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DILJA/157: Haftgrund Sozialismus - Gesinnungsjustiz in Fall Klar (SB)


RAF-Gefangener Klar wegen linker Gesinnung weiter in Haft?

Reaktionen offenbaren Angst vor antikapitalistischen Positionen


Es darf an dieser Stelle einmal daran erinnert werden, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit keiner Silbe vorschreibt, daß das Gesellschaftssystem der Republik ein kapitalistisches sein müsse. Sehr wohl schreibt die bundesdeutsche Verfassung jedoch vor, daß die Republik ein demokratischer Rechts- und Sozialstaat zu sein habe. Diese Festlegung gehört wie auch die Achtung der Menschenwürde und der übrigen Grundrechten zu dem unantastbarem Kernbereich des Grundgesetzes, weshalb nicht einmal dann, wenn die Gesetzgebungsorgane die für eine Verfassungsänderung gegenüber dem einfachen Gesetzgebungsverfahren erschwerten Voraussetzungen erfüllt haben sollten, an diesen Grundfesten gerüttelt werden dürfte.

Soviel zu Theorie und Anspruch. Eine Festlegung, ob der inzwischen gesamtdeutsche Staat "sozialistisch", "kapitalistisch" oder wie auch immer organisiert sein müsse, enthält die bundesdeutsche Verfassung mit gutem Grund nicht. Ihre Gründungsväter und -mütter waren der Ansicht, daß dies eine Frage der politischen Gestaltung, sprich der dafür gewählten staatlichen Organe - Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung - zu sein habe und daß es sich mit dem in der Verfassung verankerten Demokratiegebot nicht vertrüge, würde im Grundgesetz beispielsweise ein kapitalistisches Gesellschaftssystem unabänderlich festgeschrieben werden.

Das Bestreben, eine sozialistische Gesellschaftsordnung durchzusetzen und zu erstreiten, kann per se ebensowenig verfassungsfeindlich sein wie jede andere politische Strömung, insofern sie sich an die im Grundgesetz tatsächlich vorgenommenen Festlegungen - also den zur Wahrung der Grundrechte verpflichteten Rechts- und Sozialstaat - binden läßt.

Der frühere RAF-Aktivist Christian Klar hat in seiner Grußbotschaft an die von der jungen Welt am 13. Januar in Berlin veranstaltete Rosa-Luxemburg-Konferenz gerichteten Grußbotschaft mit keiner Silbe diesen Wertekanon verletzt. Weder hat er sich gegen den Rechts-, noch gegen den Sozialstaat ausgesprochen, und ebensowenig hat er die Grundrechte oder die Menschenwürde geschmäht. In seiner Grußbotschaft hat er eine positive Zukunftsvision entworfen, der die allermeisten Menschen in der Bundesrepublik wohl zugestimmt hätten - zumindest, solange sie nicht wissen, daß ein wegen neunfachen Mordes verurteiltes und seit 24 Jahren inhaftiertes ehemaliges RAF-Mitglied sie formuliert hat. Klar hatte unter anderem geschrieben:

Es muß immer wieder betont werden: Schließlich ist die Welt geschichtlich reif dafür, daß die zukünftigen Neugeborenen in ein Leben treten können, das die volle Förderung aller ihrer menschlichen Potentiale bereithalten kann und die Gespenster der Entfremdung von des Menschen gesellschaftlicher Bestimmung vertrieben sind.

Und doch wird Klar, der sich Gedanken macht um eine Zukunft, in der die heute noch Ungeborenen ihre Potentiale voll entfalten, das heißt, von jedweder Entfremdung unbelastet entwickeln können, von nahezu allen führenden Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien sowie ihren Mitstreiter in Justiz- und Medienkreisen als "unverbesserlich" bezeichnet. Klar habe, so glaubt auch der Freiburger Kriminologe Helmut Kury, der im Auftrag des Justizministeriums von Baden-Württemberg ein Gutachten über den RAF-Gefangenen erstellt hat und dessen Begnadigung wie auch dessen Vollzugslockerungen befürwortet, sich selbst einen Bärendienst erwiesen:

Er hat sich sicherlich nicht genützt damit. Jeder normale Bürger, der das hört, wird sagen, das ist ein Unverbesserlicher, der hat sich nicht weiterentwickelt. Man wartet ja auf eine gewisse Reue oder Entschuldigung, wird immer in den Medien gesagt. Das deutet ja eher in die andere Richtung. Also damit nützt er sich sicherlich, was seine Integration in die Gesellschaft betrifft, wenig.

Kury erklärte allerdings auch:

Daraus kann man aber nicht schließen, daß er zu denselben Taten geneigt ist wie damals. Das wäre meines Erachtens ein Schluß, der nicht zwingend ist, sondern er ist offensichtlich noch in dieser Sprache drin.

"In dieser Sprache drin" sein - mit dieser Formulierung bestätigt der Kriminologe all jene, die die naheliegende Schlußfolgerung, am Beispiel Christian Klars solle ein Exempel statuiert werden, um durch seine fortgesetzte Kriminalisierung und Inhaftierung die von ihm zum Ausdruck gebrachte politische Gesinnung justitiabel zu machen, bereits gezogen haben. Wird Klar zum personifizierten Bösen erklärt, dem bedenkenlos, wie der bayrische Innenminister Günther Beckstein (CSU) am Mittwoch auf Spiegel online bereits forderte, auch die nach Verbüßung der Mindesthaftzeit im Jahre 2009 gesetzlich mögliche Haftentlassung verwehrt werden könne, stehen auch alle anderen Menschen, die ähnliche Gedanken hegen oder entwickeln könnten, unter dem Druck staatlicher Repression.

Es ist kaum vorstellbar, daß Politiker vom Schlage Becksteins, der den im Fall Klar verantwortlichen Richtern schon einmal ins Handbuch schrieb, sie müßten sehr sorgfältig prüfen, ob "nicht von Klar weiter Sicherheitsgefahren ausgehen", allen Ernstes glauben, daß der heute 54jährige nach so langer Haftzeit die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden könnte - es sei denn, man unterstellt die mit dem demokratischen Eigenanspruch eines Rechtsstaats allerdings unvereinbare Einschätzung, die bloße Gesinnung müsse sanktioniert werden. Dieser Verdacht liegt auf der Hand, denn an anderer Stelle hat Klar klargestellt, wie er die Wirkungen einschätzt, die vom heutigen Europa nach innen und außen ausgehen:

Aber wie sieht das in Europa aus? Von hier aus rollt weiter dieses imperiale Bündnis, das sich ermächtigt, jedes Land der Erde, das sich seiner Zurichtung für die aktuelle Neuverteilung der Profite widersetzt, aus dem Himmel herab zu züchtigen und seine ganze gesellschaftliche Daseinsform in einen Trümmerhaufen zu verwandeln.

Wären dies so "verquaste" Sätze, wie der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Klaus Pflieger, der einst an der Anklageschrift gegen Klar mitgearbeitet hatte, anmerkte, könnten sie doch bar jeglicher öffentlichen Reaktion oder staatlichen Sanktion zur Diskussion gestellt werden. Doch mitnichten. Der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP) hat am Mittwoch bereits die antikapitalistische Erklärung Klars als Begründung angeführt, um die diesem bevorstehenden, gesetzlich vorgeschriebenen Haftlockerungen auszusetzen. Die Heftigkeit der allgemeinen Reaktionen in Medien und Politik mutet zunächst zwar gleichermaßen unbegründet und überzogen an, läßt sich allerdings plausibel machen unter der Annahme einer massiven Glaubwürdigkeitskrise der gegenwärtigen politischen Ordnung.

Die Unzufriedenheit mit dem vorherrschenden System könnte landauf, landab nämlich weitaus größer sein, als Politiker jeglicher Couleur es wohl zuzugeben bereit wären. So fanden die im Oktober vergangenen Jahres vorgelegten Ergebnisse des Bundesamtes für Statistik eine äußerst geringe mediale Beachtung. Diese besagten nämlich, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Akzeptanz der real existierenden Demokratie im Schwinden begriffen ist und daß immer mehr Menschen den Sozialstaat oder gar den Sozialismus wünschen bzw. befürworten. Die Bundesstatistiker hatten in Zusammenarbeit mit dem Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung und dem Mannheimer Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen die Zustimmungswerte der Bevölkerung zur gegenwärtigen Staatsform feststellen wollen.

Während im Jahr 2000 in den westlichen Bundesländern noch 80 Prozent dem Satz zugestimmt hatten "Die Demokratie in Deutschland ist die beste Staatsform", waren dies fünf Jahre später nur noch 71 Prozent. In den ostdeutschen Ländern schrumpfte diese Systemzustimmung im selben Zeitraum von 49 auf nur noch 38 Prozent. Die schwindende Zustimmung ist nach Ansicht dieser Meinungsforscher vor allem auf den Abbau des Sozialstaates zurückzuführen. Der Formulierung "Der Staat muß dafür sorgen, daß man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat" und damit sinngemäß dem Sozialstaat stimmten 2004 84 Prozent der Befragten zu (in Ostdeutschland sogar 92, im Westen immerhin auch 82 Prozent) - und das, obwohl in Politik und Medien gleichermaßen schon lange zuvor behauptet wurde, "wir" könnten "uns" den Sozialstaat nicht mehr leisten.

Diese Botschaft scheint beim Wahlvolk nicht akzeptiert worden zu sein, was die Repräsentanten der herrschenden Ordnung durchaus aufgeschreckt haben könnte. Das Konfliktpotential - schließlich leitet die parlamentarische Demokratie unter kapitalistischen Vorzeichen ihre Legitimation in Abgrenzung zu sozialistischen Gesellschaftsentwürfen gerade von der Behauptung ab, per Sozialstaat die Menschen besser versorgen zu können als die Systemherausforderer - liegt auf der Hand und mag die Bundesregierung dazu bewogen haben, die Meinungsforscher des Statistischen Bundesamtes eine verdeckte Systemfrage stellen zu lassen.

Eingeflochten wurde sie 2005 in den Satz: "Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde", wozu die Meinungsforscher erklärten, sie hätten jede Assoziation zu dem "realsozialistischem System der früheren DDR" vermeiden wollen. Das Ergebnis wird das politische Berlin nicht erfreut haben. 15 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung, die vielmehr eine Vereinnahmung der DDR durch das westliche Deutschland war, stimmten über die Hälfte der Befragten (52 Prozent) für "Sozialismus" (im westlichen Teil der Republik immerhin auch 46, im Osten sogar 74 Prozent). Mehr "Freiheitsrechte" und "direkte Bürgerbeteiligung", gar eine "sozialistische Demokratie" mit "sozialer Gleichheit und Sicherheit" - so hätte die Mehrheit in diesem Lande gern ihre Staats- und Gesellschaftsform, wenn sie demokratisch entscheiden könnte.

Diese Vorstellungen wären keineswegs unvereinbar mit den Behauptungen, die in der gegenwärtigen Republik erhoben, jedoch immer weniger - wenn überhaupt - eingelöst werden. Das große Problem für all diejenigen, die nicht zuletzt aufgrund ihrer persönlichen gesellschaftlich privilegierten Position daran interessiert sind, den Status Quo um jeden Preis aufrechtzuerhalten, besteht angesichts dieser oder ähnlicher Untersuchungsergebnisse in der großen Attraktivität, die alternative Gesellschaftsentwürfe wie zum Beispiel sozialistische auf immer mehr Menschen mit geradezu zwingender Logik haben werden, weil diese am eigenen Leib erfahren müssen, wie es um ihre Existenzsicherung und Freiheitsrechte im vermeintlichen Sozial- und Rechtsstaat Bundesrepublik tatsächlich bestellt ist.

Die heftige und geradezu irrational anmutende öffentliche Reaktion auf die Worte eines seit 24 Jahren inhaftierten Gefangenen, der mit keiner Silbe die Verfassung verletzt oder zu einer Straftat aufgerufen hat, ist vor diesem Hintergrund so irrational nicht. Wer wie beispielsweise der CSU-Generalsekretär Markus Söder aus ihnen abzuleiten können glaubt, "daß so ein Mann nie auf freien Fuß kommen darf", verrät allerdings eine Menge über die Ernsthaftigkeit seines Anspruchs, einen demokratischen Rechtsstaat zu repräsentieren, in dem immerhin die Freilassung eines Strafgefangenen nach Verbüßung seiner Haftzeit gesetzlich vorgesehen und auch von der Verfassung her allemal geboten ist.


Erstveröffentlichung am 2. März 2007

18. April 2007



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