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ZEITZEUGEN LINKS/019: Treu geblieben - dem Unrecht wehren ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Grafik: copy; 2016 by Schattenblick

Gespräch mit Rolf Becker am 18. Oktober 2016 in Hamburg-St. Georg - Teil 10

Im zehnten Teil des Gesprächs leuchtet Rolf Becker die Bemühungen aus, eine Haftentlassung Christian Klars anzubahnen, zunächst gemeinsam mit Günter Gaus, dann mit Claus Peymann und dem Berliner Ensemble. Diesen Initiativen werden von hoher und höchster politischer Ebene Steine in den Weg gelegt.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick


Rolf Becker: "Bitte entlassen Sie Christian Klar in die Freiheit" - so lautete der letzte Satz des letzten Briefes von Günter Gaus an Bundespräsident Johannes Rau [1] Anfang Februar 2004, als er das vereinbarte Gespräch darüber wegen seiner schweren Erkrankung und der entsprechend notwendigen Operation absagen musste. Drei Monate später musste ich Christian mitteilen, dass Günter Gaus gestorben war. Seine Tochter Bettina dazu im Nachwort zu den Erinnerungen ihres Vaters: "Seinen diskreten Bemühungen um eine Begnadigung des Gefangenen blieb der Erfolg versagt. Das hat er nicht mehr erleben müssen. Es war uns, seiner Familie, vergönnt, ihm an seinem Todestag - an dem er sich zum letzten Mal nach dem Stand der Dinge erkundigte - wahrheitsgemäß zu sagen, die Angelegenheit sei noch nicht entschieden (...) Ungeschrieben bleibt auch das letzte Kapitel seiner Erinnerungen. Es sollte die Überschrift tragen: 'Klar'. Noch einmal widerfuhr meinem Vater im Dezember 2001, was ihm im Laufe seines Lebens so oft widerfahren ist: Er interessierte sich für ein Thema, er sah eine berufliche Herausforderung - und er fand einen Menschen."

Nach seinem Interview zweieinhalb Jahre zuvor, das dem Gefangenen - wie durch einen Riss in den Mauern des festungsähnlichen Baus - Gesicht, Stimme und Ausdruck in einer durch entsprechende Pressemeldungen voreingenommenen Öffentlichkeit zurückgab, hatte Günter Gaus den Gefangenen noch mehrmals besucht. Dass er das TV-Gespräch überhaupt führte, war bereits Ausdruck seiner wiederholt geäußerten Ansicht, Strafe dürfe nicht in Rache umschlagen; die Fortdauer der Haft sei nicht mehr zu rechtfertigen, da von dem Inhaftierten keine Gefahr mehr ausgehe - und davon blieb er überzeugt, tief berührt von diesem ersten Gespräch, dem Eindruck, den er von dem durch Haftdauer und Haftbedingungen gezeichneten Gefangenen hatte. Mit Brecht: "er trägt Menschenantlitz wie wir".

Günter Gaus beließ es nicht bei seiner Wahrnehmung. Einsichten, die er gewann, führten zu Konsequenzen. Er ging vor seinen weiteren Besuchen in Bruchsal nicht nur auf unsere Bitte um Kontaktaufnahme ein, sondern bezog, um ein differenziertes Bild von der RAF bemüht, den drei Jahre zuvor freigelassenen Gefangenen Helmut Pohl [2] in unsere Gespräche ein. Er lehnte es ab, Vergünstigungen, die ihm zugestanden hätten, bei seinen Besuchen in der JVA wahrzunehmen, gab wie jeder andere Besucher seinen Pass oder Ausweis ab, legte alles, was er mit sich führte - Geld, Schlüssel, Uhr, Ehering, auch Schreibzeug (falls gewünscht, wurde einem ein Blatt Papier und ein Bleistift von der Aufsicht ausgehändigt) in ein nummeriertes Fach, gab den Schlüssel ab, ließ sich abtasten oder scannen, zog die Schuhe fürs Durchleuchten aus, setzte sich in den Warteraum zu anderen Besuchern, wartete, bis ein Wärter ihn irgendwann aufrief und in eine der Besucherzellen führte. Begründung: "Ich wäre ein schlechter Journalist und vor mir selber unglaubwürdig, wenn ich mich nicht allem unterziehen würde, was ein normaler Besucher auch erleidet." Beim letzten Besuch, in der Hitze des Hochsommers 2003, gesteigert noch durch das aufgeheizte Mauerwerk, fand der Gefangene "unzumutbar", was sich sein Besucher abverlangte.

Dass Johannes Rau sich nicht entschließen konnte der Bitte von Günter Gaus zu entsprechen und Christian freizulassen, hatte seinen Grund in einer Erklärung, mit der er sich auf einer Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag des "deutschen Herbstes" am 18. Oktober 2002 festgelegt hatte: "Ich weiß mich in der Tradition der bisherigen Bundespräsidenten, dass es einen generellen Gnadenerweis für den gesamten RAF-Täterkreis nicht geben kann. Das folgt aus dem Wesen des Gnadenrechts. Ein Gnadenerweis ist etwas höchst Persönliches, er ergeht auf Grund eines Gesuchs und in Ansehung einer einzelnen Person, die gefehlt hat, die glaubhaft Einsicht und Reue zeigt, die sich mit ihren Taten auseinander gesetzt hat und mit dem, was sie den Familien der Opfer angetan hat. Ganz grundsätzlich sind Gesichtspunkte der Menschlichkeit abzuwägen gegen das Prinzip von Schuld und Sühne, gegenüber allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen und dem, was eine Begnadigung für die Angehörigen der Opfer bedeutet."

Anders Günter Gaus: warum und in welchem Sinn er sich für den Gnadenerlass einsetzte, hatte er uns bei unserem ersten Treffen erläutert, als wir uns über die unterschiedlichen Gründe für unseren, wie er es nannte, "gemeinsamen Versuch" verständigten - fast wörtlich so, wie er es in seinen Erinnerungen im Zusammenhang des von ihm geprägten Begriffs von der "Gnade der späten Geburt" dargelegt hat: "Wäre ich nicht 1929 geboren worden, sondern zehn Jahre früher - wie hätte ich mich denn verhalten als Scherge in Bergen-Belsen? Oder, dieses Entsetzen drang etwas später in mein Bewusstsein, an der Rampe in Auschwitz? Könnte ich meine Hand für mich ins Feuer legen? Helmuth Kohl übrigens, hat das Wort von der Gnade der späten Geburt in einer Rede in Israel Anfang 1984 benutzt, als sei es von ihm (...): nicht nur entlehnt, sondern auch falsch verstanden und als Text eines Ablasszettels missbraucht. Statt dessen sollte sie (die Metapher) in streng lutherischem Sinne eine Gnade bezeichnen, die keine Schuld tilgt, nicht erworben werden kann, sondern unverdient gewährt wird."

Um Christian regelmäßig und ohne Anrechnung der Besuchszeiten besuchen zu können, hatte ich, nachdem uns als Gruppe diese Möglichkeit versagt wurde, den Vorschlag des Justizministeriums, die "ehrenamtliche Betreuung" zu übernehmen, zunächst akzeptiert, trat aber schon drei Jahre darauf von der Vereinbarung zurück. Die Gründe: 1. Wir hatten nach dem Angebot von Geschäftsführung und Betriebsrat (Claus Peymann [3], Intendant, und Dirk Meinelt, Betriebsratsvorsitzender) Christian als "Freigänger" am Berliner Ensemble zu beschäftigen, im Herbst 2004 seine Verlegung nach Berlin beantragt. Im Dezember fand zu diesem Zweck in der JVA Bruchsal eine "Vollzugskonferenz" statt. Sinn der Konferenz war, so wurde erklärt, "aufgrund der Auskünfte der für den Strafvollzug des Gefangenen Zuständigen Empfehlungen für seine weitere Haftzeit zu geben - ob Hafterleichterungen, Ausführungen, Freigang gewährt werden können, oder nicht." Entscheidendes Thema der Konferenz wurden die vom BE vorliegenden Briefe mit der in Aussicht gestellten Beschäftigungs- oder Ausbildungsmöglichkeit. Die Initiative des BE sei für den Gefangenen eine Chance, die Haftzeit mit einer Berufsausbildung abzuschließen. Die Erklärung des Betriebsrates und sein Antrag, den Gefangenen besuchen zu dürfen, wurden als Grundlage gewertet, um Voraussetzungen für ein vorurteilsfreies Miteinander unter den Kolleginnen und Kollegen am künftigen Arbeitsplatz zu schaffen. Dabei wurde auf die Zuverlässigkeit und die Sorgfalt der Arbeit von Christian in der JVA und sein kollegialer Umgang mit anderen Inhaftierten hingewiesen. Das Angebot des BE sei deshalb zu befürworten.

Unsere Annahme einen Ausweg gefunden zu haben, nachdem Christians Freilassung von Bundespräsident Rau nicht mehr zu erwarten war, erwies sich als Illusion. Wir hatten nicht mit der Unnachgiebigkeit des Baden-Württembergischen Justizministers Prof. Dr. Ulrich Goll [4] und dem bürokratischen Hin und Her ministerialer Zuständigkeiten gerechnet. Goll verlangte vom Berliner Justizministerium die Zusicherung Christian nach Berlin zu übernehmen als Voraussetzung für seine Entscheidung, die Berliner verlangten von ihm vorausgehende Vollzugslockerungen, die er verweigerte.

Dazu aus meinem Brief an ihn vom 19. Januar 2006, den ich Bundespräsident Horst Köhler [5] als Nachfolger des inzwischen verstorbenen Johannes Rau zur Kenntnis gab: "In Konsequenz der Tatsache, dass 'Vollzugslockerungen', wie Sie schreiben, 'zeitlich nicht in greifbarer Nähe' sind, sehe ich mich veranlasst, meine Funktion als ehrenamtlicher Betreuer des Gefangenen Christian Klar niederzulegen. (...) Das Ergebnis der Vollzugskonferenz, das Ihnen vorliegt, befürwortet die 'Aufhebung sämtlicher besonderer Sicherungs-, Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen gegen den Gefangenen sowie die Gewährung von Ausführungen ohne besondere Sicherungsmaßnahmen'. (...) Der Zustand heute, mehr als ein Jahr nach der Konferenz, stellt sich mir dar, als habe die Konferenz nicht stattgefunden, schlimmer noch: als sei die Enttäuschung des Gefangenen über die zerstörte Hoffnung auf schrittweise Rückkehr in Arbeit und Leben, wenn nicht einkalkuliert, so doch als zusätzliche Konsequenz seiner Verurteilung für zumutbar gehalten worden. (...)

Bis zum Sommer 2005 bestand ausreichend Gelegenheit, Vollzugslockerungen einzuleiten, die die Verlegung von Christian Klar nach Berlin ermöglicht hätten. So schiebt es einer auf den anderen: die Berliner Justizverwaltung begründet die Ablehnung der Übernahme des Gefangenen mit der nicht erfolgten Erprobung im gelockerten Vollzug, und Sie verweisen in ihrem Schreiben darauf, 'dass die Berliner Justizverwaltung einer Übernahme von Herrn Klar in den dortigen Geschäftsbereich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zugestimmt hat.' Damit sei 'außer der Bereitschaft des Berliner Ensembles keine Rahmenbedingung gegeben, die die gewünschte Ausbildung ermöglichen könnte.'

Wer soll das nachvollziehen angesichts einer mittlerweile mehr als 23 Jahre dauernden Haft? Unseren Kolleginnen und Kollegen in Betrieben und Gewerkschaften dürfte das kaum noch vermittelbar sein. 'Der Vollzug ist darauf auszurichten, dass er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern' - heißt es im Strafvollzugsgesetz. Sie werden Ihre Entscheidungen vermutlich mit ebenfalls Gesetz gewordenen Einschränkungen dieses Grundsatzes begründen. Der bekannte Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit.

Oder ist eben doch zutreffend, was seitens der Justiz immer bestritten wird: dass bei Christian Klar und den anderen noch Inhaftierten der ehemaligen RAF ihre Einstufung als politische Gefangene unausgesprochener Maßstab des Strafvollzugs ist? 26 Jahre Haft hat das OLG Stuttgart als Mindesthaftdauer für Christian Klar festgelegt. Eine Überprüfung dieser Entscheidung aufgrund der Selbstauflösung der RAF und der wiederholten Erklärung von Christian Klar, eine Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes sei für ihn undenkbar (u.a. Süddeutsche Zeitung, 25.04.1997), hat es nicht gegeben. Aber warum können diese Tatsachen nicht zugrunde gelegt werden, um jedenfalls die drei Jahre vor Haftende üblichen Vollzugslockerungen einzuleiten? Unbeantwortete Fragen, angesichts derer ich für meine Tätigkeit als Betreuer keine Grundlage mehr sehe. 'Vollzugshelfer', wie es in der mit Ihrem Ministerium geschlossenen Vereinbarung heißt, kann und will ich unter diesen Bedingungen nicht mehr sein.

Das Angebot des Berliner Ensembles war geeignet, Christian Klar in diesem Sinn eine konkrete Perspektive zu geben. Sie ist durch die Entscheidungen Ihres Ministeriums und der Berliner Justizverwaltung zunichte gemacht worden. Es sei 'außer der Bereitschaft des Berliner Ensembles keine Rahmenbedingung gegeben, die die gewünschte Ausbildung ermöglichen könnte', lassen Sie mir mitteilen. Wie soll ich das als 'Betreuer' dem Gefangenen vermitteln? Wie den Kolleginnen und Kollegen des Berliner Ensembles und wie in der Gewerkschaft?

Nicht einmal die vom Betriebsrat und mir beantragte Reise zu seinen künftigen Kollegen haben Sie Christian Klar bewilligt: 'Ein von Ihnen begleiteter Besuch von Herrn Klar beim Berliner Ensemble steht daher derzeit nicht an', heißt es lapidar in Ihrem Schreiben. Zusammengefasst: Der Rücktritt von meiner Verpflichtung als Betreuer von Christian Klar ergibt sich notwendig aus der Unmöglichkeit, sie unter den von Ihrem Ministerium gesetzten Rahmenbedingungen wahrzunehmen. Und Christian Klar? 'Die Jahre, die laufen ja so durch', hat er vor mehr als 5 Jahren wie zusammenhanglos während unseres ersten Gespräches gesagt. Schon damals für jemand von draußen nicht nachvollziehbar, wie viel weniger heute."

Und an Christian schrieb ich dazu am 1. März 2008: "Zu dem, was jetzt mit Dir geschieht. Über Goll. Der mit seinen Entscheidungen noch weit über alles hinausgeht, was Inhalt der bisherigen Kampagnen war.

Bei Goll kommt etwas hinzu, was nur ihm zuschreibbar ist. Undenkbar, dass er glaubt, was er zur Begründung seiner Amtshandlungen Dir gegenüber öffentlich vorträgt. Erst die Verhinderung des Wechsels nach Berlin mit der abstrusen Behauptung, Du könntest das BE als Sprachrohr benutzen. Jetzt die Konstruktion der 'Fluchtgefahr' (wegen 6 Monaten zusätzlicher Haft, über die noch nicht entschieden ist) nach bald 26 Jahren Eingesperrt sein - das ist nicht verlogen, dahinter verbirgt sich eine Motivation, die über das Klasseninteresse der Vernichtung politischer Gegner hinausweist und allenfalls in Golls psychischen und daraus resultierenden Denk-Strukturen geortet werden kann (ein unzureichender Hinweis ergibt sich aus seinem studentischen Mittun in der schlagenden Verbindung Corps Hubertia Freiburg).

Du weißt, wie fern es mir liegt, Einzelnen anzulasten, was Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Aber auf Goll sollte besonders hingewiesen werden, um zu verhindern, dass sein Vorgehen Maßstab werden kann.

Und: das Schweigen derer, die sehr wohl wissen, um was es geht, aber das Maul halten, muss gebrochen werden. Es sind viele. Angst vor Konsequenzen angesichts weiterer Verschärfung der Gegensätze zwischen oben und unten ist sicher ein Motiv, aber ein anderes ist, wie Brecht sagt, dass sie sich Auseinandersetzungen nicht als Köpfe, sondern als Bäuche stellen. Deutlicher, auch Brecht: 'Die Kunst der Speichelleckerei gehört übrigens zu den wenigen nicht brotlosen Künsten. Die Speichelleckerei nährt ihren Mann'. Ich hoffe, es geht Dir leidlich gut, auch angesichts des wechselhaften Wetters dieser Übergangszeit."

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:


[1] Johannes Rau (1931-2006) war als SPD-Politiker von 1999 bis 2004 der achte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

[2] Helmut Pohl (1943-2014) gehörte der zweiten Generation der Rote Armee Fraktion (RAF) an. 1984 wurde er zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, 1998 nach einem Schlaganfall begnadigt.

[3] Claus Peymann (geb. 1937) ist ein deutscher Theaterregisseur und war bis zum 2. Juli 2017 Intendant, künstlerischer Leiter, Geschäftsführer und Alleingesellschafter des Berliner Ensembles (Berliner Ensemble GmbH).

[4] Ulrich Goll (geb. 1950) ist ein deutscher Politiker der FDP und ehemaliger Justizminister von Baden-Württemberg (1996-2002 und 2004-2011).

[5] Horst Köhler (geb. 1943) war von 2000 bis 2004 Direktor des IWF und als CDU-Politiker von 2004 bis zu seinem Rücktritt am 31. Mai 2010 Bundespräsident.


6. Juli 2017


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