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ZEITZEUGEN LINKS/021: Treu geblieben - bei Mumia Abu-Jamal ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Grafik: © 2016 by Schattenblick


Gespräch mit Rolf Becker am 18. Oktober 2016 in Hamburg-St. Georg - Teil 12

Nachdem sich Rolf Becker in Deutschland für die Freilassung Mumia Abu-Jamals eingesetzt hat, bekommt er im September 2009 Gelegenheit, ihn im Todestrakt zu besuchen. Im zwölften Teil des Gesprächs schildert er seine Eindrücke und berichtet des weiteren über einen Vorfall, der das Verhältnis Mumias zu seinem damaligen Anwalt Robert Bryan und anderen Unterstützern nachhaltig in Mitleidenschaft ziehen sollte.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Du hast ja schon angesprochen, dass du dich mehrere Jahre für Mumia Abu-Jamal [1] eingesetzt und ihn auch einmal im Gefängnis besucht hast. Wie ist es dir gelungen, ihm persönlich zu begegnen?

Rolf Becker (RB): Zunächst beschäftigte unseren gewerkschaftlichen "Arbeitskreis für politische Gefangene" unabhängig von Mumia die Frage der Unverhältnismäßigkeit verurteilter afroamerikanischer zu weißen Gefangenen in den USA. Dann kam am 4. Juli 1982 das Todesurteil gegen Mumia, und Jürgen Heiser [2], der heute nach wie vor seine Artikel übersetzt und über ihn schreibt, baute Anfang der 90er Jahre in Bremen ein internationales Komitee auf, das sich für die Revision und die Freilassung Mumias einsetzte. 1995 schien die Hinrichtung Mumias nur noch eine Frage von Tagen zu sein. Berufungsanträge seiner Verteidigung und internationale Proteste konnten sie verhindern. Wir nahmen mit Jürgen Kontakt auf, und, vermittelt durch ihn, zu Mumias damaligem, inzwischen verstorbenen Verteidiger Leonard Weinglass [3], der nicht nur von Mumias Unschuld überzeugt war, sondern zugleich ein entschiedener Kritiker des amerikanischen Gefängnissystems, des Rassismus in den USA und der amerikanischen Politik.

Nach dem Bruch Mumias mit Weinglass wegen einer nicht abgesprochenen Publikation übernahm Robert Bryan [4] die Verteidigung, der seinem Vorgänger in der Art des Herangehens nicht nachstand und durch Veranstaltungen in vielen Ländern, vor allem in Frankreich und in Deutschland dazu beitrug, dass die Bewegung für die Aufhebung des Todesurteils ständig anwuchs.

2004 verlieh die Erich-Mühsam-Gesellschaft Mumia den Erich-Mühsam-Preis. Ich durfte die Laudatio halten und - symbolisch - den Preis für ihn entgegennehmen. Auf weiteren Veranstaltungen trat ich mehrmals zusammen mit Robert Bryan auf, der schließlich die Formalien für meinen Besuch im SCI-Greene, Waynesburg, Pennsylvania klärte.

Am 5. September 2009 traf ich mich mit Robert und seiner Frau Nicole, die aus San Francisco angereist waren, in Waynesburg, einer Kleinstadt südlich von Pittsburgh in Pennsylvania, wo Mumia damals noch im Todestrakt war. "Betrachte es wie eine militärische Anlage", meinte Robert R. Bryan. Vom Motel aus, wenige hundert Meter entfernt auf einer Anhöhe gelegen, blickten wir auf die beiden Teile der Anstalt, die Trakte des Normalvollzugs, und innerhalb dieser Anlage der Todestrakt, in dem sich Mumia befand - nah und gleichzeitig unerreichbar fern. Das ganze gesichert mit vielfach übereinander gestapelten Rollen von NATO-Draht, weithin glänzend in der Herbstsonne. Der Todesstreifen mit den Warnmeldeanlagen. Dann wieder NATO-Drahtrollen. Absolutes Fotografier-Verbot.

Der Zutritt am nächsten Morgen verlief problemlos, weil die Anmeldung vorlag und mich der Anwalt begleitete. Das übliche, mir aus deutschen Gefängnissen vertraute Prozedere des Ablegens aller Tascheninhalte und Scannens. Ausnahme: als ich auch meinen Pass abgab, erklärte mir der Wärter, ein Afroamerikaner: "Sir, wir nehmen Ihnen alles, aber nicht Ihre Identität."

Unvergesslich der Weg in den Todestrakt: endlos anmutende Gänge, weiß getüncht wie in einem Klinikum, nicht einer Klinik, in der geheilt wird, sondern in der Menschen über Jahre in Käfigen am Leben gehalten und irgendwann getötet werden. Am Ende des Ganges der Teil des Todestrakts, in dem die Besuchszellen sind. In einer davon ein Gefangener, zusammengesunken wartend, unseren Gruß kopfnickend erwidernd.

Endlich: Mumia, Häftlingsnummer AM 8335. Der erste Blick auf ihn - ein Schock: Mumia im orangeroten Overall. Guantánamo, Folterbilder von den Gefangenen, die in solchen Overalls durch die vergitterten Höfe geschleppt werden. Er wartete bereits auf uns hinter der Trennscheibe des winzigen Besucherraums. Kein Fenster, Neonbeleuchtung, Wände und Decke schlohweiß gestrichen, auch hier alles klinisch sauber. Der Raum sei nur wenig größer als seine Zelle, erklärte uns Mumia, insgesamt etwa zwei mal drei Meter. Keine Gegensprechanlage, die Stahleinfassung der Panzerglasscheibe versehen mit stecknadelkleinen Löchern, durch die gebrochen der Schall drang. Psychodruck, nicht nur für den Gefangenen, auch für den Besucher. Einzige Möglichkeit spürbaren Kontaktes: beiderseitiges Trommeln mit den Fäusten gegen die trennende, aber vibrierende Scheibe - die größtmöglich herstellbare Nähe. Fragen nach seiner gesundheitlichen Verfassung unter den Bedingungen der Haft. Er betont, dass er viel dafür tut, aber auch: Das reicht nicht, wenn du nicht durchschaust, was läuft, wenn du vergisst, worum es geht. Es gehe nicht um ihn, es seien Hunderte, die vor der Frage stehen, ob ihnen morgen oder in vier Wochen oder in zwei Jahren die tödlichen Spritzen verabreicht werden. Eine Bestialität, wie Camus gesagt hat, zu der selbst die brutalste Einzelpersönlichkeit nicht in der Lage wäre. Müsste in einer menschlichen Gesellschaft, was er durchlitten hat, nicht Anlass sein, ihn freizulassen? Mumia beantwortet meine Frage mit dem einfachen Satz: "It's a question of your mind." Du musst durchschauen, warum das so läuft, musst politisch dafür arbeiten, dass sich das ändert. Wir leben in einer Klassengesellschaft, der Rassismus dient der Herrschaftssicherung. Entsprechend begreift er sich bis heute als Vertreter der Afroamerikaner, die, an ihrem Bevölkerungsanteil gemessen, einen extrem hohen Prozentsatz in den Gefängnissen und auch in den Todestrakten stellen, als Vertreter all jener, die noch nach Recht und Unrecht, nach arm und reich fragen, nach oben und unten. Die in den Todestrakten seien eine Auslese derer, die die unterste Schicht der US-Bevölkerung stellen.

Das weitere Gespräch mit Mumia war belastet, weil Robert Bryan wenige Wochen zuvor ein Interview mit Cordula Meyer [5] vom Spiegel angebahnt hatte. Er hatte gehofft, den Spiegel für sein Anliegen gewinnen zu können, aber nicht damit gerechnet, dass der Spiegel nicht nur Mumia als zu Recht Verurteilten darstellen, sondern die Witwe des Polizisten zur leidenden Heldin, die reaktionäre Polizeigewerkschaft in den Himmel heben und die deutschen Intellektuellen, die sich für Mumia einsetzten, denunzieren würde.

Da das Interview kurz zuvor erschienen war, fragte Mumia natürlich Robert Bryan, was er denn da angezettelt habe: er habe ihm doch versichert, das Interview werde ein Signal für die Europäer, sich für seine Freilassung einzusetzen, aber das Gegenteil sei jetzt die Folge. Robert Bryan bemühte sich zu erklären, dass er sich guten Glaubens für das Interview eingesetzt habe, aber getäuscht worden sei. Höflich-kühler Abschied nach langem Hin und Her.

Ein Vierteljahr später hat sich Mumia dann von Robert Bryan getrennt. Ich halte das bis heute für einen Fehler, weil Bryan nicht unehrlich war. Er hat sich leider täuschen lassen von dieser Dame, die 2009 Auslandskorrespondentin des Spiegels in Washington war. Mumia hatte ja im Gespräch mit ihr auch einen positiven Eindruck gehabt und nicht geahnt, dass sie mit ihrem Artikel ihn und die gesamte weltweite Bewegung denunziert.

SB: Eine Gegendarstellung aus rechtlichen Gründen wäre nicht möglich gewesen?

RB: Zusammen mit dem Hamburger Medienanwalt Helmut Jipp habe ich nach meiner Rückkehr gegen den Spiegel zu prozessieren versucht, der jedoch bis auf einen Punkt in allem Recht bekam - "freie Meinungsäußerung..." Nachdem unser Versuch gescheitert war, eine Gegendarstellung zu erwirken, bin ich rauf zum stellvertretenden Chefredakteur des Spiegel mit dem Vorschlag eine Stellungnahme von Robert Bryan zu veröffentlichen. Vergeblich - ich wurde von ihm äußerst freundlich zum Verlassen des Gebäudes aufgefordert - einem Mann, für den ich ein Jahr zuvor noch eine Lesung aus seinem Buch über seine Familienangehörigen, die unter der NS-Justiz gelitten hatten, gemacht hatte. Wenn sie aufsteigen - aus.

Das war leider mein einziger Besuch bei Mumia. Dass es bislang zu keinem weiteren gekommen ist, liegt daran, dass Mumia Jürgen Heiser und mir übelnahm, dass wir uns nicht wie er von Robert Bryan getrennt haben. Ich habe Mumia seitdem mehrfach geschrieben, ihm auch meine Artikel in der Gewerkschaftszeitung "Publik" und in Ossietzky" geschickt. Er weiß um unsere Solidarität, erwartet aber noch immer, dass auch wir mit Robert Bryan brechen. 2013, als ich beruflich in den USA war, hat er mir auf meine Anfrage immerhin geantwortet, er habe leider keinen Besuchstermin mehr frei.

SB: Das ist sicher auch schwer, wenn jemand in dieser Situation sitzt, über alles selber befinden muss und natürlich auch die ganze Zeit in seinen Reflexionen auf sich selbst gestellt ist.

RB: Es fällt mir nicht allzu schwer ihn zu verstehen, weil ich dieses Verhalten auch aus anderen Besuchen Inhaftierter kenne. Sie werden durch jahrelange Isolation, durch Reflexion ohne Möglichkeit sich auszutauschen, auch aufgrund von Erfahrungen, die sie machen, leicht misstrauisch. Was hat der vor? Was passiert, wenn die oder der einen Fehler macht? Sagt oder schreibt sie oder er etwas Falsches, welche Auswirkungen kann das haben? Mumia ist jetzt über 35 Jahre eingekerkert, ausgeschlossen von allem, was für uns Leben ausmacht, seit 2012 zwar nicht mehr im Todestrakt von Waynesburg, sondern als Lebenslänglicher im SCI Mahanoy. Und lebenslänglich heißt in den USA, wenn sein Anwaltsteam und die internationale Bewegung sich nicht weiterhin für seine Freilassung einsetzen, wirklich lebenslänglich für ihn, also Tod durch Haft.

SB: Die Leute realisieren nicht, dass lebendig begraben zu sein genauso schlimm ist.

RB: Wenn wir nichts tun, kommt er eines Tage mit den Füßen zuerst raus. Mit Mumia: "Wie immer, so ist es auch diesmal an euch, eine Entscheidung zu treffen: entweder für die Freiheit zu kämpfen oder gefangen zu sein, entweder für ein freies Leben zu streiten oder zufrieden zu sein mit dem Dasein der Sklaven, entweder auf der Seite des Lebens oder auf der Seite des Todes zu sein. Verbreitet das Wort des Lebens in nah und fern. Sprecht mit euren Freunden, lest und öffnet eure Augen auch für verschlüsselte Türen eures Empfindens, vor denen ihr noch gestern Furcht empfandet.

Öffnet eure Herzen weit für die Wahrheit."

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:


[1] Mumia Abu-Jamal (geb. 1954) ist ein US-amerikanischer Journalist, Autor und Bürgerrechtler. Er wurde 1982 in Zusammenhang mit der Ermordung des Polizisten Daniel Faulkner schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Die Todesstrafe ist mittlerweile aufgehoben und in lebenslange Haft ohne Revisionsmöglichkeit umgewandelt worden. Die fragwürdigen Tat- und Prozeßumstände, in der Haft verfaßte Artikel, Redebeiträge und Buchveröffentlichungen und ein weltweites Netzwerk von Unterstützern haben international Aufsehen erregt. Seit 1982 in Haft, war er von 1995 bis Dezember 2011 im Hochsicherheitsgefängnis SCI-Greene bei Waynesburg (Pennsylvania) und ist seither im Gefängnis von Frackville.

[2] Jürgen Heiser ist freier Mitarbeiter der jungen Welt und ver.di-Mitglied, Fachbereich Medien. Er besuchte Abu-Jamal seit 1990 mehrfach, brachte mehrere Bücher von und über ihn heraus und übersetzt seit Dezember 2000 seine wöchentliche Kolumne für die jW.

[3] Leonard Weinglass (1933-2011) war ein US-amerikanischer Straf- und Verfassungsrechtler, der als Anwalt eine Vielzahl an liberalen und radikalen Angeklagten vor amerikanischen Gerichten vertrat. Darunter befanden sich die Chicago 7 (1968), Angela Davis, Kathy Boudin (Weathermen), der Antikriegsaktivist Ron Kaufman, Bill und Emily Harris (SLA), Jimi Simmons (Muckleshoot-Indianer), Mumia Abu-Jamal und bis zu seinem Tode die Miami Five.

[4] Robert Bryan hat als Strafverteidiger die Revision vieler Todesurteile erreicht. Er deckte Fehler der Justiz ebenso auf wie politische und rassistische Manipulationen. Mit seinem Engagement für die Indianerbewegung erwirkte er Freisprüche und die Rückgabe von Stammesgebieten. Viele Jahre war er Vorsitzender der Nationalen Koalition gegen die Todesstrafe und seit 2003 Hauptverteidiger Mumia Abu-Jamals.

[5] Cordula Meyer, Leiterin des Spiegel-Büros in Washington, war es aufgrund ihrer vorgegebenen Absicht, sich für Mumia und gegen die Todesstrafe zu engagieren, gelungen, ihn und seinen Anwalt Robert Bryan zu interviewen. In ihrem Artikel "Die Feuer der Hölle" vom 24. August 2009 gab sie jedoch Tatsachen, die Mumia entlasten könnten, falsch wieder, sparte wichtige Zusammenhänge aus und erweckte den Eindruck, Abu-Jamal und sein Anwalt hätten doch etwas zu verbergen und der Verurteilte befände sich zu Recht in der Todeszelle. Die Darstellung des Tatverlaufs entspricht der Version der Staatsanwaltschaft. Statt sorgfältiger Recherche präsentiert Der Spiegel auf rührselige Weise das nach Meinung der Autorin bislang von der Öffentlichkeit ignorierte Schicksal der Polizistenwitwe Maureen Faulkner. Plaziert war der Spiegel-Artikel in der Rubrik Kultur unter dem Stichwort "Mythen", denen laut Spiegel alle anhängen, die sich für einen "Polizistenmörder" engagieren. Bereits drei Tage nach seinem Erscheinen wurde der Artikel von den Philadelphia Daily News als "Wendepunkt für Maureens Bemühungen, die Propagandamaschine von Abu-Jamal zu besiegen", begrüßt.

2. August 2017


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