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DILJA/204: Verfahrenseröffnung vor dem Haager NATO-Tribunal gegen Karadzic (SB)


Der Präsident der früheren bosnisch-serbischen Republik, Radovan Karadzic, bleibt aus Protest der Verfahrenseröffnung in Den Haag fern

Nach dem urteilslosen Milosevic-Prozeß unternimmt das NATO-Tribunal einen weiteren Versuch, die Umlastung der Kriegsschuld durch die Aburteilung hochrangiger gegnerischer Politiker zu vollenden


Es gibt wohl kaum eine juristische Institution, die den von ihr erhobenen Anspruch, auf der Basis einer wie auch immer zu definierenden Neutralität "Recht" zu sprechen, in krasserer Weise konterkariert als das Internationale Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag. Richter und Ankläger wie auch Initiatoren und Financiers dieses im Namen der Vereinten Nationen auf maßgebliches Betreiben der USA 1992 eingerichteten Sondergerichts könnten als juristische Frontkämpfer der westlichen Interessengemeinschaft verstanden werden. Das Tribunal hat keine andere Basis als die Monopolstellung der Gruppe führender westlicher Staaten, die sich dieses Instrumentarium eigens zu dem Zweck geschaffen haben, ihre eigenen massiven Verletzungen internationaler Vereinbarungen auf die Schultern derjenigen abzuwälzen, die tatsächlich Grund hätten, vor welchem Gericht der Welt auch immer die NATO-Staaten wegen ihrer Beteiligung an den bosnischen Bürgerkriegen in den Jahren 1992 bis 1995 sowie des 1999 gegen die Bundesrepublik Jugoslawien geführten Bombenkrieges anzuklagen.

Ein Forum, vor dem Klagen und Vorwürfe dieser Art in juristisch oder auch nur politisch relevanter Weise vorgetragen, durch Beweisführungen untermauert und entschieden werden könnten, existiert definitiv nicht, weil die in dem gesamten Zersetzungsprozeß Jugoslawiens unterlegene Seite nicht über die Mittel und Wege verfügt, sich zur Durchsetzung ihrer Interessen ein dem letztlich von der NATO ins Leben gerufenen Den Haager Tribunal analoges Gremium zu schaffen. Etwaige Versuche, auf "ziviler" Ebene der unterlegenen Seite zumindest zu ermöglichen, sich international Gehör zu verschaffen, sind von vornherein zum Scheitern bzw. zur Bedeutungslosigkeit verdammt, weil einem solchen Gremium jegliche Macht- und Gewaltmittel fehlen, die erforderlich wären, um Repräsentanten der anzuklagenden Seite überhaupt zum Erscheinen zu zwingen.

Derlei Probleme sind den führenden NATO-Staaten gänzlich unbekannt. Sie sind gegenüber ihren geschlagenen Kriegsgegnern, zu denen neben den bosnischen Serben vor allem die politischen Repräsentanten Serbiens bzw. Jugoslawiens zu zählen sind, in der vergleichslos bevorzugten Lage, über Ankläger und Richter zu verfügen, die alle rechtlichen Mittel sowie den erforderlichen Mitarbeiterstab haben, um nach allen Regeln der juristischen Kunst den Eindruck zu erwecken, vor dem Haager Tribunal werde den Opfern dieser Kriege Gerechtigkeit widerfahren, indem die wahren Verantwortlichen ihrer Schuld überführt und zur Rechenschaft gezogen werden. Bei dem Prozeßauftakt gegen Radovan Karadzic, den früheren Präsidenten der bosnischen Republik Srpska, waren am gestrigen Montag in Den Haag in drei Bussen rund 150 Frauen aus Bosnien-Herzegowina angereist, um ihrer Empörung und Wut auf den Angeklagten, in dem sie einen der Hauptverantwortlichen für Kriegsverbrechen an bosnischen Muslimen und Kroaten zu sehen gelernt haben, Ausdruck zu verleihen.

Der Schrei nach Gerechtigkeit und Vergeltung ist ungeachtet der Unschuldsvermutung, die in einem Strafverfahren, das rechtsstaatlichen Anforderungen Genüge zu tun beansprucht, für jeden Angeklagten zu gelten hätte, aus Sicht der leidtragenden Kriegsopfer und Hinterbliebenen menschlich nachvollziehbar und verständlich. Gerade in diesem Prozeß, in dem es um nichts anderes als den abermaligen Versuch, die Zuweisung der Kriegsschuld an die in ihm unterlegene Seite festzuschreiben und durch eine juristische Aburteilung mit einem Ewigkeitssiegel zu versehen, besteht jedoch die Befürchtung, daß die Frauen aus Bosnien medienwirksam in die Opferrolle gedrängt werden, um das Ansehen Karadzics, so dies überhaupt noch möglich ist, noch weiter zu schmälern, während die tatsächlich Verantwortlichen nicht nur straffrei ausgehen, sondern in ihrer Position der Sieger vollkommen immun sind gegen jeden noch so zaghaften Versuch, die angeblich längst feststehenden Wahrheitsbehauptungen über diese Kriege und insbesondere auch die "Massaker von Srebrenica" einer ergebnisoffenen Überprüfung zu unterziehen.

Radovan Karadzic ist dem ersten Prozeßtag ferngeblieben und hatte dazu auch allen Grund. Seine Bemühungen, die Verfahrenseröffnung zu verschieben, um ihm und dem ihn unterstützenden Anwaltsteam weitere Vorbereitungszeit zu gewähren, wurden von dem Tribunal abgelehnt, obwohl die Gewährung einer weiteren Frist - Karadzic hatte Anfang September um einen Aufschub von mindestens zehn Monaten gebeten, um ihm und seinen Helfern zu ermöglichen, die 938.000 (!) Seiten umfassende Anklageschrift zu lesen - ein Gebot der Fairness gewesen wäre. "Kein Anwalt der Welt hätte sich in dieser Zeit vorbereiten können", hatte Karadzic in einem am vergangenen Donnerstag veröffentlichten Brief an das Den Haager Gericht geschrieben. Seine Ankündigung, aus Protest gegen die "ungleichen und ungerechten" Bedingungen in diesem Prozeß der Eröffnung am Montag fernzubleiben, setzte der 64jährige frühere Politiker in die Tat um, was die ihm schlechtgesonnenen westlichen Medien sofort zu seinen Lasten auslegten und kommentierten. So hieß es beispielsweise in der britischen Times am heutigen Dienstag [1]:

Das gestrige Gerichtsverfahren als Farce zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung von Dr. Karadzics Hinterlist und Schandtat. Er beabsichtigt nicht nur die Justiz zum Scheitern zu bringen, sondern sie offen zu verspotten. Die Verbrechen, derer er angeklagt ist, und die große Zahl tausender Opfer verlangen eine angemessene Abrechnung.

Während das Den Haager Tribunal sich die Freiheit herausnahm, bis kurz vor Prozeßbeginn die Frage offenzulassen, welche Anklagepunkte überhaupt verhandelt werden sollen und dem Angeklagten erst vor einer Woche eine abermals veränderte Fassung der Anklageschrift vorzulegen, soll es von seiten des Angeklagten ein Ausbund an "Hinterlist" und "Schandtat" sein, durch sein Nichterscheinen auf die mangelnde Vorbereitungszeit hinzuweisen, was Karadzic folgendermaßen begründet hatte [1]:

Ich würde und werde niemals meinen Prozess boykottieren, aber wenn ich nicht vorbereitet bin, ist das überhaupt kein Prozess.

Doch nicht nur die westliche Presse, auch die Akteure des Tribunals machten keinen Hehl daraus, was dieser Angeklagte von ihnen zu erwarten hat. So kommentierte der deutsche Jurist und Richter am ICTY, Christoph Flügge, die Haltung Karadzics dahingehend, daß dieser "das Heft des Handelns in die Hand nehmen und aus dem Prozeß ein Schauspiel machen" wolle. Ein Schauspiel? Ein Schauspiel, so unter diesem Begriff die Inszenierung eines juristischen Spektakels mit zuvor festgelegtem Ausgang zu verstehen ist, wird wohl eher die Gegenseite zu inszenieren beabsichtigen. Das Den Haager Tribunal will seine bisherigen, in anderen Prozessen getroffenen Feststellungen als angeblich historisch oder eben juristisch gefestigte Wahrheitsbehauptungen in dieses Verfahren einführen. So soll ohne neue Beweisführung die bisherige Rechtsauslegung des Tribunals fortgesetzt werden, inklusive der sehr wohl umstrittenen Behauptung, in Srebrenica habe ein von Serben verübter Völkermord an sieben- bis achttausend bosnischen Muslimen stattgefunden.

Karadzic wird in diesem Schauprozeß alle übrigen Verfahrensbeteiligten sowie die dahinterstehenden Interessengruppen schon allein deshalb gegen sich haben, weil er als Verteidiger in eigener Sache bereits angekündigt hat, während der Bosnienkriege in der Region Srebrenica stationierte niederländische UN-Soldaten als Zeugen vernehmen zu wollen, weil diese der offiziellen Version widersprechen würden. Wären sich die Herren und Damen des Tribunals ihrer Sache so sicher, gäbe es für sie nicht die geringste Veranlassung, die angekündigte Vorgehensweise des sich selbst verteidigenden Angeklagten zu verhindern oder zu versuchen, ihm das Recht auf Selbstverteidigung durch einen ihm aufgezwungenen Pflichtverteidiger zu nehmen. Eben dies hat die deutsche Staatsanwältin Hildegard Uertz-Retzlaff am ersten Verhandlungstag, der am Montag nach wenigen Minuten auf den heutigen Dienstag vertagt wurde, im Namen der Anklage bereits beantragt mit der Begründung, daß andernfalls das Verfahren erst beginnen würde, "wenn der Angeklagte sagt, dass es beginnen kann" - eine fadenscheinige Argumentation, da Karadzic Anfang September eine konkrete Fristverlängerung von mindestens zehn Monaten erbeten hat.

[1] UN-Kriegsverbrechertribunal. Karadzic verspottet Justiz, von Thorsten Knuf, Frankfurter Rundschau, FR-online.de, 27.10.2009

27. Oktober 2009



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