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ZEITZEUGEN LINKS/024: Treu geblieben - Rechtsruck fundamental ...    Rolf Becker im Gespräch (SB)


Grafik: copy; 2016 by Schattenblick


Gespräch mit Rolf Becker am 18. Oktober 2016 in Hamburg-St. Georg - Teil 15

In Teil 15 des Gesprächs nimmt Rolf Becker zur Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik und insbesondere zum Aufstieg der AfD aus aktueller Sicht Stellung. Er geht in diesem Zusammenhang auch auf die Rolle der Gewerkschaften ein und legt dar, warum eine moralische Argumentation nicht weiterführt.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Rolf Becker
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Wir haben es insgesamt in Europa mit einer starken Rechtsentwicklung zu tun, in Deutschland ist die AfD im Aufwind. Was könnte und sollte man dieser Entwicklung deines Erachtens entgegensetzen?

Rolf Becker (RB): Die Antworten, die ich vor einem Jahr auf diese Frage gab, bedürfen nach dem Einzug der AFD in 13 Landtage und seit dem 24. September dieses Jahres in den Bundestag der Ergänzung. Zwar hat es in der Geschichte der Bundesrepublik schon etliche rechtsextreme Gruppierungen und Parteien gegeben, aber keiner davon war der Einzug in den Bundestag gelungen.

Jetzt die AFD. Was sammelt sich da - Rechtspopulisten, wie sie bürgerlicherseits vielfach verharmlosend genannt werden? Faschisten, wie etliche Linke meinen? Wir sollten die Antwort aus ihrer Entwicklung ableiten: ihr Aufstieg beginnt mit der Weltwirtschaftskrise ab 2007.

Der Staat musste mit Hunderten Milliarden eingreifen, um Banken zu retten, deren mögliche Pleiten das gesamte Wirtschaftssystem gefährden konnten. In Griechenland musste ein Staatsbankrott abgewendet werden, der mehrere europäische, vor allem deutsche und französische Geldinstitute bedrohte, die als Kreditgeber auf hohe Gewinne spekuliert hatten. Die von der Troika - Internationaler Währungsfond, Europäische Zentralbank und Bundesregierung - gewährten Kredite kamen keineswegs der griechischen Bevölkerung zugute, sondern dienten fast ausschließlich der Bankenrettung - was der Kampagne, die zum Rechtsruck in der EU und in der Bundesrepublik führte, zustattenkam. Statt die Ursachen der Krise als Folge der kapitalistischen Wirtschaftsweise darzustellen, wurde nationalistisch gegen die "faulen Griechen" (Bildzeitung), gegen die EU und den Euro mobilisiert. Dass die Abstiegsängste besonders kleinbürgerliche und Mittelschichten erfassten, erklärt die Beteiligung voriger FDP-, CDU- und CSU-Politiker an der Herausbildung der AFD (u. a. Bernd Lucke, Alexander Gauland, Konrad Adam).

Mit dem Ausbruch der Krise verschlechterten sich zudem die bereits durch die Agenda 2010 und Hartz-Gesetze eingeschränkten Lebensbedingungen von Lohnabhängigen und Arbeitslosen durch Kürzungen bei Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Renten, Gesundheitsversorgung, Ausbildung usw., hinzu kamen die Folgen prekärer Beschäftigung und der Benachteiligung unterer Lohngruppen. Die Schere zwischen den Einkommen der Oberschicht und der arbeitenden bzw. arbeitslosen Bevölkerung öffnete sich immer weiter. Das Vertrauen in Regierungsparteien, auch in die Führung der Gewerkschaften, nahm weiter ab, die Orientierungslosigkeit nahm zu, vor allem die Ängste von sozialem Abstieg Betroffener und Bedrohter, ihre Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder.

2015 kam mit den Flüchtlingen aus Nahost und Afrika ein Problem hinzu, das von der AFD argumentativ genutzt wurde und ihr bis heute andauernden Zulauf bescherte: die "deutsche Identität" sei dauerhaft gefährdet, der deutsche Steuerzahler überfordert, die "Terrorgefahr durch Islamisten" nehme zu.

Die bisherigen AFD-Führungen vermeiden es bislang offen faschistisch aufzutreten, beschränken sich auf die Sammlung mit der Regierungspolitik Unzufriedener und von ihren Parteien Enttäuschter, vermeiden bislang auch ein prinzipielles Vorgehen gegen die Organisationen und Rechte der Beschäftigten, vermeiden bislang alles, wodurch sie mit dem Faschismus der Nazizeit identifiziert werden könnten. Was nicht ist, kann noch werden: noch ist die AFD nicht als faschistische Partei zu kennzeichnen, die deutsch-nationalen Töne ihrer Führung, die Verbreitung rassistischer Auffassungen und die Forderung autoritärer Lösungen zeigen aber an, wohin sich zu entwickeln droht, was sich da im Bundestag eingenistet hat.

Besorgniserregend ist der Einfluss der AFD auf Beschäftigte und Gewerkschaften. Wir müssen davon ausgehen, dass annähernd ein Viertel der Mitglieder, also des aktiven Teils der Beschäftigten, anfällig ist für die Propaganda der AfD. Die Frage ist, warum. An warnenden Aufrufen der Gewerkschaftsvorstände mangelt es nicht - sie bewirken jedoch wenig. Der Grund: sie verweisen als Ausweg auf die SPD, zu der die Kolleginnen und Kollegen wegen ihrer sozialpartnerschaftlichen Politik nach den Hartz-Gesetzen und der Agenda 2010 und ihrem Festhalten an der "Standortlogik" - Nation gegen Nation, Betrieb gegen Betrieb, Arbeitende gegen Arbeitende - zunehmend das Vertrauen verlieren. Vor der Alternative, die sich aus einer konsequenten Orientierung an den Interessen ihrer Mitglieder und darüber hinaus an denen der gesamten arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung ergeben würde, scheuen die Gewerkschaftsführungen mit Rücksicht auf die Profitinteressen des Kapitals und die Lage der öffentlichen Haushalte zurück. Ein besonderes Problem ergibt sich daraus für die hohe Zahl arbeitsloser oder zu Niedriglöhnen beschäftigter Jugendlicher. Wird seitens der Gewerkschaften nicht der Kampf aufgenommen, um ihnen eine Lebensperspektive zu vermitteln, wohin werden sich viele von ihnen wenden? Es ist mehr als eine verlogene Ausrede, wenn von führenden SPD-Funktionären erklärt wird, die Entscheidung gegen rechtsradikale und faschistische Organisationen sei ausschließlich eine Charakterfrage und in keiner Weise abhängig von Arbeit, Auskommen und Wohnung.

Fragen, die zwar von linken Parteien und Gruppierungen thematisiert werden, aber mangels Verankerung in den Betrieben zu wenige Beschäftigte erreichen. Entsprechend die Zurückhaltung der Arbeitenden bei Aufrufen wie "Gegen Waffenexporte, Rüstung und Kriegsbeteiligungen". Der grundsätzlichen Zustimmung folgen Gegenargumente und Fragen: "Wie viel tausend Kollegen schließt ihr damit aus dem Arbeitsleben aus? Wo sind alternative Arbeitsplätze, wenn ihr Rüstungsbetriebe dichtmacht, oder Werften, die Kriegsschiffe produzieren, oder Textilproduktionen lahmlegt, die Uniformen herstellen?" Solange wir diese konkreten Fragen nicht ebenso konkret beantworten können, kommt der berechtigte Vorwurf: "Ihr argumentiert moralisch, ideologisch, gutgemeintes Geschwätz". Entsprechend, wenn es um die Flüchtlingsfrage geht: "Not und Kinderarmut nehmen zu, die Obdachlosenzahlen steigen, und ihr sagt wie Frau Merkel `Das schaffen wir` - wie denn?"

Die Antworten der AfD scheinen simpel, in Bezug auf Arbeitsplätze: "Deutsche Arbeit für Deutsche", in Bezug auf Flüchtlinge: "Raus, Grenzen zu und fertig." Vorschläge, die auf einen verschärften Nationalismus hinauslaufen, in der Konsequenz auf Ausplünderung anderer Länder zugunsten des eigenen Landes, auf Faschismus und Krieg.

Und wir? Theoretischen Forderungen, wie den genannten, konkrete Vorschläge folgen zu lassen, ist schwer, solange die Arbeitenden nicht selber eingreifen. Konsequenz unsererseits kann nur sein: Kleinarbeit durch Beteiligung an jedem Ansatz von Widerstand, ob in Betrieben oder wenn es um soziale Fragen geht, auch, weil sich nur aus konkreten Auseinandersetzungen konkrete Kontakte und damit Austausch politischer Gedanken ergeben können.

SB: Wie ist zu erreichen, dass Gewerkschaften eine gesellschaftlich wirksame Kraft in einem oppositionellen Sinne werden?

RB: Auch das kann nur von den Kolleginnen und Kollegen selber kommen - nur auf Druck der gewerkschaftlichen und betrieblichen Basis werden sich die Hauptamtlichen unserer Organisationen von den Vorgaben der SPD lösen.

SB: Mit diesen Klarstellungen argumentierst du also nicht moralisch, sondern auf Grundlage einer materialistischen Analyse.

RB: Ja, denn auf der moralischen Schiene kommen wir nicht weiter. Es sind alles gutartige Leute, die moralisch argumentieren und dann irgendwann empört, enttäuscht sind oder resignieren. Die Fragen, um die es geht, sind völlig andere, zwar nicht unabhängig von jeder Moral, aber nicht abhängig von Wünschen, Wollen oder Ideen, sondern von der realen Veränderung der gegebenen Verhältnisse, unter denen mehr und mehr Menschen nicht mehr leben können. Deswegen fahren wir beispielsweise nach Griechenland.

Auch wenn das Kapital - anders als beim Niedergang der Weimarer Republik - heute nicht vor einem "Entscheidungskampf mit seinem Proletariat" (Bertolt Brecht, 1935) steht, kommt es, wie er bereits 1931 notiert, darauf an zu "zeigen, wie die aneignende Klasse unablässig den Klassenkampf betreibt, auch da, wo die hervorbringende Klasse zu großen Teilen noch nicht kämpft. Die aneignende Klasse handelt unter allen Umstanden so, wie es die Erwartung des Widerstandes der hervorbringenden Klasse ihr befiehlt." (GBA 24/109) Die Verharmlosung und das Gewährenlassen faschistisch orientierter Gruppierungen und Parteien wie der AFD entspringt noch nicht der Krise bürgerlicher Herrschaft, die dann vermutlich auf sie angewiesen wäre, wohl aber der noch unartikulierten Überlegung, deren Anhänger eines Tages zur Herrschaftssicherung instrumentalisieren zu können. Die Tatsache, dass sich die AFD zunehmend an sozialen Brennpunkten einschaltet, die eigentlich von den Gewerkschaften besetzt sein müssten, findet zu wenig Beachtung. Hinzu kommt: Die weitgehende Passivität der Arbeiterklasse bietet, anders als bürgerliche Ideologen weismachen wollen, nicht nur keine Gewähr für den Erhalt derzeitiger sozialer Ordnungen, im Gegenteil: nur gestützt auf die Passivität und Orientierungslosigkeit der Massen kann eine konterrevolutionäre Bewegung zur Macht gelangen.

"Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt." (Erich Fried)

27. Oktober 2017


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