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KIRCHE/1176: Bischofswort - Für eine chancengerechte Gesellschaft (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 8/2011

Bischofswort: Für eine chancengerechte Gesellschaft

Von Alexander Foitzik


Die Leitidee "dynamischer Chancengerechtigkeit" steht im Zentrum eines von der Bischofskonferenz Ende Juni veröffentlichten Impulspapiers zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Es knüpft an ein früheres Impulspapier an.


Im politischen Alltagsgeschäft wie in der Berichterstattung darüber werden Freiheit und Gerechtigkeit oft als schlichtes Gegensatzpaar geführt, stehen die beiden Begriffe häufig für einander widersprechende Interessen. Parteien gelten demnach eher als Anwälte der Freiheit oder der Gerechtigkeit und versuchen sich selbst oft so zu präsentieren.

Wenn Kirchenvertreter zur Wirtschafts- und Sozialpolitik in Deutschland Stellung beziehen, erwarten vermutlich viele eher den Appell zugunsten größerer Gerechtigkeit. Die Experten, die im Auftrag der "Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen" der Deutschen Bischofskonferenz in einem zweijährigen Arbeitsprozess ein Impulspapier zur Wirtschafts- und Sozialordnung in Deutschland verfasst haben, stellen jedoch den Begriff der Freiheit, als "die Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten" in den Mittelpunkt. Und der Vorsitzende der Kommission, der Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx, betont dazu in seinem Vorwort: Johannes Paul II. habe selbst die Idee der Freiheit als den zentralen Konstruktionspunkt der kirchlichen Sozialverkündigung bezeichnet; freilich sei dieser Freiheitsbegriff von einem Menschenverständnis geleitet, in dem Freiheit und soziale Verantwortung, persönliche Verantwortung und Solidarität untrennbar zusammengehören.

So will der Ende Juni in der Bundespressekonferenz vorgestellte Impulstext ausdrücklich werben "für eine verantwortete Freiheit, die Eigenverantwortung ebenso wie gemeinschaftliche Solidarität im Blick hat". Schon der Titel des 38-seitigen Dokumentes bindet entsprechend auch beide Prinzipien untrennbar aneinander: "Chancengerechte Gesellschaft. Leitbild für eine freiheitliche Ordnung".


Hinter dieser Absicht steht auch die "besorgniserregende" Beobachtung, dies unterstrich Kardinal Marx bei der Präsentation des Textes, dass im gegenwärtigen politischen Alltagsgeschäft die Freiheit oft nicht mehr so geschätzt werde, "wie sie es verdient". Diese Geringschätzung habe zunächst mit der häufigen Verkürzung des Freiheitsbegriffs auf wirtschaftliche Freiheit zu tun, beziehungsweise damit, dass ein solchermaßen verengter Freiheitsbegriff von der sozialen Verantwortung abgekoppelt werde. Hierfür macht man wiederum vor allem die Finanz- und Wirtschaftskrise verantwortlich, die zu einer weiteren Diskreditierung des Freiheitsbegriffes geführt habe.

Aber auch für den Einzelnen zeigen sich im konkreten Alltag keinesfalls immer die mit der Freiheit verbundenen Entwicklungsmöglichkeiten und Lebenschancen. Ausführlich widmet sich so das Dokument diesen ambivalenten Erfahrungen, die gegenwärtig so viele in unserem Land umtreiben - trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs und einer relativ raschen Bewältigung der Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise, trotz sinkender Arbeitslosenzahlen: weit verbreitete Unsicherheit und "gefühlte Ungerechtigkeiten", Abstiegssorgen gerade auch in der Mittelschicht, ein umgekehrter "Fahrstuhleffekt" (es geht nicht mehr immer nur nach oben), die Ängste einer ganzen Generation, für die zum ersten Mal in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands der Wunsch aller Eltern bedroht scheint, dass es die Kinder einmal besser haben werden.


Vor diesem Hintergrund entfaltet der Impulstext das Leitbild beziehungsweise beschreibt er die Rahmenbedingungen einer "chancengerechten Gesellschaft", die jedem Einzelnen angemessene Chancen bieten muss auf gesellschaftliche Teilhabe und Aufstieg, ihm ermöglichen soll, sich gemäß seiner Talente und Fähigkeiten zu entfalten und sein Leben zu gestalten - soziale Risiken dabei selbstredend abgesichert. Ausdrücklich nimmt das Dokument dabei Bezug auf einen durchaus auch als vermeintlich zu "neoliberal" innerhalb der Kirche kritisch diskutierten Impulstext der Kommission aus dem Jahr 2003 mit dem programmatischen Titel: "Das Soziale neu denken"; auch dieser hatte die "Beteiligungsgerechtigkeit" ins Zentrum seiner Ausführungen gestellt.

Dabei zeigen sich die Autoren überzeugt, dass ein Gemeinwesen, dessen Ausgangspunkt die zur Freiheit berufene Person und dessen Ziel die Entfaltung der Freiheit ist, notwendig auch der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet ist und bleibt. Zu den "gerechten Chancen" gehöre aber nicht nur die Ausstattung mit den dafür erforderlichen Ressourcen. Darüber hinaus müsse auch das individuelle Verständnis dafür gestärkt werden, die Chancen auch zu nutzen; ein wesentlicher Grund für die unzureichende soziale Mobilität in unserer Gesellschaft liege auch darin, dass vorhandene Chancen zum Aufstieg von den Betroffenen nicht wahrgenommen werden. Um dem entgegenzuwirken, bedürfe es entsprechender gesellschaftlicher Anreizstrukturen.


Ein zu individualistischer Begriff von Freiheit?

Ausdrücklich betont der Text in diesem Zusammenhang: Die Forderung, allen Teilhabe zu ermöglichen, dürfe nicht mit "Gleichmacherei" verwechselt werden. Es sei schlicht nicht Aufgabe des Staates, durch nachträgliche Korrektur der freien Entscheidungen mündiger Bürger "Ergebnisgleichheit" herzustellen. Mit Freiheit bleibe notwendigerweise ein gewisses Maß an Ungleichheit verbunden, die sich schon aus der Einmaligkeit der Person ergebe. Umgekehrt heißt dies für die Autoren aber auch: Gerade weil es nicht um Gleichmacherei, sondern um Beteiligungs- und Befähigungsgerechtigkeit geht, müssen dem Einzelnen Wege in die Gesellschaft eröffnet werden - und zwar nicht nur einmal, sondern immer wieder.

Unter dem Stichwort von der "Kultur des Scheiterns" stellt sich das Dokument den zahlreichen Risiken der Freiheit, die keinesfalls verdrängt werden dürften. Nur wer darauf vertrauen könne, nicht ins Bodenlose zu fallen, werde auch bereit sein, sich den Gefahren der Freiheit zu stellen. Deswegen müsse eine freiheitliche Gesellschaft immer auch eine solidarische sein.


Konkret wird schließlich das Leitbild einer chancengerechten Gesellschaft an drei Feldern des politischen Handels und des gesellschaftlichen Zusammenlebens exemplarisch ausgeführt: Erziehung und Bildung, Erwerbsarbeit und schließlich mit Blick auch auf die Teilhabechancen künftiger Generationen die generationengerechte Ausgestaltung des modernen Gemeinwesens.

So fordert der Impulstext etwa eine möglichst frühe Förderung von Kindern aus benachteiligten Familien, einschließlich der Umstellung frühkindlicher Betreuung von der gegenwärtigen "Hol-" auf eine künftige "Bringschuld". Bezüglich gerechter und von der sozialen Herkunft unabhängiger Chancen beim Zugang zu schulischen Bildungsangeboten nehmen die Autoren auch die Kirche selbst in die Pflicht: Das katholische Engagement im Bildungsbereich müsse sich stärker auf benachteiligte Kinder und Jugendliche ausrichten; kirchliche Träger sollten sich mehr als bisher jenseits der Gymnasien engagieren. Insgesamt brauche es zur Herstellung von mehr Bildungsgerechtigkeit deutlich mehr Geld in Deutschland.

Mit Blick auf den Arbeitsmarkt kritisiert das Impulspapier unter anderem, so genannte Minijobs würden für viele zur Falle. Vordringliches Ziel der Arbeitsmarktpolitik müsse es bleiben, Arbeitslosen die Möglichkeit zu geben, ein sozialversicherungspflichtiges Normalarbeitsverhältnis aufzunehmen.

Im Namen größerer Generationengerechtigkeit fordern die Experten die Anhebung des Renteneintrittsalters (auch über 67 Jahre), begrüßen die so genannte Schuldenbremse als wegweisenden Schritt und fordern eine Neuordnung der Vermögensvererbung, die sowohl das Recht der Erblasser zur Weitergabe ihres Vermögens als auch die damit verbundenen Verteilungsprobleme ernst nimmt.


Die ohnehin spärlichen Reaktionen auf das bemerkenswerte Impulspapier von Seiten der Politik verliefen jedoch eher wieder im gängigen Freiheit-versus-Gerechtigkeit-Schema: FDP-Generalsekretär Christian Lindner freute sich demonstrativ über den mutigen Diskussionsbeitrag für eine neue Wertschätzung des Begriffs der Freiheit. Die kirchenpolitische Sprecherin im Präsidium der SPD, Barbara Hendricks, begrüßte, dass die Kirche eine Diskussion über neue Wege zu mehr Gerechtigkeit anstoßen wolle.

Aus den Reihen der kirchlichen Verbände fand das Sozialwort Lob wie Tadel: Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, würdigte das Impulspapier als klares Bekenntnis zur Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen. Gleichzeitig positioniere sich die Bischofskonferenz aber eindeutig anwaltschaftlich für benachteiligte Menschen. Für die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB) bleiben ungerechte Strukturen in der Wirtschafts- und Finanzwelt zu sehr unterbelichtet. Angesichts von drei Millionen Menschen in Deutschland, die keine Erwerbsarbeit fänden, bei über einer Million Leiharbeiter und der generellen Zunahme an prekären Beschäftigungsverhältnissen und Dumpinglöhnen gehe es an der Realität vorbei, wenn allein Erwerbsarbeit und wirtschaftliche Teilhabe zur Voraussetzung von gesellschaftlicher Integration deklariert werden.


Sehr rasch nach der Präsentation des Impulstextes reagierten die Sozialethiker Bernhard Emunds (Frankfurt/St. Georgen), Karl Gabriel (Münster), Hermann-Josef Große Kracht (Darmstadt) und Matthias Möhring-Hesse (Vechta) mit einer eigenen Stellungnahme: Mit diesem Impulstext positioniere sich die Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen zugleich wirtschaftsliberal und konservativ. In den politischen Debatten der Gegenwart bestätige sie damit die Programmatik der gegenwärtig in der Bundesrepublik politisch Verantwortlichen. Durchaus bescheinigen die vier dem Papier zwar "beeindruckende Passagen". Grundsätzlich aber scheine es die bestehende Bundesrepublik bereits für eine "Hochform gesicherter Freiheit" zu halten. Entsprechend komme kaum in den Blick, wie sehr in dieser Gesellschaft Freiheiten bedroht und umkämpft sind. Insgesamt fällt den katholischen Sozialethikern dabei der Blick auf die Freiheit in dem Impulstext zu individualistisch aus.


Alexander Foitzik, Dipl. theol., geboren 1964 in Heidelberg. Studium der Katholischen Theologie in Freiburg und Innsbruck. Seit 1992 Redakteur der Herder Korrespondenz.
foitzik@herder.de


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 8, August 2011, S. 387-389
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2011