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ZEITZEUGEN LINKS/004: Quergedacht und schwergemacht - Mein Nachruf, Gerhard Zwerenz (Gerhard Zwerenz)


Gerhard Zwerenz

Mein Nachruf


Die ersten 32 Jahre hatte er alle Hände voll zu tun, sein Leben und seine kleine Freiheit zu verteidigen. Die zweiten 32 Jahre flüchtete er an den Schreibtisch, weil er sich 100 Bücher zu verfassen vorgenommen hatte. Mit 65 ging er in Rente, lehnte sich zurück und stellte erstaunt fest, er war alt geworden, ohne es zu merken. Also beschloss er, die zweiten 65 Jahre zu faulenzen. Nach einem Jahr Pause begann er seine eigenen Bücher zu lesen, und da es das erste Mal geschah, dass er sich las, lernte er sich besser kennen. Welch ein Glück, sprach er, ich bin begünstigt, denn ich überlebte meine 1000 Feinde. Dann zählte er die von ihm verursachten Skandale, um sie endgültig zu vergessen. Nicht ohne Rührung erinnerte er sich einiger guter Freunde und Frauen, dachte wohlinformiert und amüsiert an die Stunden, wenn Tochter Catharina daheim auf Besuch von ihren Reisen nach Frankreich, Spanien, Brasilien und in die Karibik berichtete.


Gerhard Zwerenz - Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Foto: © Privatfoto mit freundlicher Genehmigung Ingrid Zwerenz

Immer mal wieder trauerte er um drei Wellensittiche, drei Katzen und seinen Hund Lord Billy. Endlich las er, was seine Frau über ihn geschrieben hatte - nicht viel, aber mit herzlich feiner Ironie. Zu gütig, dachte er, beinahe gerührt, und dann erinnerte er sich messerscharf an seine ersten Lebensjahre, die er bei seiner Großmutter Anna verbracht hatte, die ihn so liebte und zur Sanftmut hin prägte, dass er, mit kaum sechs Jahren eingeschult, wehrlos den andern ausgeliefert war. Nun lernte er, seine Fäuste zu gebrauchen. Später gebrauchte er Gewehr, Maschinengewehr, Handgranate, bis er sich endgültig von allen Waffen und Waffennarren verabschiedete und stattdessen hinter seinem Schreibmaschinengewehr sitzend feuerte. Taten ändern die Welt nicht, Worte ändern die Welt nicht, vielleicht ist die Liebe die einzige Revolution, sagte er sich, und las nun seine erotischen Bücher, von denen behauptet wurde, sie seien pornographisch. Er lächelte bei dem Gedanken an die vielen unveröffentlichten Manuskripte, die er zu verbrennen gedachte, denn ihm schien, er sei mit jedem Buch unbekannter geworden, so dass eine Distanz entstand, hinter der er sich endlich ganz und gar verbergen konnte. So entlieh er sich vom Selbstmörder Tucholsky den Begriff "aufgehörter Schriftsteller", welches schöne Wort er in den nächsten amtlichen Fragebogen einsetzte.

Dermaßen gescheitert, schätzte er sich noch glücklicher als zuvor, und wenn ihn fürderhin eine Nachricht aus den ersten vergangenen 65 Lebensjahren erreichte, schlug er sie den Mythen zu und freute sich auf die nächste Rentenzahlung. Es kann somit nicht als gesichert gelten, dass dies ein Nachruf sei auf einen Verstorbenen. Mag sein, er lebt noch. Es bekümmert ihn so wenig wie der Schall und Rauch des ganzen Jahrhunderts, in das es ihn verschlug, weil seine Mama eigensinnig seine Abtreibung verweigert hatte. Da es ihm nicht vergönnt wurde, ungeboren zu bleiben oder früh zu sterben, wie der alte Grieche sagt, gefiel er sich darin, dem Zeitalter so lange wie möglich einen uninteressiert breiten Rücken zuzuwenden. Allerdings unterlaufen ihm manchmal gewisse Rückfälle. Da mischt er sich urplötzlich ein und schreit los. Zur Besinnung gekommen, schämt er sich und gelobt, schweigend weiter abzusterben, wie es sich gehört in bürgerlichen Vorhöllen.

Natürlich ist in Anbetracht der tatsächlichen Kräfteverhältnisse die Macht des Wortes lächerlich gering. Wenn ich dies ganz genau weiß und beinahe tödlich verspüre, als lähmende Schwermut, die die Glieder bleiern macht und den Kampfgeist matt, werfe ich mich mit dem Mut, den die Verzweiflung eingeben mag, aufs nächste Wort, es ganz scharf anzuspitzen, sein Umfeld taktisch abzusichern. Wollen doch mal sehen, ob die Großmächtigen wirklich so unverwundbar sind, wie sie sich geben.

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Quelle:
© by Ingrid Zwerenz
Mit freundlicher Genehmigung

Erstveröffentlichung im Schattenblick zum 7. Oktober 2016

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