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ZEITZEUGEN LINKS/002: Quergedacht und schwergemacht - Der aufrechte Geist ...    Ingrid Zwerenz im Gespräch (SB)


Logo 'Zeitzeugen links': Rote Fahne, Aufmarsch gegen die Uhr - Grafik: © 2016 by Schattenblick

Im Treibsand politischer Wechselverhältnisse

Gespräch mit Ingrid Zwerenz am 13. und 14. August 2016 in Oberreifenberg im Taunus - Teil 1


Ich hab meine Erfahrungen gemacht mit vier Sorten Deutschland. Drei Stück gingen unter. Das vierte übt noch.
(Ingrid und Gerhard Zwerenz: Sklavensprache und Revolte)

Als Ingrid Hoffmann (geboren 1934) und Gerhard Zwerenz (Jahrgang 1925) sich 1953 erstmals in Leipzig begegneten, hatten beide bereits einschneidende und prägende Wegstrecken ihres Lebens hinter sich. Ihre Jugend im NS-Staat war gezeichnet von ersten Erfahrungen mit dem Elend ideologischer Zurichtung und einem Krieg, dessen Vernichtungslogik ihn zum Deserteur werden ließ, und ihr die Zwangsumsiedlung von Schlesien nach Brandenburg bescherte. Die Hoffnung in der noch jungen DDR auf einen Aufbruch in eine politisch freiere und sozial gerechtere Gesellschaft endete, um einer drohenden Inhaftierung Gerhard Zwerenz' als linker Oppositioneller zu entgehen, 1957 mit der Flucht in eine Bundesrepublik, deren restaurativer Geist mit dem Schüren neuer Kriegsbereitschaft und der strafrechtlichen Verfolgung von Kommunisten sein neues wie altes Unwesen trieb.

In dieser BRD entfalteten Ingrid und Gerhard Zwerenz publizistische und politische Aktivitäten, die im Niemandsland zwischen sozialistischem Anspruch und kapitalistischer Wirklichkeit eine unverwechselbare Signatur aus sprachlichem Esprit, entlarvender Analyse und unbestechlicher Kritik aufwiesen. Maßgeblich geprägt durch das Credo des Philosophen Ernst Bloch, mit dem das Paar Zeit seines Lebens eng verbunden war, vom utopischen Charakter des Menschen, der noch nicht ist, sondern erst wird, kämpfte das Paar stets für die Emanzipation von sozialer Herrschaft und kriegerischer Gewalt.

Die Stationen ihres Weges durch die politischen Systeme, mit denen sich Ingrid und Gerhard Zwerenz zeitlebens angelegt haben, sind ein Stück deutsch-deutscher Geschichte im Brennglas individueller Erlebnisse und Begegnungen, denen auch für die Zukunft Wissenswertes und Beispielhaftes zu entnehmen wäre.

Gerhard Zwerenz ist am 13. Juli 2015 kurz nach seinem 90. Geburtstag verstorben. In einem Gespräch mit dem Schattenblick läßt Ingrid Zwerenz Kreuzpunkte und Episoden ihres eigenen wie des gemeinsamen Lebens als Zeugnis einer Zeitgeschichte wiedererstehen, das von übergreifendem Interesse für den Blick auf das - mit Bloch gesprochen - noch nicht Gewordene ist.

Der Schattenblick veröffentlicht dieses am 13. und 14. August 2016 mit der heute 81jährigen in ihrem Haus in Oberreifenberg im Taunus geführte Gespräch in drei Teilen.


Ingrid Zwerenz am Rednerpult vor einem Porträtfoto von Gerhard Zwerenz - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Auf der Frankfurter Buchmesse 1986 zum Erscheinen des Zwerenz-Buches 'Die Rückkehr des toten Juden nach Deutschland'
Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Schattenblick (SB): Frau Zwerenz, wir führen dieses Gespräch mit Ihnen auch in dem Bewußtsein, daß wenig mehr als ein Jahr seit dem Tod Ihres Mannes und Lebenspartners Gerhard Zwerenz vergangen ist. Möchten Sie vielleicht einführend einige Worte dazu sagen?

Ingrid Zwerenz (IZ): Kurz nach dem Tod von Gerhard gab es hier in Frankfurt das Buchgassenfest, organisiert vom Schriftstellerverband, das auf die Anfänge des Buchhandels zurückgeht, als die Bücher noch in Weinfässern von überall her nach Frankfurt transportiert wurden; hier fand 1480 die erste Buchmesse statt. Da hat der damals stellvertretende Vorsitzende vom Schriftstellerverband in Hessen gleich die Gelegenheit genutzt und mich gebeten, am Abend ein paar Worte zu Gerhard zu sagen; das lese ich Ihnen kurz vor:

Als Gerhard 2000 die Neuausgabe seines biographischen Romans über die letzten Jahre Kurt Tucholskys im Exil vorbereitete, wählte er erst den Titel Eine Liebe in Schweden. Schließlich hieß das Buch Gute Witwen weinen nicht. Immer wieder betonte er diese vier Worte, als wollte er sie mir besonders empfehlen. Ich überhörte den Hinweis, wollte weder eine gute, noch überhaupt eine Witwe sein. Jahre hindurch hat meine Abwehr gewirkt, bis zum Tod von Gerhard am 13. Juli 2015. Dabei war entgegen allem Aberglauben der 13. immer unser Glückstag gewesen. Am 13. Dezember 1965 hatte ich in Köln, assistiert von unserer damals achtjährigen Tochter Catharina, das etwa tausend Seiten umfassende Manuskript des Romans Casanova oder Der Kleine Herr in Krieg und Frieden abgeschickt. Das Postamt war direkt neben unserem Wohnhaus im Zentrum von Köln. Das Buch wurde über lange Zeit ein Bestseller. Erfolge gab es weiterhin bei den über hundert späteren Gerhard-Zwerenz-Editionen. Sie brachten es insgesamt auf gut zwei Millionen Auflage, wurden in acht Sprachen übersetzt und umfaßten die Bereiche Politik, Sachbücher, Autobiografien, Lyrik, Polemik, Erotik, Satire, Humor. Dabei war es ein weiter Weg gewesen, den der 1925 im sächsischen Industriegebiet zur Welt gekommene spätere Schriftsteller Gerhard Zwerenz zurückzulegen hatte.


Gerhard Zwerenz sitzend mit gefalteten Händen - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Gerhard Zwerenz 2010
Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

SB: Sie selbst sind 1934 im schlesischen Liegnitz geboren und wurden nach dem Krieg ins Gebiet der späteren DDR umgesiedelt. Wie ist es Ihnen dabei ergangen?

IZ: Der Treck damals war nicht besonders komisch, Hinterher habe ich einmal nachgeschaut, es sind eigentlich nur 145 Kilometer von Liegnitz bis an die Oder-Neiße-Grenze. Aber aus taktischen Gründen oder weil man nicht wußte, wohin wir sollten, hat man uns ein paar Mal im Kreis geführt, so daß wir zehn Tage unterwegs waren. Den Sommer durften wir noch auf der polnischen Seite bleiben, das war freundlich. Meine Mutter hatte in Liegnitz im russischen Lazarett gearbeitet. Ab und zu kamen uns einige der Rekonvaleszenten - Soldaten und Offiziere - besuchen, trotz all ihrem berechtigten Haß auf die Deutschen waren sie sehr kinderlieb. Mit elf Jahren war ich ja noch ein Kind, und meine jüngere Schwester war vier Jahre. Die Häuser waren so gut wie leer, weil die meisten kein gutes Gewissen hatten und schon im Winter auf Treck gegangen waren. In der doch beträchtlich langen Roonstraße wohnten vielleicht noch vier, fünf Familien. Überall waren kleine Gärten, so daß wir ringsherum Obst ernten und einkochen konnten. Die Russen zeigten auf die Gläser und sagten, nix gutt, besser alles aufessen. Sie wußten schon, welche Pläne es gab.

SB: Es ging doch um die Umsetzung des Potsdamer Abkommens?

IZ: Ja, und es war klar, daß sie uns jederzeit aus Schlesien wegschicken konnten.

SB: Ihr Mann hat ja kritisch angemerkt, daß die BRD das Potsdamer Abkommen eigentlich nicht akzeptiert hat. Wie würden Sie das aus Ihrer eigenen Betroffenheit und aus heutiger Sicht bewerten?

IZ: Mir kommt aus tiefster Seele nicht der geringste revanchistische Gedanke dabei. Wer Krieg anfängt, muß bezahlen. In Liegnitz gab es von Anfang an hohe Zustimmungsraten für die NSDAP; aber das ist nur ein Detail. Ich fand es nicht sehr schön, daß wir zu Fuß auf diesen Weg geschickt wurden. Wir haben auf der Wiese übernachtet, zum Glück war Sommer, und in den Gärten waren die Johannisbeeren reif. Natürlich hatten wir Hunger. Man hatte ja nur zu essen, was man bei sich trug. So haben wir schnell im Vorbeigehen ein paar Zweige mit reifen Johannisbeeren abgerissen und sie ungewaschen gegessen. Dadurch habe ich eine Art Mundfäule gekriegt mit 40 Grad Fieber. Als wir dann an der Oder-Neiße-Grenze ankamen, hat meine Mutter gesagt, mit diesem kranken Mädchen kann ich nicht weiter. So sind wir auf der polnischen Seite geblieben.

Man soll sich vor Verallgemeinerungen hüten, aber im Großen und Ganzen waren die Polen aggressiver und rachsüchtiger als die Russen. Aber trotzdem waren sie in dem Ort, der kurioserweise Lugknitz hieß, ganz froh, daß einige Deutsche bei ihnen blieben, denn es gab viel zu arbeiten. Meine Mutter hat in der Küche der Kommandantur geholfen, andere Kinder und ich mußten Kartoffeln schälen. Es war August und die Kartoffeln waren klein und verschrumpelt.


Beim Gespräch in Oberreifenberg - Foto: © 2016 by Schattenblick

Ingrid Zwerenz
Foto: © 2016 by Schattenblick

Dabei haben wir trotz allem ein ungeheures Glück gehabt, auch, daß mein Vater nur für zweieinhalb Jahre in russische Gefangenschaft geriet. Man muß dazu wissen, daß der damalige russische Geheimdienst NKWD schon kurz nach dem Einmarsch der Roten Armee bei uns am 23. Februar aktiv wurde. Das Kriegsende war ja erst im Mai, aber die Nazis waren alle längst getürmt. Mein Vater war nicht in der Partei. Im Gericht hat er im gehobenen Dienst gearbeitet, im Scheidungsressort, glücklicherweise, hatte also direkt nichts mit Politik zu tun.

Dennoch hat das NKWD, weil es nicht genügend Männer vorfand, meinen Vater eines Tages, wie man das nannte, abgeholt. Einige der russischen Offiziere haben noch versucht, weil sie uns über die Wochen kennengelernt hatten, herauszufinden, wo sie ihn hingebracht haben, aber ohne Erfolg. Wir haben dann lange nichts von ihm gehört. Sie hatten ihn tatsächlich nach Sibirien transportiert.

In Sibirien war eine junge jüdische Ärztin, die allen Gefangenen, die vor ihr aufmarschierten, in die hungerschlaffen Hinterbacken gekniffen hat. Wenn da bloß noch Haut war, hat sie die Leute zum Schlafen geschickt. Sie durften sich dann erst einmal acht Tage auf die Pritsche legen und vom Transport erholen.

Nachher hat mein Vater natürlich auch Kohle schippen und solche Arbeiten leisten müssen, doch immerhin die zweieinhalb Jahre überlebt. Leute wie meinen Vater nannte man "Zivilinternierte", denn sie waren keine Soldaten.

Dann ist er entlassen worden und schließlich in Hoyerswerda aus dem Güterzug geklettert, da hat er allerdings nur noch 60 Pfund gewogen. Die einzige Adresse, die ihm einfiel, war die von seiner Schwester, sie wohnte am Kaiserdamm 25 in Berlin. Und da ist dieses Skelett, als das mein Vater heimgekehrt war, von Hoyerswerda zu Fuß nach Berlin gelaufen. Die Verwandten haben ihn dann aufgepäppelt, und von da hörten wir das erste Mal nach den Jahren wieder von ihm und holten ihn nach Lugknitz, wo wir eine Wohnung zugewiesen bekommen hatten.


Bilderwand im Haus von Ingrid Zwerenz in Oberreifenberg - Foto: © 2016 by Schattenblick

Gespräch unter Zeugnissen eines bewegten Lebens
Foto: © 2016 by Schattenblick

Er hat dann bei einem Kohlebergwerk, das hieß Babina, die Lohnabrechnung gemacht. Es gab zwar noch kein elektrisches Licht und es fehlte an vielem, aber wir waren ungeheuer dankbar, wieder zusammen zu sein. Die Lohnlisten hat er immer mit nach Hause gebracht und die Spalten abends im Schein einer Karbid-Lampe ausgefüllt. Im Bergwerk waren sie froh, einen Mann zu haben, der sich mit Papieren auskannte. Seine Spezialität war zwar die Schreibmaschine gewesen, doch er arbeitete sich auch in die Zahlenkolonnen ein, und so hatten wir alle ein gewisses Auskommen.

Bloß wurden wir 1947 vor die Alternative gestellt, entweder für Polen zu optieren oder das Land zu verlassen. Obwohl wir unter den Polen auch reizende Leute kennengelernt hatten und meine Mutter wirklich der gutmütigste Mensch der Welt war, hatte sie bereits Schwierigkeiten mit Ostpreußen und Oberschlesiern gehabt, die ihr zu katholisch waren, aber erst recht mit den Polen und ihren Bräuchen. Zu Ostern zum Beispiel sind meine Schwester und ich fröhlich in den Ort spaziert, als plötzlich Leute mit großen Töpfen oder Schüsseln in der Hand ankamen und uns mit Wasser bespritzten. Da haben wir überlegt, was wir denn jetzt wieder falsch gemacht hatten. Hinterher haben uns die Polen, mit denen wir gut kommunizierten und die ein gewisses Niveau hatten, erklärt, daß es diesen Brauch tatsächlich gibt, nur daß man die Leute nicht mit Wasser, sondern mit Parfüm oder Eau de Cologne bespritzt. Eine Zeitlang mußten wir als Deutsche auch eine weiße Armbinde tragen, aber daran gewöhnt man sich. Natürlich kein Vergleich mit dem elenden Gelben Stern, den die Nazis allen Juden aufzwangen.

Zweieinhalb Jahre gab es keinen Schulunterricht. Erst in den letzten Wochen in Polen fand Unterricht statt, aber eben in Polnisch. Wir konnten ein paar Worte, aber ein Schulbesuch wäre mir dort sehr schwergefallen.

SB: Als Sie dann weiter nach Westen zogen und in Dahme/Mark landeten, wurden Sie da willkommen geheißen?

IZ: Nein, nicht wirklich, nur von denen, die vorher selbst als Umsiedler in die DDR gekommen waren. Aber wir hatten einen umsichtigen Bürgermeister. Zuerst kriegten wir mit vier Personen ein Zimmer bei einer Frau zugewiesen, die eine Dreizimmerwohnung in Dahme besaß. Natürlich war sie nicht sehr erfreut über unseren Zuzug, aber das hat sich nachher gebessert. Dann haben wir eine eigene kleine Wohnung in einem ziemlich baufälligen Haus bezogen, aber es waren wenigstens zwei Zimmer mit Küche. In der Schule verstand ich mich sehr gut mit einer Banknachbarin, Hannelore Böhme, die später eine bekannte Kardiologin in Ostberlin wurde.

SB: Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren Sie fünf Jahre alt, an dessen Ende elf, Ihre Pubertät und Jugend verbrachten Sie in der DDR, das ist ja keine unwichtige Zeit, 1953 dann die erste Begegnung mit Ernst Bloch und im selben Jahr mit Gerhard Zwerenz, 1957 Flucht in die BRD. Sie haben sich eine kritische Haltung bewahrt, hüben wie drüben, ein Leben lang. Was hat Sie am nachhaltigsten geprägt?

IZ: Unter anderem natürlich die Schule, wobei ich nie ein bösartig kritisches Wort über die Schulbildung in der DDR sagen würde. Wir hatten sowohl eine hervorragende Deutsch- als auch Musiklehrerin. Der Geschichtslehrer war zwar auf Parteilinie, aber nicht penetrant, es wurde auch sachliches Wissen vermittelt, Mathematik ist ja sowieso eher wertneutral. Im Fach Biologie war das schon anders. Ein Lehrer war ein richtig besessener Biologe, der hat auf manchen Wiesen rings um die Stadt stundenlang auf dem Bauch gelegen und pro Quadratmeter abgezählt, wie oft die einzelnen Grassorten vertreten waren. Er hatte sich allerdings im Unterricht erlaubt, eine Parallele zwischen den Staaten der Menschen und einem Ameisenstaat zu ziehen. Das ist ja recht verbreitet, doch die DDR verübelte es ihm schwer, er wurde aus dem Schuldienst entlassen.


Plakat 'Gerhard Zwerenz liest aus Das Großelternkind' - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Gerhard Zwerenz mit etwa fünf Jahren auf einem Lesungsplakat aus dem Jahr 2000
Foto: © 2016 by Schattenblick

In einer der letzten Klassen habe ich für die Arbeit in den verschiedenen Fächern, nicht für gesellschaftliches Engagement, ein Buch zur Belohnung erhalten. Der Direktor reichte mir den Band und merkte an: "Fürchtet euch nicht, Stalin ist bei Euch!" Da habe ich laut losgelacht. Erstens fand ich es schon sehr sonderbar, daß man Stalin-Werke zur Belohnung verteilte und dann auch noch begleitet von diesen Worten. Um diese Zeit vor dem 20. Parteitag wußte man noch nicht genau, wie sehr man sich vor Stalin zu fürchten hatte. Ich mußte mich dann verantworten, weil man nicht einfach loslachen durfte, bei so einem Präsent. Stalin konnte ich schon vorher wegen seiner Sprache nicht ertragen. Lenin war ein glänzender Stilist, den habe ich gerne gelesen. Doch bei Stalin war das ständige Wiederholen der orthodoxen Lehrsätze zur Formel erstarrt, eine Art Liturgie, wie sie dem jungen Josef Wissarionowitsch im Priesterseminar eingepaukt worden war.

Unser Unterricht hing sehr von der politischen Großwetterlage ab. Wir hatten zum Beispiel nur sieben Wochen Englisch. Denn als das Verhältnis zu den Westmächten eskalierte, wurde Englisch, genauso wie Französisch, wo wir es immerhin auf ein viertel Jahr gebracht hatten, gestrichen. Dafür hatten wir inklusive Universitätszeit insgesamt zwölf Jahre Russisch. Davon ist aber leider nichts mehr übriggeblieben, weil ich es in der Bundesrepublik nicht nutzen konnte. Mit etwas knappen Kenntnissen in modernen Sprachen sind wir ausgestattet worden, dafür jedoch mit dem Großen Latinum, aber sonst konnte man sich über mangelndes Niveau nicht beschweren.

SB: Sie hatten ja als Kind den NS-Staat erlebt. Verkörperte die DDR damals für Sie auch die Hoffnung auf eine Gesellschaft, die sich grundsätzlich von dem unterschied, was Sie bis dahin erlebt hatten?

IZ: Ja, das ist wahr. Nun hatte ich ungeheures Glück, denn erstens gab es in meiner Familie nicht eine Spur von Nazismus, und zweitens hat das Dritte Reich mich nur nachträglich durch eine Art Aufarbeitung belastet, wie viele Schlesier, Dieter Hildebrandt z.B., der stammte aus Bunzlau, oder Wolfgang Neuss, der aus Breslau kam. Die beiden waren ja nicht lange in der DDR, doch haben sie ihr Leben lang im Westen versucht, neues, von Revanchismus freies Denken zu verbreiten.

In der DDR hatten wir zuerst alle den Furor, ranzugehen und ganz neue Wege zu beschreiten. Als Junger Pionier habe ich marxistische Grundsätze gelernt und öfter auf Versammlungen längere Reden gehalten, dafür erhielt ich ein Abzeichen mit der Aufschrift "Für gutes Wissen". Das betraf generell Kenntnisse der Geschichte. Mir war das ein bißchen unangenehm, zumal mich einige Leute fragten: Weißt du denn wirklich so viel Gutes? Ursprünglich gab es eine große Lernbereitschaft, und die ersten Jahre war man absolut pazifistisch. Lange nach unserem Weggang haben sie dann angefangen, die Kindergärten mit kleinen Spielpanzern zu remilitarisieren. Das war furchtbar und wäre am Anfang der DDR nicht denkbar gewesen.

Die Enttäuschung begann allerdings schon in der Universität. Es gab eine Organisation "Gesellschaft für Sport und Technik" (GST), da mußten wir paramilitärische Übungen absolvieren. Im Ferienlager auf Rügen war im Sand mit Muscheln vor dem Zelt die Losung "Lerne, lehre, kämpfe, Student" ausgelegt. Dort sollten wir Kleinkaliberschießen lernen. Ich habe das Gewehr mit Ekel angepackt und meine Kugeln gingen regelmäßig ins Leere, bis sie es aufgegeben haben, aus mir eine Soldatin zu machen. Dafür haben sie mich zum Politkommissar ernannt. Meine Anvertrauten haben sich den Bauch gehalten vor Lachen und immer gesagt: Ingrid steht da und deklamiert die Kommandos, links um.

Meine beste Freundin während der Studienzeit und ich haben nicht die FDJ verabscheut, wohl aber die FDJ-Hemden. Alles, was mich an Uniformen erinnerte, habe ich abgelehnt. Als wir einmal in Leipzig kein blaues Hemd zur Verfügung hatten, hat man uns beide vor versammelter Mannschaft so heruntergeputzt, daß wir ganz klein wieder ins Philosophische Institut zurückkehrten. Ein mitleidiger Kommilitone hat mir dann ein FDJ-Hemd geschenkt, weil er zwei besaß. So habe ich wohl oder übel zum 1. Mai und zu den Aufmärschen das Hemd getragen. Da hatten sich aber, abgesehen von dem Bekleidungsdrill, schon die ersten Zweifel und Enttäuschungen in mir angesammelt.


Gezeichnetes Porträt monochrom - Grafik mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Ernst Bloch
Grafik mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

SB: Der Philosoph Ernst Bloch ist für Sie und Ihren Mann immer ein zentraler Quell der Inspiration wie auch Anlaß zu kritischer Auseinandersetzung gewesen. Wie kam es überhaupt zu Ihrem Entschluß, Philosophie zu studieren, und wie verlief Ihre erste Begegnung mit Bloch?

IZ: Ursprünglich hatte ich den Plan, Dramaturgie und Germanistik zu studieren, aber an der Humboldt-Universität in Berlin war kein Platz mehr frei. Natürlich sind das die begehrtesten Fächer dort gewesen. Nun war aber meine Cousine in Leipzig damals mit einem jungen Germanisten verlobt, er hatte einen Bruder, der Philosophie studierte. Und er hörte nun von meinem Desaster - und daß es trotz eines ausgezeichneten Zeugnisses auch bei anderen Universitäten mit dieser Fachrichtung nicht klappen wollte. Er sagte, wir haben noch freie Plätze, schickt Ingrid her nach Leipzig. Das Philosophische Institut war am Peterssteinweg im früheren Gericht, ein ganz altes Gebäude mit einer wunderschönen Holztreppe und einem reichgeschnitzten Geländer.

Ich bin also fröhlich hineinmarschiert - es war inzwischen schon Oktober geworden, die Semester hatten bereits im September angefangen - und im Sekretariat sagte man mir, daß der Institutsdirektor, Herr Professor Bloch, noch gern mit mir sprechen wollte, weil ich später gekommen sei. So bin ich ins Direktorenzimmer gebeten worden, und da saß ich meinem später so hochbewunderten Professor gegenüber. Er sagte mir gleich als erstes: Ich bin hier zwar als Philosophieprofessor angestellt, aber ich bin kein Professor, ich bin Philosoph. Bloch war ja ein absoluter Frauenbewunderer, wenn man nicht gerade die Nase verkehrt herum im Gesicht trug, konnte er sehr liebenswürdig sein. Verglichen mit meinem späteren Verhalten bin ich an dem Tag gleich zwei, drei Mal hintereinander ins Fettnäpfchen getreten.

Einer meiner Fehltritte bestand darin - ich weiß auch nicht, wie ich auf diese unglückliche Idee kam -, daß ich in dem Gespräch ein Zitat einwarf: Lessing sagte: Luther hat uns vom starren Buchstabenglauben befreit. In dem Moment vereiste Ernst Bloch und knurrte: Aber nein, mein gnädiges Fräulein, er hat ihn uns ja gerade gebracht. Darauf mein schüchterner Einwand: Das habe nicht ich gesagt, sondern nur Lessing zitiert. Damals hatte ich auch gerade Doktor Faustus von Thomas Mann gelesen, wo eine Menge philosophischer Bezüge drin sind. Aber Thomas Mann gehörte nicht gerade zu Blochs Lieblingsautoren. Später sind wir auf unverfänglichere Gebiete geraten, und damit war alles noch ganz gut gelaufen.

Zuerst war es bei uns angehenden Philosophen nahezu paradiesisch. Wir waren alle furchtbar eingebildet, daß wir Ernst Bloch zum Professor hatten. In einem kleinen Hörsaal, wo ungefähr 40, 50 Studenten reinpaßten, stand er vorne an seinem Pult, las mit der Nase - die Augen waren schon damals schlecht, aber er hat sich sowieso immer nur Stichworte notiert. Noch viel schöner waren die Seminare, da hatten wir ihn direkt vor uns. Es gab herrliche Episoden. Einmal waren wir alle brav versammelt, aber der Professor fehlte. Er war sonst immer sehr pünktlich. Die Seminare begannen mittags, frühestens ab 13 Uhr, denn Bloch war der Typ, der die Nacht durcharbeitete, ein absoluter Nachtproduktiver, und dann mußte er natürlich bis mittags schlafen. Schließlich kam er, und wir trauten unseren Augen nicht, denn er hatte ein formidables Hörnchen auf der Unterlippe. Dies, weil er beim Mittagessen mit der Chefsekretärin Frau Franke gedankenverloren Tomatensalat zu sich genommen hatte, obwohl er gegen Tomaten allergisch war. So sehr er die Frauen schätzte, kleine Nadelstiche konnte er sich mitunter nicht verkneifen. Jedenfalls sagte er zu uns: Wenn ich eine eitle Dame wäre, hätte ich das Seminar ja abgesagt. Aber ich halte es, und Sie müssen meinen Anblick eben ertragen.

In einem der folgenden Seminare fragte er nach einer Definition für Mögliches. Da ist mir der Zufall zu Hilfe gekommen, denn ein paar Tage zuvor hatte ich mir den ersten Band vom Prinzip Hoffnung gekauft, deshalb wußte ich etwas Bescheid. Ich merkte, wie es in unserem verehrten Philosophen brodelte, denn es trat für eine Weile Schweigen ein nach seiner Frage, und dann fügte er an: "Ich stelle mit Vergnügen fest, daß Sie meine Bücher nicht kennen." In dem Moment sagte ich: "Herr Professor, Mögliches ist partiell Bedingtes." Ich hatte diesen Satz aus den ersten Kapiteln im Prinzip Hoffnung noch frisch in Erinnerung. Das hat ihn ungemein gefreut. 1955 ist der erste Band von dieser Trilogie erschienen. Da meldete die Leipziger Volkszeitung, Ernst Bloch habe das Buch "Prinzip Hoffmann" geschrieben, was mir eine Reihe Anspielungen eintrug, denn ich bin eine geborene Hoffmann. (lacht)


Zeichnung im Seitenprofil monochrom - Grafik mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Gerhard Zwerenz - karikiert im Juni 2002
Grafik mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Gerhard war um diese Zeit schon ziemlich oft auch privat mit Bloch zusammen, draußen in der Villa, und hat ihn auf dem Laufenden gehalten. Bloch war nicht in der Partei, er nannte sich parteiloser Bolschewik. Besonders nach dem 20. Parteitag waren wir alle so fröhlich gewesen und haben gedacht, wir könnten stante pede eine verbesserte, verjüngte DDR aufbauen. Hat sich aber schnell erledigt, und je mehr sich die Lage zuspitzte am Institut und auch in der Partei, desto vorsichtiger hat Gerhard, so weit es möglich war, Bloch über die Entwicklungen unterrichtet, aber mit dem Vorbehalt, es müsse unter ihnen bleiben. Denn natürlich konnten die Funktionäre leicht erraten, von wem die Informationen stammten.

Bloch hatte Diskretion versprochen, aber dann hat er mit jemandem telefoniert und dabei eine solche Wut entwickelt, daß er alles herausplauderte, was ihm Gerhard unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte. Nachher war ohnehin alles im Eimer, als der Philosoph seines Instituts verwiesen wurde. Gerhard hatte schon vorher aufgehört zu studieren und sich freistellen lassen. Um diese Zeit fing er bereits an, für die DDR Weltbühne zu schreiben. Damals konnte man da noch eine Menge unterbringen, was in anderen Zeitungen nicht möglich war. Außer hin und wieder im Sonntag, wo nachher so folgenreiche Artikel erschienen wie das Leipziger Allerlei. Vor allem das Gedicht Die Mutter der Freiheit heißt Revolution wurde Gerhard bitter angekreidet.

Unsere Seminarveranstaltungen in dem winzigen Raum hinter dem Direktorenzimmer bestanden weiter, doch verloren wir unsere splendid isolation, wo wir Bloch ganz für uns hatten, als wir in den großen Hörsaal der alten Uni umzogen, wo dann Hunderte von Studenten an den Vorlesungen teilnahmen. Es war weiterhin interessant. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der dort oft Vorlesungen hielt, hatte zwar seine Meriten, doch als Rhetoriker stand er in Blochs Schatten.

Ich möchte Ihnen noch eine kleine Geschichte über Bloch erzählen. Meine Freundin Erika und ich saßen im ehemaligen kleinen Hörsaal immer in der ersten Reihe, auch wenn man dort ab und zu ein bißchen geduscht wurde, aber das ist nun einmal so, wenn jemand sehr lebhaft spricht. Mitten in einer ganz ernsten Vorlesung sagte Bloch, um irgend etwas zu exemplifizieren: "Die Schiffe verlassen die sinkende Ratte." Erika und ich malten uns das aus und brachen in ein herzliches Lachen aus, worauf uns Bloch sehr irritierte Blicke zuwarf. Ich dachte noch, vielleicht hat er gar nicht gemerkt, daß er sich versprochen hat. Vor einiger Zeit sind Briefbände von Bloch herausgekommen. Und darin findet sich genau diese Umkehrung. Es war kein Versprecher gewesen, aber woher sollten wir das wissen?


Porträtaufnahme aus einem Kölner Fotoatelier - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Ingrid Zwerenz Mitte der 60er Jahre
Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Als ich bei Bloch über die petites perceptions, die kleinen Wahrnehmungen bei Leibniz arbeitete, hatte ich das ungeheure Privileg, in der Deutschen Bücherei Freuds Abhandlung über Das Unbewußte ausleihen zu dürfen. Freud stand im Giftschrank. Dort habe ich auch Blochs Band Erbschaft dieser Zeit in großen Teilen gelesen. Die Bücher durfte man nicht mit nach Hause nehmen, also habe ich soviel wie möglich an Zitaten abgeschrieben. Bloch hat sich sehr gefreut, als ich in unserem Seminarraum dann einen kleinen Vortrag über das Buch hielt, es war in der DDR nicht greifbar. Ich hatte dabei auf diese Zeilen abgehoben: "Die Kommunisten sagen die Wahrheit, aber sie reden von Sachen, die Faschisten lügen, doch sie sprechen zum Menschen." Der erste Teil des Satzes traf zur Zeit, da Bloch ihn formulierte, zumindest auf eine Reihe von Kommunisten zu, was sich ja später dann leider änderte. Die zweite Hälfte paßt maßgenau auf große Gruppen der AfD. Im Niveau, das die unsägliche Dame Petry, die den Begriff "völkisch" reinwaschen will, an den Tag legt, können sie jederzeit mit dümmster Nazipropaganda auf einer Stufe agieren.

Bloch konnte vor Wut einen Veitstanz aufführen, wenn in der DDR eine vernagelte und verblödete Anti-Bibel-Kampagne inszeniert wurde, die Bibelverachtung hielt er für eine der größten Kulturschandtaten, die man sich vorstellen kann. In jeder zwölften oder fünfzehnten Vorlesung ist er auf dieses Thema zurückgekommen. Ich kann das gut verstehen, obwohl ich selbst kein religiöses Zentrum haben muß, mir reicht, was Freud ein ozeanisches Gefühl nennt. Jedenfalls hat Bloch wie der berühmte Löwe dafür gekämpft, daß wir uns immer mal wieder auch mit verschiedenen Religionen beschäftigen sollten. Die wichtigen Sachen hat man ohnehin, wenn nicht in den Genen, im Gedächtnis.

SB: Sie waren ja auch mit Karola Bloch befreundet. Welche Rolle hat sie im Leben des Philosophen Ernst Bloch eingenommen?

IZ: Sie war unentbehrlich für Ernst, nicht nur in der Emigration, sondern auch später hier in der Bundesrepublik. Sie war gewissermaßen der organisierende Teil. Als gelernte Architektin hatte sie immer einen gewissen Überblick. Wir waren ein paar Mal in Tübingen zu Besuch, rührend, die winzige Drei-Zimmer-Wohnung für diesen Weltgeist. Karola hat in der DDR eine Unmenge ganz moderner Küchen für Kindergärten und Betriebskantinen gebaut, als Architektin war sie sehr begehrt und oft unterwegs. Es gibt halt solche und andere Wege, aber es muß diese Ehe ungeheuer frisch gehalten haben, daß die beiden faktisch nur übers Wochenende zusammen waren. Karola war beruflich häufig in Berlin, und dann kümmerte sich die unersetzliche Chefsekretärin Frau Franke treusorgend um Bloch, denn seine Kurzsichtigkeit begann relativ früh. Schon zum Pult wurde er vom Oberassistenten geleitet, damit er nicht irgendwo stolperte. Körperlich war er zwar noch relativ gut imstande, doch die Kurzsichtigkeit verstärkte sich immer mehr. Karola hat dann in Tübingen ungeheuer viel Geld und Energie in die Gefangenenbetreuung investiert und auch immer mal wieder Artikel darüber geschrieben.

SB: Gerhard Zwerenz hat der Angabe, er sei Assistent Blochs in Leipzig gewesen, stets widersprochen. Was war dann seine Position?

IZ: Wir haben bei Bloch studiert. Bei einem seiner Geburtstage, ich glaube beim 80., hatte Ernst wieder eine herrliche Formulierung drauf. Wir hatten uns eine längere Zeit nicht gesehen, und als wir hinkamen, schüttelte er uns beiden gleichzeitig die Hände und sagte: Ha, meine entlaufenen Schüler sind wieder da. Richtig ist, daß er Gerhard in Leipzig angeboten hatte, Assistent zu werden. Aber der sagte: Nein, Herr Professor, darauf reflektiere ich nicht. Das war Gerhard, bindungsscheu gegen jede Art von Anstellung. Auch später in der Bundesrepublik hat er oft Angebote bekommen, der Stern zum Beispiel hätte ihn gerne gehabt - wir haben immer mal wieder für den Stern geschrieben -, auch verschiedene Verlage hätten ihn gerne engagiert, aber nach Möglichkeit vermied er alles, was eine Festanstellung gewesen wäre.


Tochter auf dem Schoß der Mutter sitzend - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Catharina Zwerenz mit Mutter 1968 in Köln
Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

SB: Wie haben Sie das soziale Klima in der BRD Ende der fünfziger Jahre erlebt?

IZ: Das war zuerst schon ziemlich bitter, obwohl ich privilegiert war, weil ich zu Hause arbeiten konnte, damals gab es ja noch keine Kitas. Und Catharina hatte Glück, weil wir mitten in Köln in einer recht gut durchmischten Straße wohnten mit witzigen Kölnern, wenn manches auch grenzwertig war. Da hatte die Tochter eine Freundin, mit der sie oft spielte, deren Vater war Zimmermann. Catharina war der Meinung, alle Väter setzen sich morgens zur Arbeit an den Schreibtisch. Sie war sehr frei erzogen, das einzige, was sie nicht durfte, war, Krach zu machen auf dem Flur. Es mußte leise zugehen, sonst wurde der Vater verrückt. Einmal wollten sie in der Schule wissen, was die Mutter für Plätzchen und Kuchen backt. Da hat Catharina gesagt: Meine Mutter backt selten, sie tippt auf der Schreibmaschine.

Wir hatten in Köln auch sehr gute Freunde und Bekannte wie zum Beispiel Willy Fleckhaus, der für die Zeitschrift Twen das berühmte Layout gemacht hat. Ein sehr guter Freund war Hans Hermann Köper, ein entschiedener Pazifist, der ganz früh in den 50er, 60er Jahren den ersten Band über zurückgekehrte Juden herausgegeben und als Journalist die Texte in Twen betreut hat. Er war auch ein hochbegabter Cellist. Er war der erste, der Günter Wallraff für seine frühen Reportagen ein Forum geboten hatte. Mit all diesen Leuten hatten wir ein besonderes Standing. Köpers hatten eine schöne Wohnung auf halber Höhe vor dem Kölner Dom gegenüber dem Wallrafplatz, wo der Rundfunk residierte. Dort fanden oft sehr gute Gesellschaften statt, mit Wolfgang Leonhard und anderen. Übrigens war Catharina das einzige Kind, das zu diesen Gesellschaften eingeladen wurde. Die Linken oder Exkommunisten trafen sich meist in der Eisdiele "Campi". Bei manchen Parties, muß ich gestehen, konnte ich es mit lauter Frauen höchstens eine halbe Stunde aushalten, die Gespräche waren etwas einseitig. Ich habe mich dann immer zu den Männern gesetzt.

SB: Einseitig in welcher Beziehung?

IZ: Es ging zwar nicht nur um Kirche, aber doch um Kinder, Küche und Kosmetik. Ich könnte mich jetzt nicht an andere Themen entsinnen. Das war später in Offenbach und Frankfurt anders, da begannen sich schon die 68er auszuwirken. Natürlich waren auch vorher in Köln eine Reihe von Journalistinnen dabei oder Frauen von Journalisten, die eine eigene Karriere anstrebten und sich auch für etwas anderes interessierten, da konnte man es auch gut mit Frauen aushalten. Oder bei Lyrik-Abenden, wenn das Gespräch auf die eigenen Lieblingsgedichte kam. Da habe ich immer einen Test gemacht und Fragen eines lesenden Arbeiters eingeworfen, das ist ja wirklich eines der schönsten Gedichte von Brecht.


Ingrid und Gerhard Zwerenz - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

1975 auf einer Pressekonferenz in Bonn anläßlich des skandalumwitterten Zwerenz-Buches "Die Quadriga des Mischa Wolf"
Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

SB: Man hat nach Ihrer Flucht in die BRD 1957 versucht, Sie beide als Antikommunisten gegen die DDR zu instrumentalisieren. In Sklavensprache und Revolte und der Sächsischen Autobiographie hat sich Ihr Mann recht entschieden dagegen verwahrt, auf diese Weise vereinnahmt zu werden.

IZ: Richtig, richtig.

SB: Kann man sagen, daß er in seinem Urteil in den späteren Jahren radikaler geworden ist, oder anders, war er anfangs eher bereit, sich in der BRD zu arrangieren?

IZ: Nein, das hat er nicht lange durchgehalten. Selbst in Ärgernisse nicht oder in den frühen Gedichten bzw. den Galgenliedern vom Heute, die anonym herausgekommen sind und in die DDR verschickt wurden, wobei er ein einziges Mal mit dem Ostbüro der SPD zusammengearbeitet hat. Das war übrigens die Institution, die den armen Wolfgang Harich aus Unvorsichtigkeit und mangelnder Umsicht mit ins Zuchthaus gebracht hat. Der junge, ungestüme Feuerkopf Harich war in seiner Ahnungslosigkeit direkt zum Ostbüro der SPD gegangen, und dort saß natürlich ein Stasi-Spitzel. Sich auf diese Weise zu engagieren hat Gerhard vermieden, aber er hat in seiner Online-Serie im www.poetenladen.de sich mehr und mehr mit den frühen DDR-Jahren befaßt.

Selbst die ersten, schlimmsten Wutanfälle speziell gegen Ulbricht - "du bist eine graue, pfeifende Maus, die das Seil zernagt, das Seil, an dem ein Fallbeil hängt", hat er da geschrieben - hat er in den späteren Jahren revidiert und immerhin eine objektivere Ulbricht-Biographie herausgebracht. Wir haben ihn zwar immer noch nicht favorisiert, aber Ulbricht hat eine, wenn auch pervertierte Form der Arbeiterbewegung verkörpert, verglichen mit diesem entsetzlichen Ekelpaket Adenauer.

Lieber Himmel, wie haben wir noch in Dahme gesessen und gesagt, wir können doch nicht in einen Staat mit Adenauer an der Spitze fliehen. Das ist uns ungeheuer schwergefallen, aber es war nicht zu vermeiden. Deswegen wurde die Rückschau auf die DDR immer objektiver, auch weil uns gewissermaßen eine Menge Protagonisten zur Seite standen, die ihre ganze Existenz da hineingesteckt hatten, wie zum Beispiel Walter Janka oder auch Leo Bauer, der ein altgedienter Kommunist war und übrigens eine ungeheure Erziehungsarbeit geleistet hat. Die Stern-Redaktion bestand zum großen Teil aus ungeheuer höflichen und intelligenten, ehemaligen Offizieren, angefangen bei Henri Nannen, der im Krieg für Propaganda zuständig war. Leo Bauer hat die Redaktion dann nach und nach demokratisiert. Nannen hat gedacht, er könnte von sich aus die Wiedervereinigung Deutschlands anschieben und ist dann nach Moskau gereist; das Ganze blieb zwar glücklos, aber immerhin wurde viel Eis gebrochen. Es gab im Stern durchaus auch BRD-kritische Artikel. Da bedeutete es schon einen Rückfall, als Gerhard für die Zeitschrift eine Serie über Walter Ulbricht anfing mit der Überschrift "Des Kremls Kreatur". Der Titelvorschlag stammte übrigens von Herbert Wehner. Teilweise stimmte das natürlich, aber nach drei, vier Folgen hat Gerhard die Serie abgebrochen.

SB: Wieweit hat Ihr Mann seine kritische Haltung gegenüber der DDR nach '89 revidiert?

IZ: Die kritische Haltung gegenüber der BRD hat er natürlich viel länger beibehalten, während er hinsichtlich der DDR manches - vielleicht aus Gründen einer gewissen Altersmilde - mit größerer Geduld sah. Unbeugsam blieb er jedoch gegenüber seinen Hauptfeinden Siegfried Wagner und dem entsetzlichen Feldwebel Paul Fröhlich. Nicht zu verzeihen war vor allem, wie sie Ernst Bloch behandelt hatten. Nach seiner Emigration hätte er doch nicht gewußt, wo er in Westdeutschland einen Fuß in die Tür bekommt, da ihm dort keiner einen Lehrstuhl angeboten hätte. Ernst Bloch ging es so ähnlich wie Bertolt Brecht, der ums Totschlagen zuerst nicht in die DDR, sondern gerne nach Österreich oder eben in den Westen wollte, und sich erst für die DDR entschied, als er sein Berliner Ensemble kriegte, was er dann glücklicherweise in seinem Sinne nutzen konnte. Politischen Ärger hat sich Brecht dennoch immer wieder eingehandelt und zwar in Ost und West.

Der zweite Teil über das gemeinsame Leben und Arbeiten von Ingrid und Gerhard Zwerenz folgt.


Panorama des Ortsteils Oberreifenberg der Gemeinde Schmitten - Foto: © 2016 by Schattenblick

Oberreifenberg im Taunus vom Großen Feldberg aus
Foto: © 2016 by Schattenblick


27. September 2016


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