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ZEITZEUGEN LINKS/012: Treu geblieben - internationale Solidarität ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Grafik: copy; 2016 by Schattenblick

An Schauplätzen antikolonialer Kriege

Gespräch mit Rolf Becker am 18. Oktober 2016 in Hamburg-St. Georg - Teil 6

Rolf Becker läßt uns im sechsten Teil des Gesprächs daran teilhaben, wie er sich zunehmend auch mit außenpolitischen Themen befaßt und vor Ort mit den jeweiligen Auseinandersetzungen und den davon betroffenen Menschen konfrontiert hat. Teils sind dies historische Ereignisse wie die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei, nicht zuletzt aber auch seinerzeit aktuelle Konflikte wie der Vietnamkrieg und das Nicaragua der Sandinisten.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick


Rolf Becker: Nochmals zum "Vor-Ort-sein": neben häufiger Teilnahme an betrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen ergaben sich für mich - teilweise durch TV-Produktionen - häufiger auch Herausforderungen durch außenpolitische Themen.

Beispiele: Antimilitarismus, nicht nur in der BRD: Arnold Wesker [1], "Chips with Everything", deutsch: "Bratkartoffeln Inbegriffen", eine schonungslose Abrechnung nicht nur mit dem soldatischen Gehorsam in der britischen Army, das "Fertigmachen" eines Arbeiterjungen, sondern grundsätzlich das Fertigmachen Jugendlicher zum Funktionieren in den bestehenden Gesellschaften der imperialistischen westlichen Welt.

Historienfilme, gedreht in der CSSR, heute Tschechien und Slowakei: Anlass, auch durch Gespräche mit dortigen Kolleginnen und Kollegen, zur Auseinandersetzung mit der Zeit der deutschen Besetzung unter Heydrich, dem Attentat auf ihn und der Konsequenz der bestialischen Liquidierung von Lidice 1942; das Kennenlernen des Ghettos Theresienstadt und des Gestapo-Gefängnisses Malá pevnost, der sogenannten "Kleinen Festung" auf der Ostseite der Eger, in dem schon Gavrilo Príncipe, der mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand Anlass für den Beginn des Ersten Weltkriegs gegeben hatte, ein qualvolles Ende erlitt; unter der SS-Lagerverwaltung waren es Tausende. Wir drehten eine Erschießung der Napoleon-Zeit an der Außenmauer der Festung, knapp 50 Meter vom Schießstand der SS entfernt, wo die backsteintief zerschossene Mauer Auskunft über die Verbrechen deutscher Faschisten gab. Am Widerstand Beteiligte berichteten über die Jahre der Illegalität, ihre Flucht in die Sowjetunion, ihre Rückkehr als Mitglieder tschechoslowakischer Militäreinheiten beim Kampf gegen die deutschen Truppen. Widersprüchlich und eigene Stellungnahme fordernd die Kommentare zu den Ereignissen des "Prager Frühlings" und zum Einmarsch der Truppen des "Warschauer Paktes".

1975 scheiterte mein Versuch, noch vor Kriegsende nach Vietnam zu gelangen. Die Air France flog zwar noch von Bangkok aus nach Saigon, aber nur um US-Militär und deren Familien zu evakuieren. Also wandte ich mich an Thai Airways, die mich - ohne Ausweiskontrolle, weil sie mich für einen Passagier der ausschließlich von amerikanischen Soldaten und ihren Angehörigen besetzten Maschine hielten - mitnahmen nach Nakhon Phanom, damals die größte US-Militärbase der Region, wo ich im waffenstarrenden Arsenal des Stützpunktes landete. Keiner nahm von mir Notiz, auch hier wurde ich offenbar als Angehöriger von US-Soldaten wahrgenommen. Das Problem, das umzäunte und stark bewachte Gelände zu verlassen, von dem noch ununterbrochen Einsätze nach Vietnam gestartet wurden, löste sich, weil mich die Besatzung des thailändischen Flugzeugs mitnahm in die nahegelegene alte Ortschaft, nach der die Base benannt war. Es war der 1. Mai 1975, der Tag des "Takeover", der militärischen Machtübernahme in Vietnam durch den Vietkong, der Niederlage der USA im Vietnamkrieg. Der Offizier, der neben mir im Flugzeug gesessen hatte, eine Zeitung mit der Titelzeile "Takeover" in der Hand, weinte, als er von seinen ums Leben gekommenen Kameraden sprach, verstand nicht, warum seine Regierung für den Fall einer Niederlage nicht vorgeplant und frühzeitig atomar eingegriffen hatte: "We could have bombed them". Dass das zum Krieg mit der Sowjetunion hätte führen können, kam ihm nicht in den Sinn. Was ihn bewegte, verstand ich besser, als ich viele Jahre später in Washington an der schwarzen Granitmauer des "Vietnam Veterans Memorial" mit den Namen der mehr als 58.000 Gefallenen, stand - überwiegend Jugendliche und ein Großteil Afroamerikaner aus allen Bundesstaaten der USA. Hier und da legten Menschen Blumen nieder, standen lange da, traurig vielleicht, vielleicht auch nachdenklich. Nachdenklich auch ich. Wie lang müsste eine solche Mauer für die bis zu 5 Millionen Toten in Vietnam sein. Die Mehrzahl der Parkbesucher wich auf Wege außerhalb der Gedenkstätte aus. Das Trauma des weinenden Offiziers, das Trauma von Völkern und Nationen. Die Zeitung des 1. Mai 1975 habe ich aufbewahrt.

Die Alternative meines Versuchs, nachdem mich ein Fährboot über den Mekong nach Laos gebracht hatte, mit Hilfe eines Motorradfahrers aus Thakhek nach Vietnam zu kommen, scheiterte nach etwa 40 Kilometern ebenfalls, als in der Ebene vor uns das Getacker von Maschinengewehren zunahm - Kämpfe, die wenige Wochen danach zur Machtübernahme der Pathet Lao führten. Abbruch der Südostasien-Reise. Weiter nach Australien, um die Witwe von August Thalheimer [2] in Wandiligong in den Blue Mountains zu besuchen, wohin sie, ihrem Sohn folgend, nach dem Tod ihres Mannes 1948 in Havanna gezogen war. Gespräche über ihre Zeit im kubanischen Exil, die von den Besatzungsmächten im Nachkriegsdeutschland verhinderte Rückkehr, Fragen nach Nachgelassenem. Aus Geldsorgen half mir eine kurzzeitige Beschäftigung als Hilfskraft bei den Air Flights in Alice Springs zur Versorgung von Aborigines in entlegenen Reservaten - Transport von Kranken und Verletzten, Medikamenten, selbstgefertigten Waren wie Bumerangs, Körben, Taschen, Musikinstrumenten (Didgeridoos); unerwartetes Kennenlernen der elenden Lebensbedingungen der Ureinwohner dieses Kontinents und ihrer Geschichte.

Nicaragua. 1978 im Sommer, während der Kämpfe der Sandinisten gegen die Somoza-Diktatur mein erster Besuch. Tagsüber nur vereinzelte Schießereien, das Leben in der nach dem schweren Erdbeben 1972 noch nicht wieder aufgebauten Stadt ging irgendwie weiter, unbefangene Gäste in den wenigen Gartenlokalen, leidlich geschützt vor Gewehrfeuer durch massive Mauern aus Felsgestein, wie in einer nur durch Naturereignisse bedrohten, sonst heilen Welt. Nachts, vor allem außerhalb der Stadt, nahmen die Gefechte zu - ich wohnte bei Carlos, dem Angestellten einer deutschen Firma, den ich in Hamburg kennengelernt hatte, an der Carretera del Sur, der Panamericana. Wir saßen am Abend bei Cola mit Rum (halb und halb), als es draußen lauter wurde. Frage an meinen Gastgeber: wozu denn jetzt Maschinenpistolen? Er hatte zwei davon samt Munition aus einer Kiste geholt. Auf wen denn schießen? Draußen inzwischen dunkle Nacht, wie zwischen Aufständischen und Somoza-Söldnern unterscheiden? Die schlichte Antwort: auf jeden, der sich dem Haus nähert. Meinen Einwand, wir müssten doch wissen, wer wer ist, wies er zurück: das sei pazifistische, keine Bürgerkriegslogik. Wer recht hatte, blieb unbeantwortet, statt von Angreifenden wurden wir von der Sonne geweckt.

Die Frage fand Antwort bei weiteren Reisen nach dem Sieg der Sandinisten in Nicaragua. Wir nahmen mit einer Solidaritätsgruppe der IG Medien beim NDR Kontakt auf zu "Radio Venceremos" in Leon, dem Sender, der den Befreiungskampf in Nicaragua mit seinen Informationen unterstützte, schickten Studiozubehör - Mischpult, Verstärker, Mikrophone, Kabel und Werkzeug; später einen kompletten Mittelwellensender, den wir in Hilversum günstig erwerben konnten, zusammen mit holländischen Kolleginnen und Kollegen abbauten, Teil für Teil beschrifteten und dann in einem Container per Schiff nach Nicaragua transportieren ließen. Das leistungsstarke Gerät konnte leider in Leon nicht mehr in Betrieb genommen werden - zum einen wären die Kosten dafür zu hoch gewesen, zu anderen schritt, technisch bedingt, die Umstellung auf die kleineren und billigeren UKW-Stationen rasch voran. Statt für die 70.000 DM, die durch Spenden der NDR-Beschäftigten zusammengekommen waren, wurde die Anlage für 10.000 US-Dollar von den "Nicas" nach Peru verkauft, Radio Venceremos bald darauf privatisiert und als kommerzielle Einrichtung weitergeführt. Ein lehrreicher Rückschlag für die mehrjährige Solidaritätsarbeit, die von denen, die nicht resignierten, weitergeführt wurde. Meine Frau arbeitete mit am Aufbau einer Schule in Masaya.

Ursache für den geschilderten Verlauf war der von den USA unterstützte Contra-Krieg gegen die sandinistische Regierung Nicaraguas, vor allem von Stützpunkten der Nachbarländer Honduras und El Salvador. Die Anschläge gegen die öffentliche und wirtschaftliche Infrastruktur häuften sich, Öl-Depots und Pipelines wurden gesprengt, Getreidesilos, Bewässerungsanlagen, Straßen, Brücken, landwirtschaftliche Betriebe und Transportfahrzeuge zerstört, die wenigen Häfen des Landes vermint, um jeglichen Außenhandel zu unterbinden. Als ich, weil die Straßen in den Nordosten von den Contras blockiert oder vermint waren, das Flugzeug von Bluefields nach Puerto Cabezas (auch Bilwi genannt) nahm, stieg die Maschine mehrere tausend Meter spiralförmig auf, um für Beschuss vom Boden aus nicht erreichbar zu sein, und landete in gleicher Weise. Eine amerikanische Solidaritätsgruppe, bestens ausgerüstet und von Fachkräften angeleitet war mit dem Bau einer sozialen Einrichtung beschäftigt. Ich arbeitete einige Tage mit, lernte nicht nur handwerklich, sondern politisch - traten doch die Mitglieder dieser Gruppe mit ihrem Einsatz der Politik ihrer Regierung offen entgegen, erwarben sich dadurch bei der Bevölkerung Anerkennung und Ansehen, machten durch ihr Verhalten klar, dass es, ebenso wenig wie die Deutschen, die Amerikaner gibt, sondern solche und solche, die da oben, die hier unten.

Contra-Truppen ermordeten im Laufe des Konflikts zehntausende unbeteiligter Zivilisten, darunter auch Mitglieder europäischer Solidaritätsgruppen. Betroffen standen wir 1987 in Matagalpa am Grab von Berndt Koberstein [3], der zusammen mit anderen Internationalisten im Jahr zuvor von den Contras umgebracht worden war. Kommentar der FAZ vom 31.7.86 auf der Titelseite: "Das westdeutsche Nikaragua-Milieu, das unentwegt derartigen Hilfswillen stimuliert und organisiert, ist ebenso beteiligt am Tod dieses jungen Mannes. Es gibt keine rechtlichen Mittel, die erlaubten, den 'Komitees' und 'Freundeskreisen' das Handwerk zu legen. Sie werden mit ihrer Indoktrination fortfahren, und noch andere als Koberstein werden unnötigerweise Leben oder Gesundheit einbüßen. Mit Abscheu ist auf solches Tun zu reagieren; von 'Betroffenheit' kann keine Rede sein." Die USA, im gleichen Jahr vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag für ihre Beteiligung am Contra-Krieg zur Einstellung der Gewalt aufgefordert und zur Zahlung von Reparationen an Nicaragua verpflichtet, erkannten das Urteil nicht an. Auch der Skandal des sogenannten "Iran Gate" - Einnahmen aus geheimen Waffenverkäufen an den Iran waren von der Reagan-Regierung an die Contras weitergeleitet worden - blieb letztlich folgenlos.

Die Härte des angeblichen Bürgerkriegs, der in Wahrheit ein Krieg zur Wiederherstellung kolonialer Verhältnisse des sandinistisch geführten Landes war, bekamen wir in Nueva Guinea zu spüren. Die Anfahrt durch die von Contras besetzte Zone, nachdem wir von der umkämpften Straße nach Rama abgebogen waren, verlief wider Erwarten ohne Zwischenfall, das Aushändigen von Waffen an einige in der Gruppe erwies sich als unnötig. Ich begleitete einen Hamburger Maschinenschlosser, der mit seiner Frau unterwegs war, um in einer von Kollegen eingerichteten Werkstatt am Rande des Ortes mitzuarbeiten. Unsere Ankunft wurde überschattet durch den Tod von mehr als zehn Waldarbeiten, die wenige Stunden vor unserem Eintreffen beim Baumfällen erschossen worden waren, darunter ein etwa 15jähriger Junge, bei dessen Familie sich einige Nachbarn zur Totenwache eingefunden hatten. Unsere Nächte vor Ort waren unruhig, einer hielt Wache. Die Notwendigkeit der Bewaffnung wurde widerwillig, aber diskussionslos akzeptiert. Die Frage wer-ist-wer, wer Freund, wer Feind, stellte sich, anders als neun Jahre zuvor, nicht mehr.

Mit der Niederlage der Sandinisten endete die gewerkschaftliche Solidaritätsarbeit, nur wenige Kontakte ins heutige Nicaragua blieben. Unvergessen aber der Satz des Hamburger Kollegen, dem ich die Erfahrungen in Nueva Guinea verdanke: Menschen vergessen nicht alles, auch Völker nicht: erfahrene Solidarität - kaum. Und ein Lied von Carlos Mejía Godoy [4], das ich heute noch gelegentlich summe: "Oh nicaragua nicaraguita".

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] Arnold Wesker (1932-2016) war ein britischer Schriftsteller, der insbesondere als Dramatiker bekannt wurde. Neben Lyrik, Kurzgeschichten und Essays schrieb er 50 Bühnenstücke, die in 20 Sprachen übersetzt und weltweit aufgeführt wurden.

[2] August Thalheimer (1884-1948) war ein deutscher kommunistischer Politiker und Theoretiker. Er emigrierte 1933 zuerst nach Straßburg, dann nach Paris. Bei Kriegsbeginn wurde er in Frankreich interniert. 1941 gelang ihm mit seiner Familie die Ausreise nach Kuba. In Havanna arbeitete er unter sehr schwierigen materiellen Bedingungen an philosophischen und politischen Problemen des Marxismus.

[3] Berndt Koberstein (1956-1986) war ein deutscher Gewerkschafter und Kommunist. Er wurde 1986 während der Durchführung eines humanitären Hilfsprojekts in Nicaragua zusammen mit zwei weiteren Aufbauhelfern und drei Nicaraguanern von Mitgliedern der rechtsgerichteten Contras aus dem Hinterhalt erschossen.

[4] Der Liedermacher Carlos Mejía Godoy (geb. 1943) gehört zusammen mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Luis Enrique Mejía Godoy zu den bekanntesten Komponisten und Sängern Nicaraguas. Die Brüder spielten in der Bewegung des neuen Liedes, die in Zentralamerika in den 1970er Jahren begann, eine maßgebliche Rolle. Carlos Mejía Godoy widmete viele seiner Werke den Arbeitern und Revolutionären, seine Hymne der sandinistischen Einigkeit ist die offizielle Hymne der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN).


16. März 2017


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