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LATEINAMERIKA/057: Mythos vom friedlichen Uruguay - Kirchen wollen Gewalt überwinden (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Feature vom 21. Juli 2009

Mythos vom friedlichen Uruguay: Kirchen wollen Gewalt überwinden


Ein internationales ökumenisches Team "Lebendiger Briefe" hat während seines Besuchs in Uruguay das Bild vom "friedlichen Ländchen" Uruguay als Mythos entlarvt und erfahren, welche Formen die Gewalt in Familie, Staat und unter Jugendlichen annimmt und wie die Kirchen dieses südamerikanischen Landes damit umgehen.

"Einige der Mitglieder des Teams 'Lebendiger Briefe' haben ihr idyllisches Bild von Uruguay, mit dem sie zu uns kamen, revidiert, als sie die Realität unseres Landes kennen lernten", erklärte Pfarrer Oscar Bolioli, Präsident des gastgebenden Evangelischen Kirchenbundes von Uruguay.

"Unsere Gesellschaft ist nicht pazifistisch", argumentierte Gerardo Caetano, Historiker und Universitätsdozent, im Gespräch mit den Teammitgliedern, die aus Deutschland, Norwegen, Bolivien, Argentinien, Brasilien und Kenia kamen und Uruguay vom 9. bis 11. Juni einen Besuch abstatteten.

"Lebendige Briefe [1] " sind kleine ökumenische Teams, die im Auftrag des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) Kirchen in unterschiedlichen Ländern besuchen, um den Menschen zuzuhören, von ihnen zu lernen und miteinander über Konzepte und Herausforderungen bei der Überwindung von Gewalt und in der Friedensarbeit zu sprechen.

Laut Caetano hat die uruguayische Gesellschaft einen Bruch erlitten, der in der Entstehung von Armen- und Reichenghettos Ausdruck fand. Die Gesellschaft habe Schwierigkeiten, sich ihren Konflikten zu stellen. "Es ist ein Land, das implodiert", erklärte Caetano.

Während die politischen Akteure unfähig seien, sich ernsthaft mit dieser Problematik auseinanderzusetzen, so Caetano, verbreite sich der Mythos, die Gewalt entstehe am Rande der Gesellschaft. Dabei würden die Jugendlichen unter Generalverdacht gestellt.

Die "Kriminalisierung" junger Menschen wurde auch von Alba Negrín, einer Ärztin und Spezialistin für Suchtfragen, hervorgehoben. Negrín erklärte, dass Alkoholabhängigkeit im Gegensatz zur allgemeinen Annahme die am weitesten verbreitete Sucht sei.

Eine der Ausdrucksformen von Gewalt sei häusliche Gewalt. Dieses Phänomen habe es, wenn auch verdeckt, immer gegeben, erklärte die Frauenrechtlerin Lilian Abracinskas. Der Unterscheid sei, dass "die Menschen heute bereit sind, darüber zu sprechen", und dass auf diese Weise mehr Fälle ans Licht kämen.

Wunden des Staatsterrorismus

Der Fall der unter der uruguayischen Militärdiktatur (1973-1985) verschwundenen Gefangenen sei ein ungelöstes Problem, dem die Demokratie in Uruguay sich stellen müsse, unterstrich Eduardo Pirotto vom Netzwerk Servicio de Paz y Justicia (Dienst für Frieden und Gerechtigkeit).

Menschenrechtsorganisationen haben an die 300 Fälle verschwundener Menschen dokumentiert. Zwischen 1971 und 1981 seien 81 Menschen (26 in Uruguay und 55 in Argentinien) verschleppt und in Geheimgefängnissen gefoltert und ermordet worden, bestätigte eine Friedenskommission im Jahr 2002.

Den nachfolgenden demokratischen Regierungen habe es am politischen Willen gefehlt, die Wahrheit aufzudecken und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen, unterstrich Pirotto. So hätten diese 1986 zu ihrem Schutz ein Amnestiegesetz erlassen, das 1989 durch einen Volksentscheid bestätigt worden sei. Ein neuer Volksentscheid über die Abschaffung dieses Gesetzes sei auf kommenden Oktober anberaumt.

Über den Kampf der Opfer des Staatsterrorismus für die Wahrheit berichtete Macarena Gelman der Delegation aus eigener Erfahrung. Die Tochter verschwundener argentinischer Eltern wurde im November 1976 in Uruguay geboren, wohin ihre Mutter im Rahmen der Operation Kondor, einer gemeinsamen Initiative der südamerikanischen Diktaturen zur Verfolgung oppositioneller Kräfte, verschleppt worden war.

Macarena wurde von einem Polizisten adoptiert und erfuhr erst 2000 nach dem Tod ihres Adoptivvaters und dank der unermüdlichen Nachforschungen ihres Großvaters - des international bekannten argentinischen Dichters Juan Gelman -, von ihrer wahren Identität. Noch heute kämpft Macarena Gelman dafür, die Wahrheit über das Schicksal ihrer Mutter herauszufinden, und gibt die Hoffnung nicht auf, dass den Verschwundenen Gerechtigkeit widerfährt.

Ihr Zeugnis stehe stellvertretend für das vieler anderer Familien, die die Suche nach ihren verschwundenen Familienangehörigen nicht aufgegeben hätten, berichtete Bolioli. "In gewisser Weise kommt darin die Zerbrechlichkeit der uruguayischen Demokratie zum Ausdruck, die von einer kleinen Gruppe dominiert wird - Menschen, die glauben, dass sie über dem Gesetz stehen, dass sie im Besitz der Wahrheit und Herr über das Schicksal anderer sind."

Kircheninitiativen gegen Gewalt

Das Team der "Lebendigen Briefe" besuchte verschiedene Projekte, die von den uruguayischen Kirchen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen durchgeführt werden. Dazu gehörten zwei Einrichtungen der Methodistischen Kirche in Uruguay, die Pastoral de la Mujer y la Familia (Seelsorgerlicher Dienst für Frau und Familie) und das Instituto de Buena Voluntad (Institut des Guten Willens), das Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen anbietet.

In der Stiftung Voz de la Mujer (Stimme der Frau), einer Organisation, die im Departamento Colonia Pionierarbeit leistet, hatte das Team "Lebendiger Briefe" Gelegenheit, die seit 1992 geleistete Arbeit zur Unterstützung von Frauen, Kindern und Jugendlichen kennen zu lernen, die Opfer häuslicher Gewalt und sexuellen Missbrauchs geworden sind. Zu den Aufgaben der Stiftung, die von Mitgliedern der Evangelischen Waldenserkirche am Rio de la Plata gegründet wurde und in Krankenhäusern, Schulen, Kirchen und anderen Einrichtungen aktiv ist, gehören Intervention, Prävention und Stärkung der Betroffenen, damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können.

Das Team "Lebendiger Briefe" traf auch mit Vertretern/innen der Ersten Nationalen "Impfkampagne" gegen die Misshandlung von Kindern und Jugendlichen zusammen, die 2003 unter der Bezeichnung "Behandlung für gute Behandlung" initiiert worden war. Die Kampagne symbolischer Impfungen zielt darauf ab, die Gesellschaft zu sensibilisieren. Die "geimpften" Personen verpflichten sich, misshandelten Kindern und Jugendlichen zuzuhören, ihnen zu glauben und sie zu beschützen.

Bei ihrem Besuch im Obra Ecumenica del Barrio Borro (Ökumenisches Werk des Stadtviertels Borro), einer Initiative des Evangelischen Kirchenbundes von Uruguay in einem Vorort im Norden der Hauptstadt Montevideo, in dem mehrere tausend einkommensschwache Familien leben, informierten die Teammitglieder sich über die Arbeit, die seit zwanzig Jahren zur Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Frauen geleistet wird. Sie basiert auf der Überzeugung, dass die Gesellschaft ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen fördern muss, statt lediglich die Auswirkungen eines ungerechten Gesellschaftssystems abzumildern.

"Diese Begegnungen gaben den Mitgliedern des Teams eine Vorstellung davon, welche Anstrengungen die Kirchen zur Lösung der Probleme der uruguayischen Gesellschaft unternehmen", erklärte Bolioli. Der Besuch fand seinen Abschluss in einem Gespräch mit Laien und Geistlichen in Montevideo.

Für die Kirchen des Evangelischen Kirchenbundes bot der Besuch umgekehrt Gelegenheit, "Gewalt systematischer zu reflektieren und ihre Reaktionsmöglichkeiten zu überdenken - auch mit Blick auf die im Oktober bevorstehenden Wahlen", bekräftigte Bolioli.

Die Besuche der "Lebendigen Briefe" finden im Rahmen der Dekade zur Überwindung von Gewalt [2] statt und dienen zur Vorbereitung der Internationalen ökumenischen Friedenskonvokation [3] im Mai 2011 in Kingston, Jamaika.


ÖRK-Mitgliedskirchen in Uruguay:
http://www.oikoumene.org/de/mitgliedskirchen/regionen/lateinamerika/uruguay.html

Weitere Informationen zum Besuch "Lebendiger Briefe" in Uruguay und Bolivien:
http://gewaltueberwinden.org/de/konvokation/lebendige-briefe/uruguay-and-bolivia.html

Die Meinungen, die in ÖRK-Features zum Ausdruck kommen, spiegeln nicht notwendigerweise die Position des ÖRK wider.


Der Ökumenische Rat der Kirchen fördert die Einheit der Christen im Glauben, Zeugnis und Dienst für eine gerechte und friedliche Welt. 1948 als ökumenische Gemeinschaft von Kirchen gegründet, gehören dem ÖRK heute mehr als 349 protestantische, orthodoxe, anglikanische und andere Kirchen an, die zusammen über 560 Millionen Christen in mehr als 110 Ländern repräsentieren. Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche. Der Generalsekretär des ÖRK ist Pfr. Dr. Samuel Kobia, von der Methodistischen Kirche in Kenia. Hauptsitz: Genf, Schweiz.

[1] http://gewaltueberwinden.org/de/konvokation/lebendige-briefe.html
[2] http://gewaltueberwinden.org/
[3] http://gewaltueberwinden.org/de/konvokation


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Quelle:
Feature vom 21. Juli 2009
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
150 rte de Ferney, Postfach 2100, 1211 Genf 2, Schweiz
E-Mail: ka@wcc-coe.org
Internet: www.wcc-coe.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2009