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MENSCHENRECHTE/044: Mexiko - Das Tribunal der Völker hört Angehörige Verschwundener an (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 31. Mai 2013

Mexiko: Das Tribunal der Völker hört Angehörige Verschwundener an

von Emilio Godoy


Bild: © Emilio Godoy/IPS

Angehörige Verschwundener und Opfer extralegaler Hinrichtungen verlangen Gerechtigkeit
Bild: © Emilio Godoy/IPS

Mexiko-Stadt, 31. Mai (IPS) - In Mexiko-Stadt haben Angehörige von Verschwundenen und Opfern extralegaler Hinrichtungen vor einem richterlichen Ausschuss des Tribunals der Völker (TPP) ausgesagt. Die Geschworenen werden im nächsten Jahr ihr Urteil zu diesen und anderen für Mexiko relevanten Themenfeldern im Bereich der Menschenrechte fällen.

Enrique Rangel hat seinen Bruder zuletzt am Abend des 10. November 2009 gesprochen. Wie Héctor Rangel in einem Telefonat berichtete, hatte man ihn zu einem Polizeirevier gebracht, weil er eine Rechnung nicht bezahlen konnte. Seither verliert sich von ihm jede Spur. Enrique Rangel ist einer von 13 Opferangehörigen, die am 28. und 29. Mai auf Anhörungen zum Thema Verschwindenlassen und extralegale Hinrichtungen in Mexiko ausgesagt haben.

Enrique Rangel lebt in der zentralmexikanischen Stadt Querétaro. Nach dem Gespräch mit seinem Bruder reiste er nach Monclova im nordmexikanischen Bundesstaat Coahuila, um beim zuständigen Revier Auskunft über den Verbleib von Hector einzuholen. Dor wurde ihm gesagt, der Händler sei von Kollegen mitgenommen worden. "Wir kennen die Namen der verantwortlichen Polizisten und haben sie an die Behörden weitergegeben. Doch bis heute wurden sie nicht festgenommen", berichtete Enrique Rangel den Richtern.

Seit 2007 ist die Zahl solcher Menschenrechtsverbrechen in Mexiko rapide in die Höhe geschnellt. Die Entwicklung steht in einem engen Zusammenhang mit der Intensivierung und Militarisierung des Anti-Drogen-Kampfes. Traditionell geht in dem lateinamerikanischen Land das Verschwindenlassen von Menschen auf das Konto der Sicherheitskräfte und paramilitärischer Gruppen. Die Behörden jedoch verweisen inzwischen auf Rauschgiftbanden.


Hohe Opferbilanz auch unter neuen Regierung

Der ehemalige Staatspräsident Felipe Calderón (2006-2012) hatte 2006, kurz nach seinem Amtsantritt, die Armee in den Kampf gegen das organisierte Verbrechen eingebunden. Die Entscheidung führte nach Angaben von Menschenrechtsgruppen zur Ermordung von mehr als 100.000 Menschen. Weitere 26.121 'verschwanden' und 250.000 wurden vertrieben. Inzwischen ist Enrique Peña Nieto an der Macht, doch die Opferbilanz ist nach wie vor hoch. Auf der Grundlage von Medienberichten wird die Zahl der zwischen Dezember 2012 und Ende April 2013 gewaltsam ums Leben gekommenen Mexikaner mit 8.000 angegeben.

Domingo Pérez, ein indigener Chol, hat ebenfalls Ende Mai vor dem TPP-Richterausschuss ausgesagt. Bis heute sucht er nach seiner Schwester Minerva Pérez, die zuletzt am 20. Juni 1996 in Tila im Norden des südlichen Bundesstaates Chiapas gesehen worden war. Dem Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) liegen Aussagen vor, wonach damals 19-Jährige drei Tage lang von Paramilitärs der Gruppe 'Frieden und Gerechtigkeit' festgehalten wurde. Sie soll während ihrer Gefangenschaft geschlagen und vergewaltigt worden sein. Später verlor sich ihre Spur im Regenwald von Chiapas.

Die Region war damals Epizentrum der staatlichen Repression, mit der die damalige Regierung auf den Aufstand der zapatistischen Rebellenbewegung EZLN vom 1. Januar 1994 reagierte. Nach einigen unbedeutenden Scharmützeln mit den Streitkräften und einer erfolglosen Verhandlungsrunde mit der Regierung zog sich die EZLN Mitte des vergangenen Jahrzehnts in den Regenwald von Chiapas zurück.

Frayba hat für die Jahre 1995 bis 2000 37 Fälle von Verschwindenlassen und 85 extralegale Hinrichtungen dokumentiert, für die mehrheitlich mindestens drei paramilitärische Gruppen verantwortlich gemacht werden, denen wiederum gute Verbindungen zur Armee und der Bundesstaatenregierung nachgesagt wurden.

"Alle diese Fälle haben Substanz. Doch aufgrund der Behördenstrategie, die Verbrechen dem organisierten Verbrechen anzuhängen, wird es nicht leicht sein, das Zusammenspiel zwischen paramilitärischen Gruppen und dem Staat zu beweisen", meinte die Aktivistin Clemencia Correa, eine der neun TPP-Richter, die an der Anhörung Ende Mai teilgenommen hat.


"Wir wollen, das die Schuldigen vor Gericht kommen"

"Wir wollen wissen, wo unsere Angehörigen sind und ob sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Und dann wollen wir, dass die Schuldigen vor Gericht kommen", sagte Nadin Reyes, Tochter von Edmundo Reyes, der zusammen mit Gabriel Cruz an 25. Mai 2007 'verschwunden' ist. Beide Männer waren Mitglieder der Guerillagruppe Revolutionäre Volksarmee.

Das, was die Familie weiß, verdankt sie der staatlichen aber unabhängigen Nationalen Menschenrechtskommission, der zufolge beide Rebellen bei einer Razzia von Militärs und Einheiten der National- und Bundesstaatenpolizei in einem Hotel in der südmexikanischen Stadt Oaxaca festgenommen wurden.

Das PPT wurde 1979 auf Initiative des italienischen Senators Lelio Basso in Bologna gegründet. Die Institution versteht sich als Fortsetzung der Russell-Tribunale, die in den sechziger Jahren Menschenrechtsverletzungen während des Vietnam-Kriegs und später Verbrechen der von den USA unterstützten Militärregime in Lateinamerika untersuchten.

Benannt wurde das Tribunal nach seinem Gründer, dem britischen Philosophen und Friedensaktivisten Bertrand Russell. Die Urteile des PPT basieren auf dem Völkerrecht und berücksichtigen die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Sie sind allerdings nicht bindend. Sitzungen wurden bereits in etwa 40 Staaten abgehalten.

Seit 2011 gibt es ein PPT-Mexiko-Büro. Die Lelio-und-Lisli-Basso-Stiftung, die die Arbeit des PPT koordiniert, hatte der Aufnahme der Untersuchungen des Tribunals in Mexiko zugestimmt. 2009 hatten mexikanische Menschenrechtsgruppen eine entsprechende Anfrage gestellt. Das Tribunal hält nun eine Reihe von Anhörungen zu sieben großen Themenfeldern im Bereich der Menschenrechte ab, die für Mexiko relevant sind.

An 27. Mai hat die mexikanische Regierung die Gründung einer Sondereinheit zur Suche Verschwundener angekündigt. Angehörige der Opfer kritisieren jedoch, dass die insgesamt zwölf Fahnder für die Untersuchung so vieler Fälle von Menschenrechtsverbrechen bei weitem nicht ausreichen. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.tppmexico.org/
http://www.ipsnews.net/2013/05/mexicos-desaparecidos-unspoken-unseen-unknown/
http://www.ipsnoticias.net/2013/05/tribunal-de-los-pueblos-enjuicia-a-mexico-por-desaparecidos/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 31. Mai 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2013