, dass CETA schädlich ist für die Demokratie und deshalb abgelehnt werden muss. Vor dem Bundesverfassungsgericht wollen wir klären lassen, ob das Abkommen zusätzlich noch gegen das Grundgesetz verstößt", ergänzte foodwatch-Geschäftsführer Thilo Bode.

Jörg Haas von Campact sagte: "Über 128.000 Bürger stehen hinter dieser Verfassungsbeschwerde. Sie senden ein klares Signal: Wir kämpfen für unsere Demokratie - bis vor das Verfassungsgericht! Angesichts wachsender Politikverdrossenheit täten Bundesregierung und Parteien gut daran, dieses Signal sehr ernst zu nehmen.?

Ansatzpunkt für die Verfassungsbeschwerde ist, dass CETA den Einfluss von Parlamenten schwächen würde, wodurch auch die Stimmen von Wählerinnern und Wählern weniger wert wären. Prof. Dr. jur. Bernhard Kempen, Direktor des Instituts für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht an der Universität Köln, hat als Prozessvertreter des Bündnisses in seinem Schriftsatz an das Verfassungsgericht vier Punkte aufgeführt, die nach Auffassung der Beschwerdeführer nicht vereinbar mit dem Grundgesetz sind:

• Durch CETA sollen europäisch-kanadische Ausschüsse weitreichende Befugnisse erhalten. Sie können den Vertrag unter Umgehung der Parlamente auslegen und sogar verändern. Das oberste CETA-Gremium, der "gemischten Ausschuss", soll allein mit Vertretern der Exekutive besetzt werden, Parlamentarier und deutsche Vertreter sind nicht vorgesehen.

• Die geplanten Investitionsgerichte würden eine unzulässige Paralleljustiz mit Sonderrechten für kanadische Investoren einrichten. Dies wäre eine Diskriminierung europäischer Investoren, denen dieser Weg verschlossen bliebe. Allein die Möglichkeit, dass ein Schiedsgericht den deutschen Staat zu hohen Schadenersatzzahlungen verpflichten könnte, hätte erheblichen Einfluss auf Regulierung und Gesetzgebung.

• Das Vorsorgeprinzip - ein Kernelement der europäischen Regulierungspolitik - ist im CETA-Vertrag nicht hinreichend abgesichert. Damit wären viele Verbesserungen beim Umwelt- oder Gesundheitsschutz praktisch ausgeschlossen.

• Vorläufige Anwendung: Noch bevor die nationalen Parlamente in den EU-Staaten über CETA abgestimmt haben, soll der Vertrag "vorläufig" angewandt werden - womöglich über Jahre hinweg. Damit würde die "vorläufige" Anwendung endgültige Fakten schaffen: Denn den negativen Folgen des Abkommens wären die Bürgerinnen und Bürger voll und ganz ausgesetzt, lange vor einem Votum des Bundestages.

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Hintergrundpapier zur Verfassungsbeschwerde gegen CETA
30. August 2016

Die Verfassungsbeschwerde

Ein Bündnis von Mehr Demokratie, foodwatch und Campact reicht eine Verfassungsbeschwerde gegen das geplante Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada ein. Daneben wurde auch ein Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt. Dieser soll verhindern, dass CETA noch vor der Ratifikation durch die EU-Mitgliedsstaaten schon vorläufig angewendet wird - und sei es in Teilen.

Der Verfassungsbeschwerde haben sich mehr als 125.000 Personen als Klägerinnen und Kläger angeschlossen. Prozessvertreter des Bündnisses ist Prof. Dr. jur. Bernhard Kempen, Direktor des Instituts für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht an der Universität zu Köln, der in Zusammenarbeit mit weiteren Wissenschaftlern die Verfassungsbeschwerde ausgearbeitet hat.

CETA und Demokratie

Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens in Karlsruhe ist CETA aus demokratiepolitischer Sicht ein höchst problematisches Abkommen. Als Handelsabkommen einer neuen Generation greift es in den gesellschaftspolitischen Prozess der Rechtsetzung und Regulierung ein. Schwerpunkt solcher neuartigen Verträge, zu denen auch das geplante TTIP-Abkommen zwischen der EU und den USA gehört, bildet nicht mehr die Senkung von Zöllen, sondern die Beseitigung sogenannter nicht-tarifärer Handelshemmnisse. Als handelshemmend gelten auch Regulierungen, die das "Schutzniveau" in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen, z.B. Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz regeln. Das wirft die Frage auf, ob es hierbei zu einer Gefährdung der Demokratie kommt oder sogar Verfassungsrecht verletzt wird.

CETA hat als völkerrechtliches Abkommen den Zweck, nationalstaatliche Handlungsspielräume zugunsten transnationaler Ziele zu begrenzen. Damit wird bewusst auch eine Einschränkung des Demokratieprinzips in Kauf genommen, also das Recht der Bürger, ihr eigenes politisches Schicksal zu bestimmen. CETA hat gravierende Auswirkungen auf die Bevölkerung. Mit einem solchen Abkommen hinge die Weiterentwicklung wichtiger gesellschaftspolitischer Regelungen, soweit sie den Außenhandel betreffen, von der Zustimmung Kanadas ab. Nach Abschluss bestünde keine Möglichkeit, das Abkommen in Teilen zu kündigen, um eine größere Regelungssouveränität zurückzuerlangen. Eine Kündigung des gesamten Vertrages kann zwar einseitig durch die Vertragspartner erfolgen. Dies würde aber im Falle der EU die Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten erfordern, ist also wenig realistisch.

An mehreren Stellen des CETA-Vertrages wird festgehalten, dass das "right to regulate" der Vertragspartner erhalten bleibe, die EU und ihre Mitgliedstaaten also auch weiterhin eigenständig Gesetze und Regulierungsmaßnahmen verabschieden könnten. Diese formale Zusicherung bringt jedoch keinen nennenswerten Schutz. Denn wenn ein Vertragspartner eine im Rahmen von CETA beschlossene Regelung kündigt oder eine neue ohne Zustimmung des anderen Vertragspartners trifft, muss er mit Sanktionen rechnen. Somit ist es zwar zutreffend, dass die Gesetzgebungskompetenzen durch CETA formal nicht angetastet werden, doch in der Praxis werden sie eben doch eingeschränkt.

Kritisch wird bei CETA auch die"regulatorische Kooperation" betrachtet: CETA ist als "living agreement", als sich ständig weiter entwickelnder Vertrag, konzipiert. Das heißt: Wenn das Abkommen einmal ratifiziert worden ist, kommt es auch in der Folge zu einer permanenten Zusammenarbeit der Vertragsparteien in regulatorischen Fragen. Festgelegt ist, dass unter den Exekutivorganen (Regulierungsbehörden) der Vertragspartner die Fortentwicklung der Handelsverträge vorabgesprochen wird. Der Einfluss von Wirtschaftsinteressen - und damit die Vorprägung von Gesetzesinitiativen - ist in dieser Phase besonders wirksam. Die an dieser Phase nicht beteiligte Legislative, also die für die Gesetzgebung zuständigen Parlamente, würde geschwächt. Dadurch wäre auch die Stimme der Wählerinnen und Wähler weniger wert.

Die Einschränkung des "right to regulate" und auch die "regulatorische Kooperation" sind aus demokratiepolitischer Sicht zu kritisieren. Das heißt aber noch nicht zwangsläufig, dass dies verfassungswidrig ist. Das Bundesverfassungsgericht kann CETA nur nach sehr strengen Maßstäben daraufhin überprüfen, ob die demokratiepolitisch fragwürdigen Bestandteile von CETA auch einen Verstoß gegen das Grundgesetz darstellen. Nach Einschätzung der Beschwerdeführenden ist dies in vier Punkten der Fall, die unter dem Punkt Verfassungswidrige Vertragsbestandteile näher erläutert werden.

Beschwerdebefugnis

Verfassungsbeschwerde kann eingelegt werden, wenn das grundrechtsgleiche Recht der Beschwerdeführenden auf wirksame demokratische Partizipation (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) verletzt ist. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich, dass sich dieses Recht nicht in der formalen Teilnahme an der Wahl zum Deutschen Bundestag erschöpft. Vielmehr schützt Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG den Wähler davor, dass sein Wahlrecht ins Leere läuft, denn im Bundestag müssen trotz völkervertraglicher Verpflichtungen, wie sie aus CETA resultieren würden, substantielle Befugnisse verbleiben.

Verfassungswidrige Vertragsbestandteile

Die Beschwerdeführenden begründen ihre Verfassungsbeschwerde mit vier Tatbeständen, die nach ihrer Auffassung verfassungswidrig sind:

a) Ausschüsse: CETA sieht die Errichtung einer Ausschussstruktur vor. Der Hauptausschuss ("Gemischter CETA-Ausschuss") ist ermächtigt, einseitig Verfahrensvorschriften zu erlassen und sogar Vertragsänderungen vorzunehmen. Die Vertragsstaaten haben sich diesen Entscheidungen zu unterwerfen. Diese Befugnis wird dem Gemischten CETA-Ausschuss allein zugewiesen, d.h. ohne dass ein nationales Verfahren oder die Zustimmung der Vertragsstaaten vorgesehen wäre. Verfassungswidrig ist auch die Nicht-Beteiligung deutscher staatlicher Repräsentanten im Gemischten CETA-Ausschuss.

b) Investitionsgerichte: Kanadische Unternehmen können sogenannte Investitionsgerichte anrufen, um den deutschen Staat bzw. Bundesländer und Kommunen auf Schadensersatz zu verklagen, wenn sie die Wirtschaftlichkeit ihrer Unternehmungen durch staatliche Maßnahmen beeinträchtigt sehen. Damit wird eine unzulässige Paralleljustiz geschaffen und eine Ungleichbehandlung deutscher Unternehmen erzeugt, da nur ausländische Investoren den Staat mit Schadensersatzforderungen überziehen können.

c) Das "Vorsorgeprinzip" als ein Kernelement der europäischen Regulierungspolitik ist in

CETA rechtlich nicht hinreichend abgesichert. Verbesserungen des Gesundheitsschutzes in der Umwelt-, Verbraucher- und Lebensmittelpolitik haben sich in der Vergangenheit z.T. erfolgreich auf das Vorsorgeprinzip gestützt. Dies trifft etwa auf die europäische Chemikalienverordnung "REACH" zu. Unter dem CETA-Vertrag wäre eine solche Regulierung praktisch ausgeschlossen, wenn man den Vorgaben des Abkommens folgt.

d) Vorläufige Anwendung: CETA ist ein sogenanntes "gemischtes Abkommen", das nicht nur EU-Kompetenzen, sondern auch die Zuständigkeiten der Nationalstaaten betrifft und damit eine Ratifizierung durch die Parlamente der EU-Mitgliedstaaten erforderlich macht. Die Kommission und die EU-Mitgliedstaaten haben zudem erklärt, dass sie CETA "vorläufig anwenden" wollen. Das Abkommen soll also bereits in Kraft treten, bevor die nationalen Parlamente über eine Annahme abgestimmt haben. Die vorläufige Anwendung bliebe so lange bestehen, bis die Ratifizierung "endgültig" abgeschlossen ist. Dies kann Jahre dauern. Konsequenz ist, dass die Bürger den negativen Wirkungen des Vertrags ausgesetzt sind, ohne dass der Vertrag demokratisch beschlossen wurde. Dabei ist es unerheblich, ob das gesamte Abkommen oder nur Teile vorläufig angewendet werden. Eine diskutierte Möglichkeit ist, dass nur die allein EU-Zuständigkeiten betreffenden Teile von CETA vorläufig angewendet werden. Doch auch die unter die EU-Kompetenz fallende Handelspolitik kann zu nicht rückholbaren negativen Folgen - z.B. durch eine Missachtung des Vorsorgeprinzips - für die Menschen führen. Darum verbietet sich eine vorläufige Anwendung.

Einstweilige Anordnung gegen die vorläufige Anwendung:

Da die Beschwerdeführer auch die vorläufige Anwendung des CETA Abkommens als verfassungswidrig ansehen, wird zusätzlich zur Verfassungsbeschwerde ein Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt. Beschließt das Bundesverfassungsgericht eine solche Anordnung, würde es den deutschen Vertreter im Ministerrat auffordern, bei der Abstimmung über die vorläufige Anwendung von CETA mit "Nein" zu stimmen. Eine explizite Nein-Stimme ist insofern von Bedeutung, als dass eine Stimmenthaltung einem "einstimmigen" Beschluss der vorläufigen Anwendung nicht entgegensteht, Enthaltung also wie ein "Ja" wirkt.

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Quelle:
Campact e.V. - Kampagnen für eine lebendige Demokratie
Artilleriestr. 6, 27283 Verden/Aller
Telefon: 04231/957 440, Fax: 04231/957 499
Internet: http://www.campact.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. September 2016

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