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KIRCHE/803: Erntedankgottesdienst mit Bischof Wolfgang Huber (EKD)


Evangelische Kirche in Deutschland - Pressemitteilung vom 02.10.2009

Erntedankgottesdienst mit Bischof Wolfgang Huber

Erinnerung an die Rolle der Kirche für die friedliche Revolution


- Es gilt das gesprochene Wort! -

In einem Erntedankgottesdienst, der am Sonntag, dem 4. Oktober 2009 in der Gethsemanekirche in Berlin stattfand, hat der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, an die tragende Rolle der Evangelischen Kirche in der friedlichen Revolution erinnert.

Huber würdigte in dem Gottesdienst, der vom Zweiten Deutschen Fernsehen live übertragen wurde, die Bedeutung des Ortes: "Zusammen mit der Leipziger Nikolaikirche und der Berliner Zionskirche wird die Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg im Herbst 1989 zum Symbol. Brennende Kerzen und das gesungene Dona Nobis Pacem sind die Antworten auf Schlagstock und Hundestaffel." Von diesen Kirchen sei, so der Ratsvorsitzende der EKD, "der wichtigste Ruf dieser Wochen" ausgegangen: "Keine Gewalt!"

Mit Blick auf das Erntedankfest hielt Bischof Huber fest: "Das Danken macht zukunftsfähig. Es erinnert an das Lebensnotwendige und hilft uns dabei, nicht nur an uns selbst zu denken. Es ruft dazu auf, die Würde des anderen zu schützen, für die Grundlagen der gemeinsamen Freiheit einzutreten und ein Vertrauen zu wagen, das verbindet. Das lässt sich hier in der Gethsemanekirche lernen."

Hannover, 2. Oktober 2009
Pressestelle der EKD
Silke Römhild


*


Predigt im ZDF-Fernsehgottesdienst in der Gethsemanekirche in Berlin
(Markus 14,32-41a)

Wolfgang Huber

04. Oktober 2009

I.

Roter Backstein, die Tür steht offen. Hier muss es gewesen sein. Der Kirchturm ragt trotzig empor. Das Grün der Bäume ist kräftig und wild, hier in der Stargarder Straße, nahe der Schönhauser Allee. Heimatgefühle mitten im Prenzlauer Berg - so sehr dass es schon weh tut. Du kommst um die Ecke und stehst plötzlich stehst plötzlich vor ihr - Gethsemane. Alles ist so vertraut und doch ganz anders. Du erinnerst dich an das Meer der Kerzen, an glimmende Dochte in der Nacht. Hier reift der Glaubensmut heran. In Gethsemane haben sie Angst und richten sich aneinander auf; sie wachen und beten. Und dann entscheiden sie: Die Zeit des Wegduckens ist vorbei. Hier wird die Freiheit gesät, die wir heute mit Freuden ernten.

Gethsemane, einst ein alter verwilderter Garten in Jerusalem. Der, der dem Tod die Macht nehmen wird, geht nach Gethsemane. Seine engsten Vertrauten sind bei ihm und lassen ihn doch allein. Sie schlafen, während er wacht. Er fleht sie an: Wachet und betet. Es ist Nacht. Jesus Christus wacht allein und betet zu seinem Gott: Abba, mein Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst. In Gethsemane steht alles auf dem Spiel. Ohnmächtig ist Jesus und beschreitet den Weg des Heils. In diesem Garten sagt er schließlich: Es ist genug; die Stunde ist gekommen.

II.

Heute berühren unsere Füße den Boden von Gethsemane. Blumen erfreuen das Herz. Der Garten Gottes hat Brot und Trauben hervorgebracht. Uns erfüllt die Freude über die Fülle der Ernte und die Dankbarkeit für die Fülle der Freiheit zugleich. Die Früchte sind reif; es ist Zeit, Erntedank zu feiern.

Nicht Erntegier heißt das Fest, das wir heute feiern, sondern Erntedank. Dieses Fest ist ein klares Zeichen gegen die hemmungslose Gier, die kein Halten kennt. Der Absturz in die Krise liegt erst Monate zurück; die Bereitschaft zu rücksichtslosen Risiken hat uns in eine Neuverschuldung getrieben, die uns lange begleiten wird.

Nur ein einziges Gegengewicht gegen solche Maßlosigkeit kann ich erkennen. Die Dankbarkeit ist das Gegengewicht. Dass wir Gott loben und mit unseren Nächsten teilen - das ist die Alternative zum Tanz um das Goldene Kalb. Der Dank nimmt wahr, was wir empfangen, ohne es selbst herstellen zu können: ein Leben in Würde, Freiheit und Vertrauen. Nicht nur für unser persönliches Leben ist das wichtig. Unsere Gesellschaft, unsere Demokratie lebt davon. Jugendliche brauchen Vorbilder der Dankbarkeit, nicht Vorbilder der Gier. Das Erntedankfest ist ein Widerhaken gegen unsere Vergesslichkeit. Die Gethsemanekirche ist dafür der richtige Ort. Auch heute ragt ihr Turm trotzig in die Weite des Himmels.

III.

Zur Dankbarkeit für die Früchte des Feldes tritt heute die Freude darüber, dass vor uns andere mit vollen Händen Glaubensmut gesät haben. Die Ernte kann sich sehen lassen. Aus kleinen Senfkörnern wurden Hoffnungsgeschichten; sie haben dich und mich, sie haben unser Land verändert. Es war die größte geschichtliche Veränderung für Deutschland und Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als das Grauen, das von Deutschland ausgegangen war, an ein Ende kam.

Vieles wirkte zusammen. Doch was schließlich vor zwanzig Jahren aufging, wurde vor allem durch die Glaubenscourage mutiger Christen gesät.

Mitten in der DDR weigert sich 1984 eine junge Frau gemeinsam mit ihrem Freund, zur Wahl zu gehen. Die Kollegen setzen die beiden massiv unter Druck, schließlich finden sie Arbeit und Heimat in der evangelischen Kirche. 1989 überlegen sie mit anderen Freunden, wie man der DDR-Führung den zu erwartenden Wahlbetrug bei der Kommunalwahl nachweisen kann. So entsteht das "Wahlbüro" der Berliner Opposition. Hier zählen die Freunde am Abend des 7. Mai 1989 die Ergebnisse aus. Sie decken die Lügen auf. Die Gruppe schreibt an staatliche Institutionen und fordert die Korrektur der Wahlergebnisse.

Wer so etwas tut, wird von der Stasi offen observiert und eingeschüchtert. Doch die Freunde sind davon überzeugt, dass die Wahrheit siegen wird, nicht der Zwang. Gemeinsam mit anderen wollen sie am 7. September 1989 am Springbrunnen auf dem Alexanderplatz gegen die Lügen aufstehen. Als lebendige Buchstaben wollen sie den Schriftzug '7. Mai - Wahlbetrug' bilden. Doch die Stasi geht mit äußerster Brutalität gegen sie vor und verhaftet alle. Den Kellnern in den umliegenden Cafés wird zuvor weisgemacht, hier würde gleich ein Film gedreht. Man solle sich nicht wundern. Eine alte Frau mit Krückstock ruft einem Stasi-Mann entsetzt zu: "Schämst du dich nicht, Junge?" Andere haben Tränen in den Augen. Sie sind entsetzt und wollen nicht glauben, was geschieht.

Junge Oppositionelle suchen einen geeigneten und sicheren Ort. Sie wollen ihre Solidarität mit den politischen Gefangenen zeigen. Im September 1989 sind es erst einzelne Kirchengemeinden, die ihre Gotteshäuser für Protestveranstaltungen öffnen. Schließlich stellen Pfarrer Werner Widrat und seine Gemeinde die Gethsemanekirche zur Verfügung.#Am 2. Oktober 1989 beginnen hier ein gutes Dutzend Aktivisten des Weißenseer Friedenskreises, der Umwelt-Bibliothek Berlin und der Kirche von Unten mit einer Mahnwache. Über den Kircheneingang hängen sie ein Stofftransparent "Wachet und betet. Mahnwache für die zu Unrecht Inhaftierten". Wachet und betet: Jesu Aufforderung an seine Jünger im Garten Gethsemane gewinnt eine ungeahnte Aktualität.

Am Abend des 7. Oktober 1989 schnüren Polizeikräfte die Gethsemanekirche ein. Als die Teilnehmer des Fürbittgottesdienstes die Kirche verlassen wollen, greift die Polizei zu und verhaftet mehr als fünfhundert Menschen. Nach ihrer Freilassung schildern sie ihre stundenlangen Misshandlungen in Gedächtnisprotokollen. Diese werden in der Kirche gesammelt. Gethsemane wird zur Nachrichtenzentrale der Opposition. Gethsemane - ein Kommunikationszentrum.

Christen und Nichtchristen versammeln sich hier in wachsender Zahl. Der evangelische Bischof Gottfried Forck wendet sich an die Anwesenden; vom Punk bis zum Graubart hören sie ihm zu. Eine Atmosphäre der Freiheit entfaltet sich, wie sie die Menschen hier seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben. Zusammen mit der Leipziger Nikolaikirche und der Berliner Zionskirche wird die Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg zum Symbol. Brennende Kerzen und das gesungene Dona Nobis Pacem sind die Antworten auf Schlagstock und Hundestaffel. In den Kirchen nimmt der wichtigste Ruf dieser Wochen Gestalt an: Keine Gewalt.

Als wenige Monate später, im März 1990, die frei gewählten Abgeordneten der Volkskammer in der Gethsemanekirche zu einem Gottesdienst zusammenkommen, erscheint dies vielen als ein Wunder. Für die Freunde, die den Glaubensmut säten, geht ein Traum in Erfüllung.

IV.

Heute, nach zwanzig Jahren, fragen wir, wie es mit unserer Gesellschaft weitergehen wird. Und wir merken: Das Danken macht zukunftsfähig. Es erinnert an das Lebensnotwendige. Es hilft uns dabei, nicht nur an uns selbst zu denken. Es ruft dazu auf, die Würde des anderen zu schützen, für die Grundlagen der gemeinsamen Freiheit einzutreten und ein Vertrauen zu wagen, das verbindet. Das lässt sich hier in der Gethsemanekirche lernen. Wir wollen den Glaubensmut erneuern, der zu einem Leben in der Verantwortung vor Gott und den Menschen führt. Dafür ist die Dankbarkeit der erste Schritt. Deshalb sagen wir an diesem Tag: Die mit Glaubensmut säen, werden mit Freuden ernten. Darum dankt unserm Gott, wachet und betet.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.


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Quelle:
Pressemitteilung 235/2008 vom 02.10.2009
Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2009