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DILJA/227: Strafe vor der Straftat - "Sicherungsverwahrung" kostet den Rechtsstaat (SB)


Lebenslänglich durch die Hintertür

Mit der sogenannten "Sicherungsverwahrung" wird der Rechtsstaat aufgekündigt


Jeder Mensch hat das Recht auf Hoffnung. Es muß überall noch die Möglichkeit geben, daß man da rauskommt. Ein unbestimmter Freiheitsentzug, wie wir ihn seit 1998 haben, nimmt dieses Recht - oder reduziert es auf ein Minimum. [1]

Diese Worte stammen von dem bekannten Kriminologen und früheren Justizministers Niedersachsens, Christian Pfeiffer. Der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen übte schon vor drei Jahren, als das Bundeskabinett erste Beratungen über eine Ausweitung der sogenannten Sicherungsverwahrung auf jugendliche Straftäter aufgenommen hatte, scharfe Kritik:

Da hat die Politik auf spektakuläre Einzelfälle sofort mit neuen Gesetzen reagiert, ohne gründlich zu untersuchen, ob man sie überhaupt braucht und ob sie sinnvoll sind. Das ist keine rationale Kriminalpolitik, sondern Populismus. [2]

Diese Auffassung wurde seinerzeit auch von namhaften Juristenvereinigungen wie beispielsweise dem Deutschen Richterbund geteilt. Mit den Worten "Wegschließen - und zwar für immer" hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) auf diesen Populismus abgestellt und die begründeten Ängste vor Gewalttaten für sich zu kanalisieren gesucht mit dem vagen Versprechen, durch ein extrem rigides und die bisherigen Verfassungs- und Freiheitsgarantien aufhebendes Strafrechtssystem für "Sicherheit" zu sorgen. Dabei zeigte die Kriminalitätsstatistik einen rückläufigen Trend auf. Im Jahr 2005 lag die Gesamtzahl der Gesetzesverstöße unter der des Jahres 1992. Straftaten im mittleren Bereich - Diebstähle, Betrügereien, Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie Sachbeschädigungen - hatten in diesem Zeitraum zugenommen, schwere Straftaten entgegen der allgemeinen Annahme jedoch nicht. Die Zahlen für Mord und Totschlag waren um 25, die für Tötungsdelikte im Zusammenhang mit Sexualverbrechen sogar um 75 Prozent gesunken [2].

Entgegen der Einsprüche namhafter Kriminologen und Juristen wurde die aus dem Jahre 1933 stammende "Sicherungsverwahrung" auf nach dem Jugendstrafrecht verurteilte Täter ausgedehnt. Im Eilverfahren war dieses Gesetz auf Drängen Bayerns durchgesetzt worden, angeblich, um die ansonsten drohende Freilassung eines einzelnen Straftäters zu verhindern. Dabei hatte es sich um den Fall eines inzwischen 32jährigen gehandelt, der 1997 als 19jähriger einen Sexualmord an einer Joggerin begangen hatte und dafür nach Jugendstrafrecht zur Höchststrafe von zehn Jahren verurteilt worden war. Am 17. Juli 2008 wäre sein Entlassungstermin gewesen, doch das nur wenige Tage zuvor in Kraft getretene und seinen Fall für eine Ausweitung der Sicherungsverwahrung auf zur Tatzeit 14- bis 21jährige zum Anlaß nehmende neue Gesetz verhinderte dies. Auf dieser Grundlage entschied das Landgericht Regensburg, daß Daniel I. ungeachtet seiner verbüßten Strafhaft inhaftiert bleiben müsse, wogegen der Betroffene Revision einlegte. Wie vom Gesetz verlangt, hatten in seinem Fall, basierend auf zwei Sachverständigengutachten, die zuständigen Richter mit hoher Wahrscheinlichkeit seine zukünftige Gefährlichkeit angenommen. Einmal im Jahr muß nun überprüft werden, ob diese angenommene Gefährlichkeit noch immer vorliegt. Zur Fragwürdigkeit dieser gutachterlichen Tätigkeit hatte B. Hans im "Spiegel" folgendes angemerkt [3]:

Ein erster Gutachter kam im Januar 2006, als I. noch in Haft saß, zu dem Schluss, dass von ihm nach seiner Entlassung noch eine erhebliche Gefährlichkeit ausgeht. Erst auf Drängen des Anstaltstherapeuten hatte I. sich dem Gutachter anvertraut. Er war allerdings nicht darüber aufgeklärt worden, dass seine Aussagen in seiner Akte vermerkt und gegen ihn verwendet werden könnten. I. sprach über seine Machtphantasien gegenüber Frauen, seinen Wunsch, sie zu dominieren. Der Gutachter stellte ein abnormes Sexualverhalten und sadistische Züge bei ihm fest. Auch Mordphantasien soll I. geäußert haben. Der Gutachter stufte ihn als besonders kritischen Fall ein, empfahl die Sicherungsverwahrung.

Ein zweiter Sachverständiger attestierte I. nur ein "mittelgroßes Rückfallrisiko", erneut eine Sexualstraftat zu begehen. Das Risiko können zudem durch therapeutische Maßnahmen weiter verringert werden. Demnach war I. kein hoffnungsloser Fall.

Wie viel Verantwortung kann man den Gutachtern beimessen? Wie aussagekräftig kann eine psychologische Prognose - vor allem bei Heranwachsenden - sein? Das Schicksal des Straftäters liegt, wie so oft in juristischen Verfahren, in den Händen des Sachverständigen. Nur sind die Auswirkungen im Falle der nachträglichen Sicherungsverwahrung gravierend. Es geht schließlich um nicht weniger als die Freiheit eines Menschen. Die Einschätzung der Psychologen entscheidet darüber, ob der Täter für immer weggesperrt wird - oder aber es Hoffnung auf Resozialisierung gibt. Eine Verantwortung, die dazu führt, dass sich viele Gutachter für einen Verbleib im Gefängnis aussprechen. "Sie fürchten, zu früh für eine Entlassung zu plädieren. Es gab schon Verfahren wegen Fehlprognosen", sagt Bernd-Rüdeger Sonnen, Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. "Es verbleibt immer ein Restrisiko, im Leben besteht eben immer Lebensgefahr."

Niemand kann einen solchen Rückfall bei vorbestraften Sexualstraftätern ausschließen. Doch dies trifft nicht nur auf diese Personengruppe zu. Würden dieselben Gutachter, gekoppelt mit der Androhung, im Falle einer Fehldiagnose moralisch und auch juristisch zur Verantwortung gezogen zu werden, damit beauftragt werden, über hohe Würdenträger in Gesellschaft und Kirche, so diese in ihrer Position mit Kindern in engen Kontakt kommen, Gutachten zu erstellen darüber, ob für alle Zukunft ausgeschlossen werden kann, daß sie an den ihnen anvertrauten jungen Menschen ein Verbrechen begehen könnten, würden die Sachverständigen damit in Schwierigkeiten gebracht werden. In bezug auf jugendliche Straftäter kommt durch die nun bestehende gesetzliche Möglichkeit, entgegen der vorherigen Regelungen des Jugendstrafgesetzes auch gegen sie Sicherungsverwahrung zu verhängen, hinzu, daß damit jede Chance, durch eine von den entsprechenden Berufsgruppen als positiv bewertete Therapieteilnahme nach dem Ende der Jugendstrafe tatsächlich freigelassen zu werden, von vornherein vertan wird.

Verweigert sich ein verurteilter Straftäter während der Haftzeit den ihm gemachten Therapieangeboten, wird ihm das als Unwille, sich zu bessern und damit die Voraussetzungen für ein späteres Leben in Freiheit zu schaffen, ausgelegt werden. Nimmt er ein solches Therapieangebot wahr, läuft er Gefahr, durch seine eigenen Äußerungen den Therapeuten und Gutachtern die Argumente für seine spätere Sicherungsverwahrung zu liefern. Wer Gewalt- oder gar Mordphantasien oder -absichten formuliert, was nach therapeutischer Auffassung unverzichtbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie wäre, um den betroffenen jungen Menschen darin zu unterstützen, die eigene Gewalttätigkeit unter Kontrolle zu bringen mit dem Ziel, sie nicht mehr gegen andere und insbesondere nicht gegen Schwächere "ausbrechen" zu lassen, legt den Grundstein für seine eigene, unter Umständen sogar lebenslängliche Inhaftierung auch dann, wenn eine deutlich geringere, zeitlich begrenzte Strafe gegen ihn verhängt wurde.

Hinzu kommt, daß es um die Verhältnisse in den Gefängnissen denkbar schlecht bestellt ist und insbesondere auch im Jugendstrafvollzog Bedingungen vorherrschen, die dem Resozialisierungsauftrag Hohn sprechen. Das von den Nazis geschaffene Instrument der Sicherungsverwahrung, bei dem es sich nach Auffassung des deutschen Gesetzgebers nicht um eine (weitere) Strafe, sondern um eine "Maßregel der Besserung und Sicherung" (siehe die Paragraphen 61 bis 72 des Strafgesetzbuches) handelt, stellt den Resozialisierungsgedanken nicht nur im Jugendstrafrecht, sondern generell auf den Kopf. In bezug auf die gesellschaftspolitische Frage, ob die gesellschaftlichen Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse brutalisierte Menschen hervorbringen, die das eherne Prinzip gesellschaftlicher Unterwerfung unter Stärkere und Gewaltanwendung gegen Schwächere durch ihre Straftaten lediglich nachahmen, oder ob "das Böse" per se im Menschen existiert, weshalb die staatlichen Institutionen alle potentiellen Opfer vor Monstern in Menschengestalt schützen müßten, war in den von der Studentenbewegung beeinflußten 1970er Jahren noch eindeutig beantwortet worden.

Der beste Schutz der Gesellschaft bestünde in der Resozialisierung straffällig gewordener Menschen, so das damalige Credo, wobei eine gesellschaftliche Mitverantwortung für die von ihnen begangenen Straftaten nicht völlig ausgeschlossen wurde, weil diese als die Ergebnisse ungenügend verlaufender Sozialisationsprozesse bewertet wurden, für die wiederum - Stichwort Armut oder auch mangelnde Zuwendung im familiären und schulischen Bereich - der spätere Delinquent keineswegs (allein) verantwortlich gemacht werden könne. Die aus der Nazizeit stammende Sicherungsverwahrung hätte insofern längst abgeschafft werden müssen, da sie den staatlichen Organen eine Hintertür eröffnet, sich ihrer Verantwortung, in der Strafhaft den seiner Freiheit beraubten Menschen so umfassend zu fördern und zu unterstützen, daß ihm anschließend ein normales gesellschaftliches Leben möglich wird, zu entziehen.

Die offensichtlichen Mängel in allgemeiner Betreuung und spezifischer Förderung bzw. Therapierung wurden in den zurückliegenden Jahren mit einer Ausweitung und Verschärfung der Sicherungsverwahrung "beantwortet", so als ob auf diesem Wege eine stetig anwachsende Gefängnisbevölkerung aufgebaut werden solle, bestehend aus Menschen, die zu einem immer größer werdenden Prozentsatz nicht wegen der ihnen nachgewiesenen Straftat inhaftiert werden, sondern wegen der an vorherige Straftaten gekoppelten Gefährlichkeitsprognose. Der Sozialwissenschaftler, Buchautor und Journalist Klaus Jünschke, seit über zehn Jahren als Gefängnisbeirat der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf mit der Knastrealität eng vertraut und befaßt, hatte anläßlich der 2007 auf den Weg gebrachten Ausdehnung der Sicherungsverwahrung auf junge Menschen auf die Frage, ob mit diesem Gesetz der Resozialisierungsgedanke nicht endgültig vom Tisch wäre, folgendes zu bedenken gegeben [4]:

Die findet längst nicht mehr statt. Das Komitee des Europarates zur Verhinderung der Folter und unmenschlicher und entwürdigender Behandlung hat vor zwei Jahren die Jugendanstalten Hameln und Weimar-Ichtershausen besucht und durch Gespräche festgestellt, daß Gewalt einschließlich sexueller Nötigung unter den Gefangenen kein Einzelfall ist. Nach der Tötung eines jungen Gefangenen in der JVA Siegburg war die Öffentlichkeit ein paar Wochen erschrocken über die Zustände in den Jugendgefängnissen, die von Überbelegung und Personalmangel geprägt sind. Diese elenden Verhältnisse endlich abzuschaffen, würde tatsächlich etwas für den im Regierungsentwurf behaupteten Schutz potentieller Opfer bringen. Ich habe in den letzten Jahren einige Jugendliche im Gefängnis kennengelernt, die andere schwer verletzt hatten. Sie sind sich in der Regel selbst bewußt, daß sie in bestimmten Situationen für andere wieder gefährlich werden können. Wie wenig Hilfe sie in den Jugendgefängnissen finden, belegen die Rückfallquoten. Und dabei vermitteln die bloßen Zahlen nicht, wie sehr einzelne durch die Haft zusätzlich brutalisiert werden.

Befürworter des Wegsperrens für immer werden diese Argumente sicherlich in ihrer Weise interpretieren und damit begründen wollen, daß die Gesellschaft nun einmal vor brutalen Menschen geschützt werden müsse auch dann, wenn diese durch ihre Haftzeit zusätzlich brutalisiert worden sein sollten. Nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg am 17. Dezember vergangenen Jahres gegen die Bundesrepublik Deutschland ein Urteil verhängt, in dem ihr ein Verstoß gegen die Menschenrechtscharta zum Vorwurf gemacht wurde. Im Mai 2010 wurde dieses Urteil rechtskräftig, nachdem die Strasbourger Richter auch einen Einspruch der Bundesregierung abgewiesen hatten. Der Menschenrechtshof hatte die bundesdeutsche Rechtspraxis, eine nachträgliche Sicherungsverwahrung auch über die zunächst bestehende Höchstgrenze von 10 Jahren hinaus zu verlängern, für menschenrechtswidrig erklärt.

Dieser Entscheidung war der Fall eines Klägers vorausgegangen, der 1986 wegen versuchten Raubmordes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren sowie anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden war. Nach damaliger Rechtslage war die Zeit der Sicherungsverwahrung auf maximal zehn Jahre begrenzt. Doch auch nach Ablauf seiner Strafhaft sowie einer zehnjährigen Verwahrung kam der Betroffene nicht frei. Da inzwischen die Gesetze verschärft worden waren, wurde - nachträglich - auch gegen ihn eine nun zeitlich unbefristete Sicherungsverwahrung verhängt. Die Strasbourger Richter bewerteten dies als rückwirkend verhängte zweite Strafe. Sie ließen nicht gelten, daß die Inhaftierung, so sie als Maßregel bezeichnet wäre, etwas anderes wäre als eine Haftstrafe nach regulärem Strafurteil. Durch die Gesetzesverschärfungen hat sich die Zahl der so "verwahrten" Menschen in der Bundesrepublik bereits drastisch erhöht. Sie stieg von 257 Fällen im Jahre 2001 auf rund 500 im vergangenen Jahr.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat nun zu einer neuen gesetzlichen Regelung geführt, die - so zumindest der Anschein, den das Bundesjustizministerium zu erwecken sucht - den Vorgaben aus Strasbourg Rechnung trägt. Am 31. Juli 2010 trat das neue Gesetz mit dem denkwürdigen Titel "Gesetz zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung bei Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung" in Kraft. Aus diesem Anlaß teilte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in einer am 30. Juli veröffentlichten Pressemitteilung unter anderem mit [5]:

An dem Urteil des EGMR kann nichts mehr geändert werden - die deutschen Gerichte müssen es beachten und umsetzen. Ich habe sehr zügig eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht, die durch eine Vorlagepflicht an den Bundesgerichtshof für eine einheitliche Rechtsprechung und damit auch Rechtspraxis sorgt. Nach dem Urteil des EGMR müssen die zuständigen Gerichte in jedem Einzelfall prüfen, ob ein Straftäter aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden muss oder nicht. Bislang gibt es dazu einige sehr unterschiedliche Entscheidungen, die auf unterschiedlichen Rechtsauffassungen der Gerichte beruhen - es kommt zu Entlassungen von Straftätern, es werden aber auch Anträge auf Entlassung abgelehnt. Gerade bei solchen Fragen ist eine einheitliche Linie in der Rechtsprechung besonders wichtig. Deshalb habe ich durchgesetzt, dass Fälle, in denen ein Gericht von der Rechtsauffassung eines anderen Gerichts abweichen will, dem Bundesgerichtshof vorgelegt werden müssen, der dann über die Frage der Sicherungsverwahrung verbindlich entscheidet.

Die deutschen Richter und Gerichte müssen nicht nur Gesetze und Verfassung sowie etwaige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes beachten, sie sind vor allen Dingen auch "unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen", wie es in Art. 97 (1) des Grundgesetzes heißt. Tatsächlich ist es in dem seit dem Strasbourger Urteil vergangenen halben Jahr zu unterschiedlichen Entscheidungen hoher und höchster deutscher Gerichte gekommen, was als ein Fingerzeig darauf bewertet werden könnte, wie problematisch und mit der Verfassung ungeachtet anderer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar das Konstrukt "Sicherungsverwahrung" tatsächlich ist. Wie auch immer man es dreht und wendet und wie groß und begründet die Ängste vor gewaltsamen Straftaten gegen wehrlose Menschen sein mögen, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß auf diesem Wege Strafen verhängt werden, noch bevor eine Straftat begangen wurde.

Ein Richter, der "im Gegensatz zum Beamten in seiner rechtsprechenden Tätigkeit keinen Weisungen oder auch nur Empfehlungen von Organen der vollziehenden oder der gesetzgebenden Gewalt unterworfen" [6] ist, könnte insofern, unterstützt durch das jüngste Urteil aus Strasbourg, schnell zu einem Urteil "im Zweifel für den Angeklagten" kommen und in den Fällen, in denen eine Sicherungsverwahrung nachträglich verhängt wurde, eine Freilassung beschließen. Durch das am vergangenen Samstag in Kraft getretene Gesetz läuft die richterliche Unabhängigkeit Gefahr, Einbußen zu erleiden, weil der Richterschaft indirekt aufgezwungen wird, sich in Fällen, in denen es um Überprüfungen der Sicherungsverwahrung im Einzelfall geht, der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) anzuschließen, weil diesem die Entscheidungsbefugnis zugesprochen wird, sobald ein Oberlandesgericht abweichend urteilt. Da der BGH im März bereits entschieden hat, daß das Wegsperren für immer von Menschen, die nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wurden, erlaubt sei, wenn von ihnen eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgehe, ist von diesem Gericht nicht zu erwarten, daß es das Prinzip eines Rechtsstaates, demzufolge niemand für eine Tat bestraft werden kann, die er nicht begangen hat, gegen vermeintliche Erfordernisse, die von seiten der Exekutive und Legislative geltend gemacht und mit der Staatsräson begründet werden, verteidigt.

Anmerkungen

[1] Wegsperren und vergessen. Die juristische Fachwelt hat ebenso wie viele Politiker starke Bedenken gegen Sicherungsverwahrung auch für Jugendliche, von Ulla Jelpke, junge Welt, 20.07.2010, S. 4

[2] Strafe ohne Maß. Die Bundesregierung will das Gesetz zur Sicherungsverwahrung von Straftätern erneut ausweiten, von Jan Pehrke, Onlinemagazin Telepolis, 18.07.2007

[3] Sicherungsverwahrung Jugendlicher. Weggesperrt - für immer, von Barbara Hans, Spiegel, 09.03.2010,
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,682551,00.html

[4] "Einzelne werden durch die Haft zusätzlich brutalisiert", Gesetzentwurf der Bundesregierung zur geplanten Sicherheitsverwahrung junger Menschen ignoriert alle Erfahrungen, Interview mit Klaus Jünschke, von Markus Bernhardt, junge Welt, 21.07.2010, S. 8

[5] Sicherungsverwahrung: Justizministerin sorgt für einheitliche Rechtsprechung, Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz, 29. Juli 2010, siehe auch
Schattenblick -> INFOPOOL -> RECHT -> FAKTEN: STRAFRECHT/399

[6] Stichwort: Unabhängigkeit des Richters, Rechtswörterbuch, 15., neubearbeitete Auflage, C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1999

2. August 2010