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STELLUNGNAHME/099: Das Coronavirus und die Situation in den Gefängnissen sowie das Amnestiegesetz in der Türkei (HDP)


HDP-Deutschland
Vertretung der Demokratischen Partei der Völker in Deutschland e.V.

Stellungnahme zur Thematik: Das Coronavirus und die Situation in den Gefängnissen sowie das Amnestiegesetz in der Türkei

16. April 2020


Wir wenden uns mit diesem Brief an Sie alle, um Sie auf die Ungerechtigkeiten, die das jüngste Amnestiegesetz in der Türkei, die auf die Situation der Gefangenen im Kampf gegen die COVID - 19 Pandemie auswirkt, aufmerksam zu machen. Gleichzeitig möchten wir Ihre Aufmerksamkeit dahingehend lenken, was getan werden kann, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen und zusätzlich die Bedingungen in diesen genannten Bereichen verbessern zu können.

Trotz allen Einwänden und Kritiken der politischen Opposition, der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft, verabschiedete die regierende Partei AKP (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung) und ihr ultranationalistischer Verbündeter MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) am 14. April 2020 ein äußerst ungerechtes und diskriminierendes Amnestiegesetz.

Das Gesetz hat sämtliche politischen Gefangenen, die sich einer Anklage wegen Terror-bezogener Straftaten gegenübersehen, von seinem Geltungsbereich ausgeschlossen. Da dieses Gesetz nur diejenigen einschloss, die bereits verurteilt worden waren, schloss es auch alle Personen kategorisch aus, die sich in Untersuchungshaft befinden. Diese genannten Ausschlüsse verstoßen eindeutig gegen den universellen Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz (Artikel 10 der türkischen Verfassung). Viele sind der Meinung, dass die türkische Regierung das Amnestiegesetz als Reaktion auf das Coronavirus entworfen hat, um die Überbelegung der Gefängnisse zu reduzieren.

Dennoch hat die Pandemie die Amnestie-Debatte nicht ausgelöst, sondern sie lediglich beschleunigt. Es war der MHP-Führer Devlet Bahçeli, der die Amnestiedebatte im Mai 2018 nach seinem Besuch bei Alaattin Çakici, einem Gefangenen, der sich in Behandlung in einem Krankenhaus befindet, zum ersten Mal in Gang setzte. Çakici ist einer der bekanntesten Mafia Führer in der Türkei. Er hat sich persönlich an ultranationalistischer Militanz und ungesetzlichen Aktionen "des tiefen Staates" beteiligt. Es ist nicht überraschend, dass er einer der ersten entlassenen Sträflinge war. Etwa 90.000 Sträflinge, die wegen Verbrechen wie Bandengewalt, Menschenhandel, Diebstahl, Raub, Erpressung, Korruption, Geldwäsche oder sogar Totschlag verurteilt wurden, werden jetzt vorübergehend oder vorzeitig entlassen.

Doch Tausende von Politikern, gewählte Parlamentsmitglieder, Bürgermeister, Akademiker, Vertretern der Zivilgesellschaft, Menschenrechtsaktivisten, Studenten, Künstler, Sänger, Journalisten und allen anderen, die aufgrund ihrer Kritik an der Regierung verhaftet oder wegen "Terror bezogener Anklagen" verurteilt wurden, werden im Gefängnis weiter inhaftiert; beispielsweise Selahattin Demirta und Figen Yüksekda (ehemalige HDP-Kovorsitzende), Gültan Kianak und Selçuk Mizrakli (gewählte kurdische Bürgermeister), Osman Kavala (Geschäftsmann und Vertreter der Zivilgesellschaft) und Ahmet Altan (Autor).

Seit dem gescheiterten Putsch im Jahr 2016 nutzt die türkische Regierung eine vage und maßlose Vorstellung von Terrorismus aus, um die demokratische Opposition und die Medien im Namen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu kriminalisieren und zum Schweigen zu bringen. Infolgedessen wurden in den letzten vier Jahren über 80.000 Menschen verhaftet und mit Anklage wegen Terrorismus verfolgt. In diesem Prozess ist die Zahl der Gefangenen im Land von 220.000 auf fast 300.000 sprunghaft angestiegen.

Die Türkei hat gegenwärtig die zweitgrößte Gefängnispopulation und das überfüllteste Gefängnissystem in Europa. Es wird geschätzt, dass etwa 50.000 Menschen, die aufgrund von Anklagen im Zusammenhang mit dem Terrorismus verurteilt oder inhaftiert wurden, vom Amnestiegesetz ausgenommen sind.

Die Worte und Taten der überwältigenden Mehrheit dieser Gefangenen fallen eindeutig in den Geltungsbereich der Meinungs- und Pressefreiheit sowie des Rechts auf friedlichen Protest, wie verschiedene Menschenrechtsberichterstatter und unabhängige Beobachter festgestellt haben. Ein kürzlich verhafteter türkischer Journalist kommentierte das Amnestiegesetz von seiner Gefängniszelle aus: "Hätte ich statt eines Kugelschreibers ein Messer in der Hand, würde ich freigelassen werden".

Der türkische Kampagnen von Amnesty International hat das Amnestiegesetz mit den folgenden Worten kritisiert: "Diejenigen, die in unfairen Prozessen unter den allzu breit angelegten Anti-Terrorismus-Gesetzen der Türkei verurteilt wurden, sind nun auch dazu verurteilt, sich mit der Aussicht auf eine Ansteckung mit dieser tödlichen Krankheit auseinanderzusetzen "...". Die türkische Regierung muss das Richtige tun und diejenigen unverzüglich freilassen, die nur wegen der Äußerung ihrer friedlichen Ansichten inhaftiert sind". Der amtierende Berichterstatter des Europäischen Parlaments für die Türkei, Nacho Sanchez Amor, und der Vorsitzende der Delegation des Europäischen Parlaments im gemischten parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei, Sergey Lagodinsky, empfanden das Amnestiegesetz als "eine große Enttäuschung" und sagten in einer gemeinsamen Erklärung: "Die türkischen Regierungsparteien haben beschlossen, das Leben von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und denjenigen, die sie als politische Gegner betrachten, bewusst dem Risiko der tödlichen Krankheit COVID 19 auszusetzen".

In Anbetracht der Tatsache, dass es in den Gefängnissen praktisch keine Gesundheitsinfrastruktur gibt, sind alle Gefangenen in der Türkei einem enormen und unmittelbaren Risiko ausgesetzt, wobei kranke und ältere Gefangene besonders gefährdet sind. Nach Angaben der türkischen Menschenrechtsvereinigung befinden sich derzeit 1.333 kranke und 457 schwerkranke Menschen in türkischen Gefängnissen. Überfüllte und unhygienische Gefängnisse sind perfekte Orte, an denen sich die Pandemie ausbreiten kann. Die Regierung hat bis vor kurzem die Existenz von Coronavirus-Fällen in den Gefängnissen geleugnet, doch am selben Tag, an dem das Amnestiegesetz verabschiedet wurde, gab der türkische Justizminister bekannt, dass es 17 bestätigte Fälle von COVID-19 unter den Gefangenen gab, darunter drei Todesfälle. Er fügte hinzu, dass 79 Gefängnismitarbeiter sowie insgesamt 80 Richter, Staatsanwälte und Mitarbeiter der Justiz und der forensischen Wissenschaft ebenfalls positiv getestet worden seien. Die Regierung war in Bezug auf die Zahl der COVID-19-Fälle im Land und in den Gefängnissen nicht transparent. Aufgrund von Berichten der Familien und Anwälte der Gefangenen wissen wir, dass die Zahl der Fälle viel höher ist.

Die Vorsitzenden der wichtigsten Oppositionspartei, der CHP (Republikanischen Volkspartei), haben bereits erklärt, dass sie beim Verfassungsgericht die Aufhebung oder Änderung des Amnestiegesetzes beantragen werden. Da das Amnestiegesetz gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz verstößt, kann das Verfassungsgericht das Gesetz theoretisch so ändern, dass es nicht diskriminierend und allumfassend gilt. Wir sind der Auffassung, dass die Regierung, die praktisch die volle Kontrolle über die Justiz hat, sich in den Revisionsprozess einschalten wird. Deshalb sind wir nicht sehr optimistisch.

Angesichts einiger der jüngsten positiven Urteile, die das Gericht trotz des Drucks der Regierung gefällt hat, glauben wir jedoch, dass die Reaktionen der nationalen und internationalen Öffentlichkeit auf das Amnestiegesetz erhebliche Auswirkungen auf das Revisionsverfahren haben könnten. Das Verfassungsgericht bleibt nun die einzige Hoffnung für die vom Amnestiegesetz ausgeschlossenen Gefangenen. Ein faires Urteil kann die Gerechtigkeit wiederherstellen und die Gleichheit vor dem Gesetz gewährleisten.

Zehntausende von Gefangenen in ihren Zellen und ihre Familien verfolgen diesen unbarmherzigen Prozess.

Wir möchten Sie hiermit herzlichst einladen, den fortlaufenden rechtlichen und politischen Prozess in Bezug auf das Amnestiegesetz aufmerksam zu verfolgen, der türkischen Regierung mitzuteilen, wie Sie über diese eklatante Ungerechtigkeit denken und fühlen, die Stimme der kämpfenden Gefangenen und ihrer Familien zu sein, die institutionellen Mechanismen, Ressourcen und Beziehungen zu nutzen, die Ihnen zur Verfügung stehen, und dazu beizutragen, eine wirksame internationale öffentliche Meinung zu diesem Thema zu schaffen.

Pervin Buldan & Mithat Sancar
Co- Vorsitzende der HDP (Demokratische Volkspartei)



Kontakt: international@hdp.org.tr
Web: www.hdp.org.tr

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Quelle:
HDP-Deutschland
Vertretung der Demokratischen Partei der Völker in Deutschland e.V.
E-Mail: info@hdp-deutschland.org
Internet: www.hdp-deutschland.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2020

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