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DILJA/174: Hartz IV - Per Grundgesetzänderung den Sozialstaat absägen (SB)


Sozialabbau und Entrechtung per Grundgesetzänderung forcieren


Aus wohl taktischen Gründen, sprich um möglichst wenig Aufsehen und Proteste hervorzurufen, fand am vergangenen Montag in Berlin eine Sondersitzung der Arbeits- und Sozialministerkonferenz statt, auf der die beteiligten Minister einhellig eine in kürzester Zeit durchzuführende Grundgesetzänderung beschlossen. Sinn und Zweck dieser, von der Links-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft umgehend als "rechtstaatlich bedenklich" bezeichneten Anpassung der Verfassung an vermeintliche Erfordernisse der Exekutive soll die Beibehaltung des Status Quo in der Betreuung Langzeitarbeitsloser und anderer Hartz-IV-Abhängiger durch die von den Kommunen und einer Bundesbehörde, der Bundesagentur für Arbeit (BA), gemeinsam unterhaltenen Arbeitsgemeinschaften (ARGEn), auch "Jobcenter" genannt, ermöglichen. Diese war vom Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 20. Dezember 2007 in einem Teilaspekt für verfassungswidrig erklärt worden. Da das höchste bundesdeutsche Gericht zugleich die Anwendbarkeit des insofern gerügten Hartz-IV-Gesetzes bis zum 31. Dezember 2010 ungeachtet seiner Verfassungswidrigkeit genehmigt hatte, bestand und besteht für die beteiligten Regierungen auf Bundes- und Länderebene Handlungsbedarf, um der Rüge aus Karlsruhe wenn nicht inhaltlich, so doch zumindest dem Anschein nach Genüge zu tun.

Um die nun beschlossene Verfassungsänderung, für die Bundessozialminister Olaf Scholz (SPD) noch während der Sommerpause einen Gesetzentwurf ausarbeiten will, damit das von ihm als "großer Durchbruch" bezeichnete Vorhaben noch in diesem Jahr sowohl durch den Bundestag als auch durch den Bundesrat gebracht oder auch gepeitscht werden kann, in Würdigung der damit berührten verfassungsrechtlichen Fragen analysieren und bewerten zu können, scheint es unabdingbar zu sein, auf die Hartz-IV-Gesetze insgesamt einzugehen. Wer wie die Hamburger Linksfraktion, die in ihrer Presseerklärung vom 15. Juli 2008 zu der tags zuvor in Berlin von den Sozialministern getroffenen Entscheidung anmerkt, hier solle eine "Katastrophe per Grundgesetzänderung hoffähig gemacht werden", liegt zweifellos richtig, sieht sich jedoch bei einigem Nachfassen mit dem Dilemma konfrontiert, daß Hartz IV nicht nur in diesem Punkt, sondern in seinem Kernbestand als verfassungswidrig bewertet werden könnte, weil dieses Gesetzespaket in verfassungsverletzender Weise gegen die Grundrechte der Betroffenen wie auch das Sozialstaatsprinzip nach Artikel 20 Abs. 1 Grundgesetz verstößt.

Da die Karlsruher Richter jedoch nichts dergleichen moniert haben, kann die Vermutung, daß das Bundesverfassungsgericht entgegen dem demokratischen Prinzip der Gewaltenteilung, das eine gegenseitige Kontrolle staatlicher Gewaltorgane (Judikative, Exekutive und Legislative) zum Schutz bzw. zur Bewahrung demokratischer Werte vorzutäuschen sucht, der Verwaltung zu Zwecken der Staatsraison zuarbeitet, keineswegs ausgeschlossen werden. Wäre der tatsächliche Zweck der Hartz-IV-Gesetze mit dem vorgeblichen, nämlich die Massenarbeitslosigkeit zu reduzieren, identisch, hätte wohl niemand auf die Idee kommen können, die Verfassungsmäßigkeit dieser Neuregelung auch nur in Frage zu stellen. Als vor fast sechs Jahren die am 22. Februar 2002 von der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Leitung des ehemaligen Personalvorstands des VW-Konzerns, Peter Hartz, eingesetzte Reformkommission ihre Arbeitsergebnisse vorgelegt hatte, wurden die daraufhin eingeleiteten fundamentalen Änderungen am bundesdeutschen Sozialstaat mit dem Versprechen begründet, auf diese Weise innerhalb von drei Jahren die Zahl der Arbeitslosen halbieren zu können. Wäre dies der tatsächliche Sinn und Zweck der inzwischen längst berüchtigten Hartz-IV-Reform gewesen, hätte sie spätestens im Jahre 2005 ersatzlos eingestampft werden müssen, da die Arbeitslosenzahl von 4.296.000 im Februar 2002 in den darauffolgenden drei Jahren um eine knappe weitere Million auf 5.216.000 angestiegen war.

Die eigentlichen Absichten, die mit dem tiefgreifendsten Einschnitt in den bundesdeutschen Sozialstaat seit dem Bestehen der Bundesrepublik, nämlich der Aufhebung der durch das Arbeitslosengeld II keineswegs vollständig ersetzten Leistungen der vorherigen Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung, durchgesetzt wurden, müssen demnach andere gewesen sein. Zweifellos kann davon ausgegangen werden, daß das Verwertungsinteresse der bundesdeutschen Unternehmen an bezahlter Arbeit innerhalb der Bundesrepublik stagniert bzw. rückläufig ist, was im Klartext bedeutet, daß immer mehr Menschen, die für die Bestreitung ihres Lebensunterhaltes auf Arbeit angewiesen sind und nicht von den Erträgen ihres Vermögens leben können, aus dem Produktions- und Verwertungsprozeß ausgesondert werden.

Ein tendentiell immer weiter anwachsendes Millionenheer erwerbsloser Menschen - sofern sie nicht als gutqualifiziert, das heißt weiterhin verwertbar einzustufen und deshalb voraussichtlich nur vorübergehend arbeitslos sind - ist die logische Folge wirtschaftlicher und weltwirtschaftlicher Entwicklungen, auf die das persönliche Verhalten, die Arbeitsmoral oder auch -bereitschaft der Betroffenen nicht den geringsten Einfluß hat. Das allgemeine Lohnniveau sowie die Errungenschaften der einstigen Arbeiterbewegung, sprich Arbeitsschutzgesetze wie beispielsweise der Kündigungsschutz, werden von den hiesigen sogenannten Arbeitgebern und mehr noch den multinationalen Konzernen, deren Interessendurchsetzung im internationalen Kontext höchste Aufmerksamkeit bei den politischen Instanzen genießt, in der Bundesrepublik Deutschland als durchaus lästig empfunden.

Bis zu einem gewissen Grad ist deshalb die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft in den sogenannten Billiglohnländern vorzuziehen, was die hiesigen Sachwalter der Interessen des Kapitals vor die schwierige Aufgabe stellt, die ausgemusterten Arbeitslosen in ein Zwangssystem überzuführen, um einerseits ihre Arbeitskraft zu für die Unternehmen weitaus günstigeren Bedingungen auszubeuten und andererseits das in ihnen schlummernde Unruhepotential sozusagen vorsorglich zu befrieden, indem sie auf eine für den Staat optimal kostenminimierende Weise in einen Zustand permanenter Überlebensnöte gedrängt werden. Vom Ergebnis her stellt Hartz IV die Antwort auf diese Anforderungen dar, was auch erklären würde, warum die Abschaffung dieses Gesetzeswerks nur von den Betroffenen und ihren Organisationen gefordert, nicht jedoch von den am politischen Geschäft Beteiligten auch nur ansatzweise diskutiert wird.

Fraglos erfüllen die Hartz-IV-Gesetze ihren Zweck, versetzen sie doch die Behörden über den vorherigen Status Quo hinaus in die Lage, die von diesen Armutsgesetzen abhängigen Menschen mehr und mehr zu drangsalieren und zu entrechten sowie ihnen die finanziellen Mittel zum Lebensunterhalt, die auf der Basis des im Grundgesetz verankerten und sogar zu dessen unabänderlichen Kernbereich zählenden Sozialstaatsprinzips eigentlich niemals zur Disposition hätten gestellt werden dürfen, zu kürzen oder gar vollends zu streichen. Der Sozialstaat, einst zu Zeiten einer Systemkonfrontation ins Stammbuch der Bundesrepublik geschrieben, um dem unter sozialistischen Vorzeichen segelnden Bruderstaat DDR das Wasser abzugraben durch die Behauptung, im kapitalistischen Westen müsse niemals ein Mensch hungern oder frieren, hat zu keinem Zeitpunkt die Schwelle eines politischen Versprechens überschritten, auch wenn zu dessen materieller Abfederung ein soziales Leistungssystem im Rahmen der herkömmlichen Sozialhilfe aufgebaut wurde.

Wer in der alten oder auch neuen Bundesrepublik je auf den Bezug einer solchen Unterstützung angewiesen war, wird noch genau wissen, wie gut sich die Gewährung der für das nackte Überleben erforderlichen finanziellen oder sonstigen Mittel als Druckmittel nicht nur eignet, sondern eben auch eingesetzt wird. Dieser mit Artikel 1 des Grundgesetzes, der behauptet, es sei die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die als unantastbar postulierte Würde des Menschen zu achten und zu schützen, nicht zu vereinbarende Mißstand wurde mit dem Inkrafttreten des Hartz-IV-Gesetzes am 1. Januar 2005 nicht etwa behoben, sondern noch verstärkt und in (Gesetzes-) Beton gegossen. Die Eingriffs-, Verfügungs- und Drangsalierungsmittel, über die die Behörden seitdem in Hinblick auf mittlerweile über sieben Millionen von ihnen existentiell abhängige Menschen verfügen, haben längst einen Grad der De-facto- oder auch Vorab-Kriminalisierung erreicht, für die es im offiziellen Strafrecht und erst recht in der Verfassung nicht die geringste Grundlage gibt.

So stellt sich beispielsweise die in Artikel 12 des Grundgesetzes niedergelegte Berufsfreiheit für die Hartz-IV-Abhängigen als ein sehr schlechter Witz dar. Darin heißt es:

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsplatz frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden.

(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen, allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.

(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.

Die Hartz-IV-Gesetze ermöglichen es den Behörden, den ohnehin niedrig angesetzten Regelsatz von 345 Euro, der Arbeitslosen wie ehemaligen Sozialhilfeempfängern nun zusteht, so sie als Haushaltsvorstand eingestuft werden, bei von ihnen behauptetem Fehlverhalten zu kürzen oder gar zu streichen. "Pflichtverletzungen", worunter die Ablehnung zugewiesener Jobs oder auch nur ein unerlaubter Besuch in einer Nachbarstadt verstanden werden kann, können seit dem 1.1.2005 bei Menschen unter 25 Jahren schon beim zweiten Vorfall mit einem Entzug aller Leistungen, auch für Miete und Heizung, für drei Monate geahndet werden. Bei Älteren können solche Sanktionen ab der dritten "Pflichtverletzung" verhängt werden. Was aber stellt eine auf solch drastische Weise durchgesetzte Arbeitspflicht anderes dar als eine (grundgesetzwidrige) Zwangsarbeit?

Das Sanktionssystem durch Hartz IV wurde zwei Jahre nach seinem Inkraftreten, am 1. Januar 2007, jedoch noch verschärft. Galt bis dahin, daß die einmalige Ablehnung eines Jobs, den die Arbeitsagentur für zumutbar hält, mit einer 30prozentigen Reduzierung der Bezüge bestraft werden konnte und eine weitere Ablehnung eines solchen Jobs zu einem Abzug weiterer 30 Prozent führte, galt von nun an eine "Null- Lösung". Das bedeutet, daß einem Hartz-IV-Abhängigen, der bereits für eine Pflichtverletzung sanktioniert wurde, innerhalb des Zeitraumes eines ganzen Jahres sämtliche Geldleistungen entzogen werden können, sollte er sich noch einmal weigern, ein Jobangebot, wie schlecht auch immer bezahlt, anzunehmen. Der Willkür der Behörden wurden dabei systematisch alle Türen geöffnet. So können als "gravierende Pflichtverletzungen" auch verpaßte Beratungsgespräche, nach Auffassung der Behörden ungenügende Bewerbungsaktivitäten oder auch die bloße Nichterreichbarkeit an mehreren Tagen geahndet werden.

Die Hartz-IV-Abhängigen müssen sich in ihrer Zwangslage nicht nur behördliche Drangsalierungen dieser und ähnlicher Art gefallen lassen; sie sind ebenfalls genötigt, sich Mißachtungen der angeblich in Artikel 13 des Grundgesetzes geschützten Unverletzbarkeit der Wohnung gefallen zu lassen. Sie wurden unter die Generalbezichtigung gestellt, ihre Arbeitslosigkeit und/oder Bedürftigkeit auf welche Weise auch immer selbst verschuldet zu haben und/oder zu Unrecht Hartz-IV-Leistungen zu kassieren, weshalb Hartz-IV-Kontrolleure ihre Wohnungen durchsuchen dürfen.

Tatsächlich kommen fehlerhafte Angaben bei der Armutsverwaltung durch Hartz IV so gehäuft und systematisch vor, daß von zufälligen und nicht gewollten Irrtümern nicht die Rede sein kann. Allerdings betrifft dies nicht das Millionenheer leistungsabhängiger Menschen, sondern die zuständigen Behörden selbst. So erklärte Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum Deutschland in einem am 18. Juni 2008 in der jungen Welt veröffentlichten Interview, daß "nach wie vor fast 70 Prozent der Bescheide falsch berechnet worden sind, also zu Lasten der Betroffenen". Desweiteren kämen die Arbeitsagenturen oder Jobcenter ihrer ihnen im Sozialgesetzbuch (SGB) auferlegten Pflicht, die Betroffenen über ihre Rechte, sich gegen solch fehlerhafte Leistungsbescheide zu wehren, zu informieren, nicht nach. Die Widerspruchsmöglichkeiten der Hartz-IV-Abhängigen sollen sogar noch weiter eingeschränkt werden. So sieht ein Referentenentwurf des Bundeswirtschaftsministeriums vor, daß ab Anfang kommenden Jahres ein gegen unsinnige Maßnahmen der Behörden eingelegter Widerspruch keine aufschiebende Wirkung mehr haben soll mit der Folge, daß ungeachtet des eingelegten Rechtsmittels Sanktionen verhängt werden können.

Daß sich bei den Sozialgerichten Klagen gegen Hartz IV explosionsartig anhäufen, versteht sich vor diesem Hintergrund fast von selbst. Schon im Sommer vergangenen Jahres verzeichneten die Sozialgerichte einen Anstieg der Hartz-IV-Verfahren, die sich wie beispielsweise in Berlin im Vergleich zum Januar 2006 sogar verdoppelt haben. Die große Koalitionsregierung in Berlin reagierte alsbald auf das Bemühen vieler Betroffener, vor Gericht zu ihrem Recht zu kommen, und suchte den Anspruch auf anwaltliche Beratungs- und Prozeßkostenhilfe zu beschneiden. Als offizielle Begründung wurde die "mißbräuchliche Inanspruchnahme des Rechtsweges" angeführt, was nicht anders zu verstehen ist, als daß die Bundesregierung verhindern möchte, daß die Judikative, wie es angesichts der postulierten Gewaltenteilung ein rechtsstaatliches Muß wäre, von den Hartz-IV-Betroffenen tatsächlich eingeschaltet werden kann, um das Vorgehen der Exekutive gerichtlich überprüfen zu lassen.

Eine gegen einen Leistungsbescheid nach Hartz IV oder eine sonstige behördliche Maßnahme erhobene Klage überhaupt als "Mißbrauch" zu bezeichnen, offenbart ein obrigkeitsstaatliches Denken der Behörden, das den Ansprüchen eines demokratischen Rechts- und Sozialstaates diametral entgegensteht und noch dazu jeder sachlichen Grundlage entbehrt. Jens Heise, Richter am Sozialgericht in Berlin und Bundesvorstandsmitglied der Neuen Richtervereinigung e.V., hatte gegenüber der jungen Welt (18.8.2007) seinerzeit erklärt: "Die mißbräuchliche Inanspruchnahme auf diesem Gebiet ist eine vernachlässigenswerte Größe." Zu diesem Zeitpunkt konnten nicht einmal maßgebliche SPD-Arbeitspolitiker wie beispielsweise der Bundestagsabgeordnete und Bundesvorsitzende der sozialdemokratischen "Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen", Ottmar Schreiner, noch verhehlen, was es mit Hartz IV auf sich hat und was nicht. In einem in der jungen Welt ebenfalls am 18. August 2007 veröffentlichten Interview erklärte er, befragt nach seiner Bilanz nach fünf Jahren Hartz-Gesetzen:

Eindeutig negativ. Die Versprechungen, die mit Hartz IV verbunden waren, sind nicht im geringsten eingelöst worden. Das zentrale Versprechen war die Reduzierung der Arbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren um zwei Millionen. Davon konnte und kann überhaupt keine Rede sein. Statt dessen hat sich die materielle Situation vieler Betroffener massiv verschlechtert. Die Armutszonen in Deutschland sind erheblich größer geworden. Die aktive Arbeitsmarktpolitik wurde zudem zurückgedrängt, was im völligen Widerspruch zu einem Grundsatz der Arbeitsmarktpolitik steht, demzufolge Arbeit zu fördern sinnvoller ist, als Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Die eingeführten Ein-Euro-Jobs bieten den meisten Menschen darüber hinaus keine Perspektive und haben den Armutssektor bezüglich des Einkommens eher noch vergrößert. (...)

Es ist unstreitig so, daß die Armutslohnproblematik in erheblichen Teilen ein Resultat der Hartz-VI-Gesetzgebung ist, für die "Rot-grün" die Verantwortung trägt. Der Kern des Übels ist der im Gesetz festgeschriebene Satz, daß einem Arbeitslosen jede Arbeit zu jedem noch so geringen Einkommen zuzumuten ist. Mit dieser obskuren Zumutbarkeitsregelung wurde dem Armutslohnsektor Tür und Tor geöffnet.

Dies betrifft die eine Seite der Medaille, läßt jedoch unberücksichtigt, daß über Hartz IV zugleich auch ein Frontalangriff auf das ohnehin schon ausgehöhlte Sozialstaatsprinzip durchgeführt wird. Bundeswirtschaftsminister Michael Glos brachte dies im Februar 2007 ungeachtet der damit verbundenen Verfassungsproblematik ganz ungeniert zum Ausdruck. Gegenüber dem Spiegel erklärte er, jeder Bezieher von Hartz IV solle künftig eine Gegenleistung erbringen, womit unweigerlich die Option auf seiten der Behörden verknüpft wird, Leistungen nach Hartz IV demjenigen vorzuenthalten, der die geforderte Gegenleistung, worin auch immer sie bestehen möge, nicht erbracht hat. Die bisherigen Erfahrungen Betroffener, die in großer Zahl von Schikanen und Willkür zu berichten wissen, was bereits zu einer Klageflut bei den Sozialgerichten beigetragen hat, lassen argwöhnen, daß der eigentliche Sinn und Zweck dieser Arbeitslosen- und Armutsverwaltung darin besteht, immer mehr Menschen aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten auszuschließen und/oder sie in schlechtbezahlteste und ungesicherte Arbeitsverhältnisse zu zwingen.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2007 schafft hier nicht die geringste Abhilfe, bezieht es sich doch ausschließlich auf organisatorische Regelungen, wie sie im Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die "Grundsicherung für Arbeitsuchende" festgelegt wurden. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte den von Kreisen und Landkreisen erhobenen Kommunalverfassungsbeschwerden teilweise Recht gegeben, indem er entschied, daß die in Paragraph 44b SGB II geregelte Pflicht der Kreise zur Aufgabenübertragung der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende auf die Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) gegen die Verfassung verstößt. Durchaus aufschlußreich ist dabei, daß die Karlsruher Richter, wie der am Tag der Entscheidung veröffentlichten Presseerklärung des Bundesverfassungsgerichts (Nr. 118/2007 vom 20. Dezember 2007) zu entnehmen ist, entschieden haben, daß "die einheitliche Aufgabenwahrnehmung von kommunalen Trägern und der Bundesagentur für Arbeit in den Arbeitsgemeinschaften die Gemeindeverbände in ihrem Anspruch auf eigenverantwortliche Aufgabenerledigung [verletzt] und gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes [verstößt]".

Dieser Entscheidung liegt, wie das Bundesverfassungsgericht selbst ausführt, unter anderem folgende Erwägung zugrunde:

Die Arbeitsgemeinschaften sind als Gemeinschaftseinrichtung von Bundesagentur und kommunalen Trägern nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes nicht vorgesehen. Besondere Gründe, die ausnahmsweise die gemeinschaftliche Aufgabenwahrnehmung in den Arbeitsgemeinschaften rechtfertigen könnten, existieren nicht.

Bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende handelt es sich sowohl nach der Anzahl der von den Regelungen betroffenen Personen als auch nach dem Finanzvolumen um einen der größten Sozialverwaltungsbereiche. Darüber hinaus fehlt es an einem hinreichenden sachlichen Grund, der eine gemeinschaftliche Aufgabenwahrnehmung in den Arbeitsgemeinschaften rechtfertigen könnte. Das Anliegen, die Grundsicherung für Arbeitsuchende "aus einer Hand" zu gewähren, ist zwar ein sinnvolles Regelungsziel. Dieses kann aber sowohl dadurch erreicht werden, dass der Bund für die Ausführung den Weg der bundeseigenen Verwaltung wählt, als auch dadurch, dass der Gesamtvollzug insgesamt den Ländern als eigene Angelegenheit überlassen wird.

Dieses Verwaltungs- und Juristendeutsch gilt es nun auszudeuten in Hinsicht auf etwaige Differenzen zwischen vorgeblichen und tatsächlichen Absichten. Bezeichnenderweise wird in der aktuellen Diskussion um die am Montag von den Sozialministern einhellig beschlossene Grundgesetzänderung im Kern von einer "Mischverwaltung" gesprochen, womit die durch Hartz IV eingeführten Arbeitsgemeinschaften gemeint sind, die zu gleichen Teilen von den Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit gebildet werden. Warum, so muß sich jeder Laie doch fragen, ist eine solche Frage, die vermeintlich lediglich Verwaltungskompetenzen betrifft, so wesentlich, daß sie im ersten Schritt als verfassungswidrig befunden wird, damit dann, im zweiten Schritt, nicht etwa das Gesetz nachgebessert, sondern die Verfassung in dieser Angelegenheit paßförmig gemacht werden soll?

Das Bundesverfassungsgericht hat diesem Prozedere Vorschub geleistet durch die Erklärung, daß es für eine von den Kommunen und einer Bundesbehörde zu gleichen Teilen geleisteten Aufgabe von einem derartigen Umfang keine Grundlage in der Verfassung gibt - ergo muß sie geschaffen werden. Das Karlsruher Gericht hat, wenn auch nur in sehr moderatem Umfang, gleichwohl angedeutet, daß es die Kommunen sind, die durch diese Mischverwaltung in ihrem eigenverantwortlichen Handeln eingeschränkt werden, wovon auf Seiten der Bundesagentur nicht die Rede sein kann, weil sie diejenige ist, die die kommunalen Träger in ihren Einflußmöglichkeiten zurückdrängt. Hier findet auf leisen Sohlen eine Zentralisierung hoheitlicher Exekutivbefugnisse statt, die dem im Grundgesetz verankerten föderalen Prinzip entgegensteht. Die Kommunen, die als unterste Ebene der vertikalen Dreigliederung zwischen Bund, Ländern und Kommunen in der Zeit vor Hartz IV für die Auszahlung der Sozialhilfe sowie die Betreuung der Sozialhilfeempfänger zuständig waren, werden durch die seit 2005 geltenden Neuregelungen in die Rolle administrativer Hilfskräfte gerückt, ausführender Organe von Entscheidungen, auf die sie keinen tatsächlichen Einfluß haben.

Daß sich die Kommunen und die Bundesagentur durch die 50:50-Regelung "einigen" müssen, wirkt dabei noch demokratischer, als es tatsächlich ist. Wie will denn die eine Seite (die Kommunen) im Konfliktfall aus ihrer Sicht erforderliche Entscheidungen durchsetzen können, wenn die andere Seite (die Bundesagentur) über die Finanzen verfügt? Gegenwärtig wird die "Finanzierung der Langzeitarbeitlosen" in Höhe von 35 Milliarden Euro pro Jahr aus Bundesmitteln bestritten, während die Kommunen 10 Milliarden Euro für die Unterbringung und 500 Millionen Euro an Verwaltungskosten aufbringen. Es darf und muß angenommen werden, daß der Bund nicht daran interessiert ist, eine ausreichende finanzielle Versorgung der von Hartz IV Abhängigen zu gewährleisten, sondern daß dieser nach kapitalistischen Verwertungskriterien "unproduktiven" Masse Mensch finanzielle Daumenschrauben zu letztlich ordnungspolitischen Zwecken angelegt werden sollen.

Von daher steht zu erwarten, daß in naher und mittlerer Zukunft das Repressionsregime genannt Hartz IV in doppelter und ineinandergreifener Hinsicht weiter verschärft werden wird, daß also Leistungen gekürzt bzw. die Sanktionsmöglichkeiten, die solche Kürzungen oder gar den völligen Entzug jeglicher Unterstützung rechtfertigen, noch weiter ausgedehnt werden. Dies könnte plausibel machen, warum es der Bundesagentur so sehr daran gelegen ist, die Betreuung der Langzeitarbeitslosen allein zu regeln. Am vergangenen Wochenende, kurz vor dem am 4. Juli gefällten Beschluß, eine Grundgesetzänderung zum Erhalt des Status Quo der für verfassungswidrig erklärten Mischverwaltung durchzuführen, hatte der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur, Frank-Jürgen Weise, die Zusammenarbeit zwischen seiner Behörde und den Kommunen in den Jobcentern noch als "Katastrophe" bezeichnet. Gegenüber Deutschlandradio Kultur erklärte Weise abfällig, die Einrichtung der sogenannten Arbeitsgemeinschaften sei "ein Mitternachtsbierdeckelkompromiß von beruflich unerfahrenen Menschen".

Würde die finanzielle Unterstützung, Betreuung und Vermittlung der Menschen, die als Langzeitarbeitslose oder ehemalige Sozialhilfeempfänger als gesellschaftlich unproduktiv eingestuft werden, ausschließlich in der Hand der Bundesbehörde liegen, könnte sie weitaus besser noch als bisher mit den von ihren Zuwendungen existentiell abhängigen Menschen umspringen, wie sie es möchte. Weise möchte denn auch die Kommunen am liebsten in Bereichen wie der Kinderbetreuung eingesetzt wissen, sie sollten seiner Meinung nach für "sozial-integrative Leistungen" zur Verfügung stehen. Die Mischverwaltung ist einst als ein im Vermittlungsausschuß ausgehandelter Kompromiß ins Gesetz eingeflossen, nachdem die damalige rot-grüne Bundesregierung die Hoheit für die Jobcenter der Bundesagentur übertragen wollte, während die Unionsmehrheit im Bundesrat die Zuständigkeit für die Beratung, Betreuung und Vermittlung der Hartz-IV-Empfänger an die Kommunen delegieren wollte.

In ganz Deutschland sind seitdem 353 sogenannte Arbeitsgemeinschaften für Vermittlung und die Auszahlung des Arbeitslosengeldes II zuständig, was allerdings nicht so reibungslos vonstatten zu gehen scheint, wie der Chef der Bundesagentur es sich wünschen würde. Das Wort "Katastrophe" bedeutet aus seinem Munde jedoch etwas gänzlich anderes als aus Sicht der inzwischen über sieben Millionen Menschen, die dem Hartz-IV-Reglement bereits unterworfen wurden. Für ihn stellt sich jeder Umstand als lästig dar, der das reibungslose Durchregieren von oben nach unten behindert oder auch nur verzögert - und das können Kommunen und kommunale Verbände sein, die gemäß des förderalen Prinzips der Bundesrepublik eigene Vorstellungen über die Bewältigung ihrer Aufgaben haben und diese auch eigenverantwortlich wahrnehmen wollen.

Ein offen zentralistisches System läßt sich, zumal an dieser Stelle nicht einmal die unionsgeführten Bundesländer mit dieser Linie konform gehen, derzeit zumindest nicht in einem Schritt durchsetzen. Die nicht von ungefähr als verfassungswidrig kritisierte Mischverwaltung zwischen Bund und Kommunen soll nun per Grundgesetzänderung in Beton gegossen werden, wobei zu argwöhnen ist, daß mit diesem Schritt per Verfassung administrative Vorausetzungen geschaffen werden sollen für Maßnahmen, die noch weit über das Maß der bisher durchgesetzen Armutsverwaltung hinausgehen. Wenn sich die Kommunen mit der Bundesagentur einigen müssen, letztere jedoch am längeren (finanziellen) Hebel sitzt, um ihre Vorstellungen von Arbeits- und Sozialpolitik durchzusetzen, wie wollen dann die Kommunen ihre verfassungsmäßigen Rechte noch wahrnehmen?

Und so steht zu befürchten, daß mit der im Eiltempo beschlossenen Grundgesetzänderung, die nicht minder eilig umgesetzt werden soll, nicht nur der Sozialstaat bis zur völligen Unkenntlichkeit ausgehöhlt, sondern auch das föderale Prinzip faktisch ad acta gelegt werden soll. Wer könnte da ausschließen, daß früher oder später Maßnahmen ergriffen und durchgesetzt werden können, die beispielsweise in einer Kostenminierung durch eine Konzentration arbeitsfähiger Langzeitarbeitloser in einem Arbeits- und Wohnlager bestehen könnte, in dem die Anspruchsberechtigten praktischerweise ihre Gegenleistungen auch gleich "an eine Hand" erbringen können?

18. Juli 2008



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