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DILJA/245: Den Pflegenotstand öffentlich machen? Bayerischer Verwaltungsgerichtshof sagt Nein (SB)


Altenpflege ein rentables Geschäft - Prüfberichte der Heimaufsicht bleiben unter Verschluß


Die Qualifizierung der Verfügungsgewalt des Menschen über den Menschen, sprich der Prozeß seiner Vergesellschaftung, hat es mit sich gebracht, daß kranke, gebrechliche, geschwächte oder aus irgendeinem sonstigen Grunde nicht mehr leistungsfähige und damit verwertbare Menschen ausgesondert wurden aus ihren gewohnten Lebenszusammenhängen. Die Zeiten, in denen hochbetagte, ja sogar schwerkranke Menschen mit großer Selbstverständlichkeit in ihren Familien und Dorfgemeinschaften verblieben, wo sie, den jeweiligen Möglichkeiten und Gepflogenheiten entsprechend, versorgt und betreut wurden, sind lange vorbei und gelten, aus der Sicht der heutigen Menschen, als geradezu grauenhafte Vorzeit, an die man sich, wenn überhaupt, nur mit Schaudern erinnert. Das Vertrauen auf den heutigen, institutionalisierten Medizin- und Pflegebetrieb ist ebenso fundamental wie die grundlegende Überzeugung, in der Bundesrepublik Deutschland in einem Sozialstaat zu leben, in dem die Minimalversorgung und Überlebenssicherung jedes Menschen durch die Verfassung garantiert sei.

Begriffe wie Pflegenotstand und Pflegemängel sind zwar weit verbreitet, kratzen jedoch bestenfalls an der Oberfläche des Grundverhältnisses zwischen institutionalisierter Gewalt und dem zumeist wehr- und hilflosen Menschen, der mehr denn je darauf angewiesen wäre, die versprochene Betreuung und Unterstützung gewährt zu bekommen. Die Privatisierung des Pflegebetriebs hat dieses Grundverhältnis noch weiter zugespitzt zu Lasten des schutzbedürftigen Menschen, indem der kapitalistischen Verwertungs- und Profitlogik ein Bereich überantwortet wurde, in dem es, würde das ihm zugrundeliegende Versorgungsversprechen ernst genommen werden, bar jeder Kosten-Nutzen-Kalkulation darum gehen müßte, den betroffenen Menschen ohne Wenn und Aber mit größtmöglicher Mühe und Zuwendung zu betreuen.

Die Realität in den bundesdeutschen Alten- und Pflegeheimen ist demgegenüber nicht anders als katastrophal zu nennen, wobei allerdings das Problem besteht, eine solche Behauptung, auch wenn sie von vielen Betroffenen, ihren Angehörigen und auch Mitarbeitern aus dem Pflegebereich geteilt wird, zu verifizieren. Das Dilemma besteht darin, daß die beteiligten Institutionen und Einrichtungen, seien es nun staatliche Aufsichtsbehörden, Prüfgremien der Kranken- und Pflegekassen oder die Heime und ihre Träger, die zu Untersuchungen über die tatsächlichen Verhältnisse in den Pflegeeinrichtungen befugt und in der Lage sind, selbst Bestandteil des Pflegebetriebs sind, den zu prüfen sie sich anschicken. Markus Breitscheidel, ein wenn man so will investigativer Journalist, der in Wallraff-Manier in verschiedenen bundesdeutschen Pflegeeinrichtungen arbeitete, um aus eigener Anschauung darüber berichten zu können, kam zu einem verheerenden Ergebnis, benannte er doch seinen Erfahrungsbericht mit den drastischen Worten: Abgezockt und totgepflegt [1].

Ihm ist zugutezuhalten, daß er nicht auf Einzelskandale abstellt, sondern in Verbindung mit seinen Schilderungen, die nicht anders als subjektiv sein können, stets den Bogen zu schlagen suchte zu den Grundlagen des Pflegegeschäfts, um plausibel zu machen, wie sehr das als Einzelschicksal erschreckende Detail in der Gesamtsystematik verankert ist. Wenn die Pflege geschwächter Menschen zu einem Geschäft wird, dessen Betreiber "Gewinne" erwirtschaften, sprich die Einnahmem maxi- und die Ausgaben minimieren müssen, ist die Frage, wie es denn zu diesem oder jenem spektakulären Einzelfall - als welcher die auf diese Weise systematisch produzierten Katastrophen in den Medien, wenn überhaupt, dargestellt werden - kommen konnte, kontraproduktiv, ist sie doch ihrerseits Bestandteil der Beschwichtigung und Verharmlosung.

Nicht von ungefähr sind die offiziellen Prüfberichte und Untersuchungen längst in die Kritik geraten. Dies gilt für die Qualitätsberichte des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), die im Internet verfügbar sind und die Pflegenoten verteilen anhand von Prüfkriterien, die letztlich nicht anders als unter Berücksichtigung der Interessen der Krankenversicherungen erstellt worden sein können. Das staatliche Standbein der Qualitätsprüfung stellt die Heimaufsicht dar, die von den für die jeweiligen Heime zuständigen Aufsichtsbehörden wahrgenommen wird. Auch diese institutionalisierten Gremien haben vorrangig die Interessen ihrer staatlichen Träger zu berücksichtigen; von einer tatsächlichen Unabhängigkeit oder einer bedingungslosen Parteinahme für die der Pflege unterworfenen Menschen kann beileibe nicht die Rede sein.

In manchen Bundesländern hat sich die Heimaufsicht einen vergleichsweise guten Ruf erworben. In Bayern beispielsweise wurde das 2008 erlassene neue Heimrecht als großer Erfolg bewertet. Durch das neue Gesetz sollten die Zustände in den Pflegeheimen des Landes transparent gemacht werden, sah es doch die Veröffentlichung aller Prüfberichte in laienverständlicher Form vor, die die 96 Heimaufsichtsbehörden über die rund 1300 Pflegeheime Bayerns erstellen [1]. Drei Jahre später stellte sich heraus, daß von einer Realisierung dieses Projektes noch immer nicht die Rede sein konnte - das "gläserne Heim" sei noch immer ein Wunschtraum. Wilfried Blume-Beyerle, Chef des Münchner Kreisverwaltungsreferats, das für die Heimaufsicht der 70 Heime Münchens zuständig ist, erklärte denn auch, daß es jetzt "wirklich Zeit" wäre [1]. Aus dem bayerischen Sozialministerium war im Mai vergangenen Jahres zu vernehmen, daß die ersten Berichte, die nach einem Muster angefertigt worden seien, auf das sich Wissenschaftler und Experten geeinigt hätten, in Kürze öffentlich zugänglich sein würden.

Die Absicht Christine Haderthauers, der CSU-Sozialministerin des Landes, die Berichte lediglich im Internet auf der Seite der Heimaufsicht zu veröffentlichen, stieß im Frühsommer vergangenen Jahres auf Kritik, da gerade viele ältere Menschen, die auf umfassende Informationen über die bestehenden Heime angewiesen seien, keinen Zugang zum Internet hätten. Blume-Beyerle sprach deshalb von einer "Halbtransparenz" und kritisierte, daß seitens des Sozialministeriums nicht auch entschieden wurde, die Prüfberichte in Papierform in den Heimen selbst auszuhängen - damit Bewohner, Angehörige und Interessierte sie einsehen könnten. Die Ministerin erklärte bedauernd, daß ihr für eine solche Regelung die Handhabe fehle.

Inzwischen jedoch droht aus der bayerischen "Halbtransparenz" eine "Nulltransparenz" zu werden. Die Berichte der Heimaufsicht, bei denen im Unterschied zur Qualitätskontrolle des MDK keine Noten vergeben, sondern die Qualität der Pflege aus Sicht der Bewohner beschrieben werden solle und in denen gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge gemacht werden, können voraussichtlich nicht einmal mehr im Internet veröffentlicht werden. Dies hat rechtliche Gründe. Zwar sind die bayerischen Pflegeheime seit dem 1. Januar 2011 gesetzlich "zur Transparenz und Information" verpflichtet, wie auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in zwei Entscheidungen zum Thema vom 9. Januar 2012 bestätigte. Aus dieser gesetzlichen Verpflichtung folge aber nicht, so entschied der Gerichtshof in einer Entscheidung, gegen die es keine Rechtsmittel gibt, daß die Landratsämter und Kreisverwaltungsbehörden ihre auf Stichproben in den Heimen beruhenden Prüfberichte auch veröffentlichen dürften.

Damit hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof den Beschwerden einer Pflegeheim-Trägerin stattgegeben und es der Stadt Regensburg wie auch dem Freistaat Bayern untersagt, ihre Berichte über zwei Einrichtungen öffentlich zu machen. Auch für die übrigen Prüfberichte über weitere Heime, die bereits auf der Website der Stadt zugänglich gemacht wurden, muß nun nachträglich die Veröffentlichungsgenehmigung der Heime eingeholt werden. Michaela Mehls, Pressesprecherin des klagenden Heimträgers, der Kursana, erklärte auf Nachfrage gegenüber der Presse auf die Frage, wie sich denn nun der Bürger über die Heime informieren könnte, daß er "das Haus besuchen" könne, "um sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen", auch sei ein "mehrtägiges Probewohnen" möglich [4]. Mit anderen Worten: Der ohnehin eher geringfügig zu nennende Schutz, der von veröffentlichten Prüfberichten ausgehen könnte, so die betreffenden Heime Einkommenseinbußen bei schlechter Publicity befürchten müssen, wurde durch ein institutionalisiertes Ineinandergreifen der beteiligten privaten wie staatlichen Stellen konterkariert.

Der Pflegenotstand, über dessen tatsächliches Ausmaß in Quantität und Qualität nur Mutmaßungen angestellt werden können, da von einer systematischen, die finanziellen bzw. administrativen Interessen der Betreiber und Verantwortlichen schonungslos ignorierenden Untersuchung weder in Bayern noch im übrigen Bundesgebiet die Rede sein kann, geht damit in die nächste Runde. Die mit Vorschußlorbeeren überhäuften Absichtserklärungen, in dieser besonders sensiblen Grauzone zwischen wehrlosen, der administrativen Verfügung längst überantworteten Menschen und einem Exekutivapparat, der die möglichst lautlose Verwahrung der vielen, nach Verwertungskriterien längst nutzlos gewordenen Betroffenen betreibt, für "Transparenz" zu sorgen, hat sich als Nebelhorn erwiesen. Aus Sicht der Pflegeunternehmen macht diese, vom höchsten Verwaltungsgericht Bayerns bestätigte Regelung natürlich Sinn, können sie doch - zumindest bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, sollte es denn je eine geben - die Veröffentlichung von Prüfberichten, die aus ihrer Sicht ihren Geschäftsinteressen abträglich sind, unterbinden.


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu im Schattenblick -> INFOPOOL -> BUCH -> SACHBUCH: REZENSION/504: Markus Breitscheidel - Abgezockt und totgepflegt (Altenpflege) (SB)
www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar504

[2] Streit um die neuen Pflege-Berichte. Von Caroline Wörmann, www.merkur-online.de, 06.05.2011,
http://www.merkur-online.de/lokales/stadt-muenchen/streit-neuen-pflege-berichte-1232227.html

[3] Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 9. Januar 2012, AZ.: 12 CE 11.2685 und 12 CE 11.2700), aus: Gericht untersagt Veröffentlichung von Pflegeheim-Berichten, Deutsches Ärzteblatt, 12.01.2012,
http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/48727

[4] Kursana-Heime lehnen öffentliche Prüfberichte ab, 17.01.2012,
http://www.mittelbayerische.de/region/regensburg/artikel/kursana_heime_lehnen_oeffentli/747822/kursana_heime_lehnen_oeffentli.html#747822

18. Januar 2012