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LATEINAMERIKA/046: Benedikt XVI. und die Indianer Amerikas (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 7/2007

Fauxpas in Aparecida?
Benedikt XVI. und die Indianer Amerikas

Von Michael Sievernich


Bei seiner Grundsatzrede vor den im brasilianischen Aparecida versammelten Bischöfen Lateinamerikas sprach Benedikt XVI. unter anderem davon, dass die Verkündigung Jesu und seines Evangeliums zu keiner Zeit eine Entfremdung der präkolumbianischen Kulturen mit sich gebracht habe. Nachdem dieser Satz einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte, korrigierte der Vatikan rasch.


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Die erste Pastoralreise Benedikts XVI. nach Übersee, die nach Brasilien, dem Land mit der höchsten Katholikenzahl (rund 150 Millionen) führte, verlief nach dem Urteil vieler Augenzeugen und Beobachter herzlich und zielführend, auch wenn nicht alle Erwartungen erfüllt wurden (vgl. HK, Juni 2007, 27 ff.). Nur ein weltweit wahrgenommener Misston überschattete die päpstliche Visite. Wie bei der Rede des Papstes in der Regensburger Universität am 12. September 2006 (vgl. HK, November 2006, 55 ff.), erregte auch diesmal eine kurze Textpassage Anstoß und führte zu einem internationalen Medienecho.

Diesmal war es eine Aussage zur Missionsgeschichte Lateinamerikas, die zu medial inszenierter Empörung von indigenen Interessengruppen und politischen Kräften führte, aber auch zu barscher oder verhaltener Kritik aus wissenschaftlichen und kirchlichen Kreisen. Dass Rom den Ernst des Konflikts erkannte, zeigt die Tatsache, dass der Papst eingehend auf die Kritik reagierte und sie nach seiner Rückkehr öffentlich zu entschärfen suchte.


Das besondere Gewicht Lateinamerikas in der Weltkirche

Den äußeren Anlass zur Reise nach Lateinamerika gab die Eröffnung der V. Generalkonferenz des Lateinamerikanischen Bischofsrates (Consejo Episcopal Latinoamericano), die im Mai im brasilianischen Wallfahrtsort Aparecida stattfand (vgl. dieses Heft, XXX ff.). Damit stellte sich Benedikt XVI. in die Reihe seiner Vorgänger, denn Paul VI. hatte die II. Generalkonferenz von Medellin (1968) und Johannes Paul II. die Konferenzen von Puebla (1979) und Santo Domingo (1992) eröffnet. Die päpstliche Anwesenheit unterstreicht das Gewicht, das Lateinamerika in der katholischen Weltkirche hat und die Bedeutung, die Rom ihm für die Gegenwart und Zukunft zumisst.

Bei seiner Grundsatzrede vor den in Aparecida versammelten Bischöfen am 13. Mai, die dem Konferenzthema folgte und sich vor allem auf die missionarische Dimension des Christentums bezog sowie vordringliche Aufgaben der Kirche benannte, kam der Papst gleich zu Beginn auf die Begegnung der Urvölker mit dem christlichen Glauben zu sprechen. Daraus sei die reiche christliche Kultur des Kontinents entstanden, die in der Gegenwart auf dem Spiel stehe. Die Annahme des Glaubens bedeutete für die Länder des Kontinents, so der Papst, Christus kennen zu lernen und anzunehmen, "Christus, den unbekannten Gott, den ihre Vorfahren, ohne es zu wissen, in ihren reichen religiösen Traditionen suchten. Christus war der Erlöser, nach dem sie sich im Stillen sehnten."

Damit knüpfte der Papst an die Rede vom "unbekannten Gott" an, die Paulus auf dem athenischen Areopag hielt (Apg 17,23), und an die konziliare Verhältnisbestimmung zu den Nichtchristen, wonach Gott denen nicht ferne sei, "die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen" (Lumen gentium 16). Systematisch folgt Benedikt XVI. damit jener Position, die religionstheologisch als Inklusivismus bezeichnet wird, demzufolge das Christentum die Vollendung und Erfüllung dessen sei, was die anderen Religionen, gleichsam ausgestreckte Arme nach Gott, im Grunde erstreben.

Dass der Heilige Geist auch in anderen Kulturen wirke, bringt der Papst mit der vertrauten patristischen Metapher von den Saatkörnern des Wortes (logoi spermatikoi) zum Ausdruck, wenn er von den "unzähligen Keimen und Samen" spricht, die das fleischgewordene Wort in die Kulturen eingesenkt habe, aufgehen ließ und so auf die Wege des Evangeliums vorbereitete. Vergleichbare Aussagen finden sich in Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils (Ad gentes 11). Wenn demnach auch in anderen Kulturen und Religionen geistgewirkt Elemente der Wahrheit und Gnade zu finden sind, dann liegt auf der Hand, "dass aller Same des Guten, der sich in Herz und Geist der Menschen oder in den eigenen Riten und Kulturen der Völker findet, nicht nur nicht untergehe, sondern geheilt, erhoben und vollendet werde" (Lumen gentium 17).

Sodann drehen sich die systematischen Überlegungen um die Offenheit der Kulturen füreinander und die Möglichkeit interkultureller Begegnung, die auf neue Synthesen und Universalität aus sei. Hier greift Benedikt XVI. in Kurzform auf, was sachlich unter dem Stichwort der "Inkulturation" verhandelt wird.

Dass dieses Stichwort hier jedoch nicht fällt, dürfte kaum zufällig sein, zieht Joseph Ratzinger doch den Begriff der "Interkulturalität" vor, den er in einem Grundsatzreferat zum Verhältnis Kultur und Religion während der Salzburger Hochschulwochen im Jahr 1992 vorgeschlagen hatte. Denn Inkulturation setze voraus, "dass ein gleichsam kulturell nackter Glaube sich in eine religiöse indifferente Kultur versetzt". Doch sei diese Vorstellung künstlich und irreal, weil es weder einen kulturfreien Glauben noch eine religionsfreie Kultur gebe, sondern immer nur religionsbestimmte Kulturen einander begegnen, die in interkultureller Offenheit neue Gestalten finden könnten (Glaube - Wahrheit - Toleranz, Freiburg 2003, 53).


Historisches und Spekulatives vermischt

In der brasilianischen Rede betont der Papst jetzt in christologischer Begründung, dass allein die Wahrheit eine und deren Beweis die Liebe sei, weshalb Christus, der fleischgewordene Logos und die Liebe bis zur Vollendung keinem Menschen und keiner Kultur fremd sei, sondern im Gegenteil "die im Herzen der Kulturen ersehnte Antwort".

Dieser in sich kohärente und schlüssige Duktus, der mit biblischen, patristischen und konziliaren Anspielungen arbeitet, wird nun abrupt durch eine historische Tatsachenbehauptung unterbrochen: "Tatsächlich hat die Verkündigung Jesu und seines Evangeliums zu keiner Zeit eine Entfremdung (alienaçao) der präkolumbianischen Kulturen mit sich gebracht und war auch nicht die Auferlegung (imposiçao) einer fremden Kultur."

Dieser Satz löste den Sturm der Entrüstung aus, weil unumstritten ist, dass es bei der Christianisierung Lateinamerikas im Rahmen der Conquista durchaus "Entfremdung" und "Auferlegung" gegeben hat. Sonst hätte ja der frühe Protest von Ordensleuten und Bischöfen, die schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts pastoral, argumentativ und legislativ gegen Gewalt und Unterdrückung der indigenen Bevölkerung vorgingen, keinen Anhaltspunkt gehabt und sich erübrigt. Außer dem historischen Streitpunkt ergibt sich das hermeneutische Problem einer Interferenz zwischen einem spekulativen und einem historischen Diskurs. Wäre der inkriminierte Satz nicht als historische Aussage, sondern als Postulat oder Optativ formuliert, hätte er gewiss keinen Anstoß erregt.

Überdies baute der Papst eine kritische Spitze gegen die Revitalisierung altamerikanischer Religionen in seine Rede ein, die jenen nicht gefallen haben dürfte, die diese politisch instrumentalisieren. "Die Utopie, den präkolumbianischen Religionen durch die Trennung von Christus und der Gesamtkirche wieder Leben zu geben, wäre kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt." Glücklicherweise aber habe die Weisheit der Urvölker (povos originários) sie dazu gebracht, eine Synthese zwischen ihren Kulturen und dem christlichen Glauben zu bilden, aus der die Volksfrömmigkeit (religiosidade popular) hervorgegangen sei, die sich in der Liebe zum leidenden Christus, zur Eucharistie, zum Gott der Armen und in der Verehrung der Jungfrau von Guadalupe und Aparecida äußere.


Kritik an der Revitalisierung altamerikanischer Religionen

Kritische und teilweise polemische Stimmen aus den Indianerorganisationen und der Politik nahmen vor allem aufs Korn, dass die altamerikanischen Völker Christus herbeigesehnt hätten und dass es im Prozess der Christianisierung keine Entfremdung und Auferlegung gegeben habe. Möglicherweise hat den indianischen Protest befördert, dass Benedikt XVI., anders als sein Vorgänger, keine offiziellen Abordnungen der Indianerorganisationen empfing und die Wiederbelebung altamerikanischer Religionen kritisierte, während das Schlussdokument von Santo Domingo zum Dialog mit den anderen Religionen des Subkontinents aufrief, "besonders mit den indigenen und afroamerikanischen Religionen, die lange Zeit ignoriert oder an den Rand gedrängt wurden" (Nr. 137).

So warf Jecinaldo Barbosa Cabral, der Koordinator der 1989 gegründeten Vereinigung zahlreicher indigener Organisationen Amazoniens (Coordenaçao das Organizaçoes Indigenas da Amazônia Brasileira, COIAB), dem katholischen Kirchenoberhaupt vor, es sei arrogant und respektlos, das indigene Erbe als zweitrangig zu betrachten. Die Geschichte zeige, dass die Evangelisierung eine Kolonisierungsstrategie gewesen sei, welche einige indigene Völker dezimiert habe.

Heftige Kritik übten auch Vertreter der kolumbianischen Ureinwohner am Umgang der katholischen Kirche mit der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas. Nicht anzuerkennen, dass die Christianisierung zur Dominanz über die Ureinwohner geführt habe, sei eine Verschleierung der Geschichte, meinte der Vertreter der Organisation (Organización Nacional Indígena de Colombia, ONIC), Luis Evelis Andrade Casama. Die indigenen Völker seien Gläubige, könnten aber nicht akzeptieren, dass die Kirche ihre Verantwortung für die Vernichtung der Identität und Kultur nicht anerkenne.

In Bolivien bekräftigte Mauricio Arias, Leiter einer nationalen indigenen Organisation (Consejo Nacional de Ayllus y Markas del Qullasuyo, CONAMAQ), dass die katholische Religion mit Gewalt auferlegt worden sei und die traditionelle Religion überformt habe. Dem stimmte in Mexiko auch Roberto Olivares von einer Nichtregierungsorganisation zur Verteidigung indigener Werte in Oaxaca zu; es gebe keinen Zweifel, dass das Christentum nicht nur auferlegt, sondern mit Gewalt auferlegt worden sei und unter dem Banner der Evangelisierung ein Genozid stattgefunden habe. Abel Barrera, der Direktor eines mexikanischen Zentrums für Menschenrechte, warf dem Papst eine ethnozentrische, ja sogar rassistische und wenig respektvolle Sicht der Kulturen der indigenen Völker vor.

Zu solchen bisweilen sicher überzogenen kritischen Stimmen aus der indigenen Welt Lateinamerikas gesellten sich auch polemische Töne aus der Politik. So fragte der Präsident der Bolivarianischen Republik Venezuela, Hugo Chávez, der sich auf Simón Bolivar, den Marxismus und Jesus Christus beruft: "Wie kommt der Papst dazu zu sagen, dass die Evangelisierung nicht aufgezwungen war? Warum mussten dann unsere Ureinwohner in den Urwald und in die Berge fliehen?" Wie könne man sagen, sie hätten ohne Auferlegung (imposición) evangelisiert, als sie mit ihren Arkebusen kamen? In Lateinamerika habe ein Völkermord (holocausto) stattgefunden, der größer gewesen sei als jener des Zweiten Weltkriegs, und niemand könne diese Wahrheit leugnen. Daher bitte er mit allem Respekt als Katholik und Staatschef, aber mit der Demut eines venezolanischen Bauern, das katholische Kirchenoberhaupt, sich zu entschuldigen.

Dabei wird man davon ausgehen müssen, dass Chávez auch auf die Kritik reagiert haben dürfte, die Benedikt XVI. in seiner Eröffnungsansprache in Aparecida vorbrachte; sah er doch Anlass zur Sorge "angesichts von Regierungsformen, die autoritär oder Ideologien unterworfen sind, die man eigentlich für überholt hielt". Auch wandte sich der Papst deutlich gegen den Marxismus und seine ideologischen Versprechen, die sich als falsch erwiesen hätten. "Das marxistische System hat dort, wo es zur Herrschaft gelangt war, nicht nur ein trauriges Erbe ökonomischer und ökologischer Zerstörung, sondern auch eine schmerzliche geistige Zerstörung hinterlassen." Dieser Hinweis zielt deutlich auf die neuen autoritären Regime Lateinamerikas, darunter das in Venezuela, deren verquaste Ideologie sozialistisches, indigenes und patriotisches Gedankengut enthält und populistisch aufbereitet ist (vgl. HK, Juni 2006, 29 ff.).


Der Vatikan sorgte selbst für Korrektur und damit für eine Versachlichung der Diskussion

Vereinzelt waren auch kritische Stimmen aus der Wissenschaft zu hören. Der protestantische Historiker und Spezialist für Lateinamerika, Hans-Jürgen Prien, kritisierte in einem Interview die Papstrede als "unglaubliche Geschichtsklitterung", die oberflächlich und schönfärberisch sei. Allerdings sieht er in einer undifferenzierten und historisch unhaltbaren Weise die gesamte Missionierung Lateinamerikas negativ als gewaltsame Eroberung, Zwangsmission und Ethnozid. Diese höchst einseitige und der Hermeneutik des Verdachts folgende Darstellung korrigierte dieselbe Zeitung (Kölner Stadtanzeiger) wenig später in ihrer Ausgabe vom 22. Mai mit einem präzisen Beitrag des international anerkannten Fribourger Historikers Mariano Delgado. Delgado verwies dabei auf die Hermeneutik der päpstlichen Aussagen; der Papst habe zwar im Sinn einer augustinischen Geschichtsphilosophie ("felix culpa") besonders das Licht hervorgehoben, doch müsse der Nachfolger Petri auch lernen, "sich über historisch brisante Fragen so zu äußern, dass er im medialen Zeitalter auch gut verstanden werden kann". Überdies betont er zu Recht, ohne die negativen Seiten in Abrede zu stellen, dass die Missionsgeschichte Lateinamerikas auch "glänzende Kapitel der Kirchengeschichte" geschrieben habe.

An erster Stelle hat der Vatikan selbst für eine Korrektur und damit für eine Versachlichung der Diskussion gesorgt. Zurück in Rom, hielt Benedikt XVI. am 23. Mai während der Generalaudienz Rückschau auf seine apostolische Reise nach Brasilien. Dabei ging er auch auf die geäußerte Kritik ein und korrigierte seine Aussagen, indem er ergänzende Aspekte hinzufügte.

"Die Erinnerung an eine ruhmreiche Vergangenheit", sagte er vor einem großen Auditorium auf dem Petersplatz, "kann nicht die Schatten ignorieren, die das Werk der Evangelisierung des lateinamerikanischen Kontinents begleiteten: Es ist in der Tat nicht möglich, die Leiden und Ungerechtigkeiten zu vergessen, die der indigenen Bevölkerung, deren fundamentale Menschenrechte häufig mit Füßen getreten wurden, von den Kolonisatoren zugefügt wurden. Aber die gebührende Erwähnung solcher nicht zu rechtfertigender Verbrechen - Verbrechen, die bereits von Missionaren wie Bartolomé de Las Casas und Theologen wie Francisco de Vitoria von der Universität Salamanca verdammt wurden - darf nicht daran hindern, mit Dankbarkeit das wunderbare Werk wahrzunehmen, welches die göttliche Gnade unter jenen Völkern im Lauf dieser Jahrhunderte vollbracht hat." Diese Passage muss künftig als unabdingbare Ergänzung der brasilianischen Rede gelesen werden.

Mit der Benennung von Leiden, Ungerechtigkeiten und Verbrechen, die den Indianern zugefügt wurden, anerkannte Benedikt XVI. auch die "Schatten" der Geschichte, die niemals nur ruhmreiche Vergangenheit ist, und fügte sich in jene kirchliche Linie ein, die seit den Diskussionen um den "Quinto Centenario" (14-19) vorherrscht, in denen darum gestritten wurde, ob man von der "Entdeckung" oder der "Verdeckung" Amerikas durch Christoph Kolumbus reden müsse.

In den damaligen Auseinandersetzungen um die historische und theologische Würdigung dieses Ereignisses, anlässlich dessen auch die IV. Generalkonferenz des lateinamerikanischen Episkopats stattfand (Santo Domingo 1992), spielte sich kirchlicherseits die Metaphorik von "Licht und Schatten" ein, die schon im Dokument von Medellin auftauchte. Wie denn auch Paul VI. betonte, dass die Kirche in Schuldgeschichten verstrickt sei und daher ein Zeichen bleibe, "das gleichzeitig dunkel und leuchtend ist" (Evangelium nuntiandi Nr. 15).

Im Dokument von Puebla beließen es die Bischöfe nicht beim Nebeneinander von Licht- und Schattenseiten, sondern anerkannten trotz aller negativen Seiten, "dass die Evangelisierung, die Lateinamerika zum 'Kontinent der Hoffnung' macht, viel stärker war als die Schatten, die sie im historischen Kontext bedauerlicherweise begleiteten" (Nr. 10), eine Aussage, die sich auf die paulinische Dialektik von Sünde und Gnade berufen kann (Röm 5,20).

Im Abschlussdokument von Aparecida betonen die Bischöfe in der Einführung, dass das Evangelium in einer "dramatischen und ungleichen Begegnung von Völkern und Kulturen" nach Amerika gekommen sei und dass Licht und Schatten bis heute zur Erfahrung der Kirche gehören.


Das Beispiel Las Casas

Zu Recht also verweist Benedikt XVI. auf die Schattenseiten der frühneuzeitlichen Missionierung Amerikas, deren Hypothek darin bestand, dass sie im Windschatten der Expansion der iberischen Mächte stattfand. Im Rahmen des königlichen Patronats unterstand die gesamte Missionierung der Krone. Sie, nicht Papst oder Bischöfe, bestimmte nicht nur den Aufbau kirchlicher Strukturen (Diözesen, Bischofsernennungen), sondern war auch für die Auswahl und Finanzierung der Missionare zuständig. Aufgrund dieser Rechte, welche die Päpste den iberischen Monarchen zugestanden hatten, bildeten Kolonisierung und Missionierung ein einziges Projekt.

Das Patronat begünstigte mithin ein Modell von Mission, das in engem Zusammenhang mit militärischer Landnahme (conquista) stand, bei der nach der Methode tabula rasa die Zerstörung der indigenen Kultur als Voraussetzung für die Transplantation der Kirche galt, und das sich mit ökonomischer Vorteilnahme (encomienda) verband, weil verdienten Konquistadoren Indianer zur Christianisierung und zugleich zur Zwangsarbeit "anvertraut" wurden. Nicht zuletzt auf solche Zusammenhänge bezog sich das Schuldbekenntnis, das Johannes Paul II. zur "Reinigung des Gedächtnisses" in der Fastenzeit des Heiligen Jahres 2000 liturgisch beging und bei dem er Verfehlungen gegenüber anderen Kulturen und Religionen bekannte, sowie die "Logik der Gewalt", der viele Christen nachgegeben hätten.

Um das Bild der Mission in der frühen Neuzeit nicht zu verzerren, dürfen allerdings jene Missionsprojekte nicht verschwiegen werden, die auf die autochthonen Kulturen eingingen und jegliche Gewalt ausschlossen, wie die Franziskanermissionen in Mexiko oder die Reduktionen der Jesuiten unter den Guarani (1610-1768) als letzte Blüte friedlicher Inkulturation in der Kolonialzeit.

Ähnliches gilt auch für die Missionsmodelle, die zeitgleich in Asien zur Anwendung kamen, wo es in hoch entwickelten Ländern wie Japan und China keine Eroberung oder Kolonisierung gab, sondern nur Handelskontakte. Wenn christliche Missionare in diese Länder gingen, dann konnten sie sich nur auf das Wort des Evangeliums, glaubwürdige Umgangsformen und Sprachenkenntnis, später auch auf Wissenschaften stützen. Zeitgenössisches Zeugnis geben davon die - jüngst neu übersetzten - Briefe des heiligen Franz Xaver (Regensburg 2006), der in einem interkulturellen Lernprozeß den Weg von der "Auferlegung" der eigenen Kultur zur Akkomodation an die fremde Kultur ging.


Tausende von Missionaren bezeugten das Evangelium mit ihrer Lebenspraxis

In Amerika erhob sich schon früh massiver Protest von Kirchenleuten, die gegen die Verquickung von Schwert und Kreuz vehement Einspruch einlegten. Ein Fanal dieses Protestes war die 1511 in Santo Domingo gehaltene Adventspredigt des Antonio de Montesinos, die zwar nicht die Betroffenen zur Besinnung bringen, wohl aber eine ethisch-theologische Reflexion auslösen sollte. Zu den Protagonisten gehörten sicher die Namen, die Benedikt XVI. erwähnt: Der Bischof Bartolomé de Las Casas, dessen "Bericht über die Verwüstung der Westindischen Ländern" so nachhaltig wirkte und der kürzlich in neuer Übersetzung und Kommentierung erschien (Frankfurt 2005). Diese Gestalt hat Joseph Ratzinger 1980 in einem Aufsatz über Reinhold Schneiders "Las Casas vor Karl V." als "Stimme des Gewissens" und als "Zeugen für die Souveränität des Rechts" bezeichnet. Las Casas, dem Verteidiger der Indianer und der schwarzen Sklaven, nicht erst der Französischen Revolution, ist Sache und Begriff der Menschenrechte zu verdanken, wie seinem Sklaventraktat zu entnehmen ist.

Ein weiterer Protagonist ist der vom Papst erwähnte Francisco de Vitoria, der mit seinem epochemachenden Traktat "De indis" (1537) die Grundlagen des Völkerrechts als 'ius inter gentes' legte und Mission ähnlich wie Freizügigkeit als Recht der Kommunikation definierte, nicht ohne als entscheidende Grundbedingungen die schöpfungsmäßige Gleichheit aller Menschen, natürlich auch der Indianer zu benennen (homo homini homo) sowie die Proximität, wonach jeder dem anderen ein Nächster sei (omnis homo proximus).

Der Papst hätte auch auf die Bulle "Sublimis Deus" (1537) seines Amtsvorgängers Paul III. verweisen können, die festhielt, dass alle Völker ihrer Natur nach wahre Menschen sind, die als solche zum Glauben fähig seien und weder ihrer Freiheit noch ihrer Güter beraubt werden dürften und die durch Predigt und gutes Beispiel zum Glauben einzuladen seien. Auch hätte der Papst auf die Botschaft seines Amtsvorgängers Johannes Paul II. an die indigene Bevölkerung Lateinamerikas (1992) verweisen können, die an die Leiden erinnerte, an die gegen sie verübten Sünden und an die kulturelle Identität, der mit Anerkennung und Wertschätzung zu begegnen sei.

Wenn Benedikt XVI. von den "Wundern" spricht, die Gott unter den lateinamerikanischen Völkern gewirkt habe, dann ist auch an Tausende von Missionaren zu erinnern, die bis in die jüngste Zeit das Evangelium mit ihrer Lebenspraxis bezeugten und bezeugen. Das gilt auch für den "Apostel Brasiliens", den seligen José de Anchieta, der nicht nur die Stadt Sao Paulo mitbegründete, sondern durch seine Tätigkeit als Missionar, Organisator, Dichter (auch in indigenen Sprachen) und Thaumaturg zum Kirchenvater Brasiliens wurde.


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Der Jesuit Michael Sievernich (geb. 1945) lehrt als Professor für Pastoraltheologie an der Universität Mainz und an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt; Gastprofessuren in Argentinien und Mexiko; zahlreiche Publikationen zu pastoraltheologischen und weltkirchlichen Themen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 7, Juli 2007, S. 357-362
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2007