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LATEINAMERIKA/067: In Kolumbien darf es nicht nur um Kontinuität gehen (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 09/2010

Wirklicher Veränderungswille?
In Kolumbien darf es nicht nur um Kontinuität gehen

Von Stefan Ofteringer


Nach zwei Amtszeiten ist der kolumbianische Präsident Alvaro Uribe aus dem Amt geschieden und hat eine gemischte Bilanz hinterlassen. Sein Nachfolger, Juan Manuel Santos, verspricht vor allem Kontinuität in der Amtsführung. Für eine Friedenslösung im bewaffneten Konflikt und eine Verbesserung der extrem kritischen Menschenrechtslage wäre eine Neuausrichtung in einigen Bereichen notwendig.


Anfang August 2010 hat Alvaro Uribe Vélez nach acht Jahren das Präsidentenamt an Juan Manuel Santos übergeben. Eine große Zahl Kolumbianer erhofft sich Kontinuität in der Regierungsführung. Santos, der ehemalige Verteidigungsminister Uribes, hat die Wahlen von Ende Juni 2010 im zweiten Wahlgang eindeutig gewonnen, wenn auch bei sehr geringer Wahlbeteiligung. Zum "Kronprinzen" war Santos unter anderem geworden, weil die Befreiungsaktion der Politikerin Ingrid Betancourt in seine Zuständigkeit fiel. Diese Befreiung nach acht Jahren Geiselhaft in Händen der FARC-Guerilla galt als einer der größten Erfolge der so genannten "Politik der demokratischen Sicherheit" Uribes, die Santos in jedem Falle fortzusetzen gedenkt.

Unter dem Begriff der "demokratischen Sicherheit" hatte Uribe seine Strategie zusammengefasst, den bereits über 40 Jahre andauernden bewaffneten internen Konflikt mit einer Verstärkung der militärischen Anstrengungen gegenüber der Guerilla zu lösen und die Präsenz von Sicherheitskräften im gesamten Territorium sicherzustellen. Dieser Ansatz wurde bald nach Uribes Amtsantritt 2002 von weiten Teilen der Bevölkerung und auch der internationalen Beobachter als Erfolg bewertet, da sich die Sicherheitslage in einigen Landesteilen tatsächlich verbesserte und die Präsenz der Guerilla zurückgedrängt wurde. Neben der Befreiung der prominentesten Geisel der FARC war dabei der Schlag gegen ihre Führungsriege durch einen Raketenangriff auf ein Camp in Ecuador von Bedeutung, bei dem der damalige Kommandant der Guerilla, Raul Reyes, getötet wurde. Der Nebeneffekt des Erfolges war ein Streit mit der Regierung Ecuadors über die Rechtmäßigkeit dieses Angriffs, der bis heute nicht beigelegt ist.

Die FARC-Guerilla ist, genauso wie die weniger bedeutende ELN, zwar geschwächt, aber nicht besiegt. Beide Organisationen sind tief in den Drogenhandel verstrickt und erzielen aus ihm bedeutende Umsätze, die sie wirtschaftlich am Leben halten. Weiterhin halten sie die Kontrolle über einige Randregionen des südamerikanischen Landes. Auch wenn ihre militärischen Aktionen weniger geworden sind, haben sie sich auch in den letzten Jahren immer wieder Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung zuschulden kommen lassen. Hier sind besonders die Angriffe auf Militärposten inmitten der Zivilbevölkerung zu nennen, wie sie zwischen 2006 und 2009 allein zwei Mal in der indigenen Gemeinde von Toribío im Departement Cauca vorgekommen sind.

Rücksichtslosigkeit gegenüber der Zivilbevölkerung zeichnet aber auch die anderen Kriegsparteien aus. Den größten Problembereich der Strategie der "demokratischen Sicherheit" stellen außergerichtliche Hinrichtungen dar, denn ein Teil der Erfolge der Sicherheitskräfte wurde auf Kosten der Zivilbevölkerung vorgetäuscht. Seit Ende 2008 wurden einige hundert Fälle so genannter "falscher Erfolgsmeldungen" (falsos positivos) von Menschenrechtsaktivisten und Journalisten aufgedeckt. Dies sind Fälle der gezielten Tötung von Zivilisten durch das Militär, um sie als Mitglieder der Guerilla oder der Paramilitärs auszugeben. Die im Rahmen der "demokratischen Sicherheit" eingeforderten Ergebnisse im Kampf gegen die Guerilla wurden so verbessert.

Zu Beginn dieses Skandals wurde ein Netzwerk von Personen aufgedeckt, das junge Männer in einem Vorort von Bogotá mit dem Versprechen angeworben hatte, im Norden des Landes besser bezahlte Arbeit zu bekommen. Tage nachdem ihre Mütter das Verschwinden der Männer angezeigt hatten, erfuhren sie, dass ihre Söhne im Departement Norte de Santander vom Militär als "im Kampf gefallene Guerilleros" präsentiert wurden. Der Anwerber wurde offenbar von Soldaten bezahlt, die für die "Erfolge" im Kampf gegen die Guerilla Geldzahlungen, Sonderurlaub und schnellere Aufstiegsmöglichkeiten erhielten. Juan Manuel Santos war zu dieser Zeit Verteidigungsminister und somit politisch verantwortlich. Allerdings kostete es ihn nicht das Amt, sondern er schied erst aus dem Ministeramt, als seine Kandidatur für die Präsidentschaft klar war.

Zwar verfügte Santos die Entlassung von 27 Militärs, die in die Machenschaften verstrickt waren. Das Grundproblem wurde aber nicht beseitigt, denn die Order, mit der Anreize für solche Tötungen geschaffen wurden, ist bis heute in Kraft. Und die Fälle der "falsos positivos" bilden nur die Spitze des Eisbergs. Das Militär ist nach Schätzungen des landesweiten Menschenrechtsnetzwerks CCEEU für nahezu 3 000 außergerichtliche Hinrichtungen verantwortlich, die nach Angaben des UN-Sonderberichterstatters Philip Alston als systematisch einzustufen sind, wie er nach einem Besuch in Kolumbien 2009 ausführte.


Die Regierung Santos tritt jedoch mit einem weiteren strukturellen Makel an, denn der Primat einer militärischen Lösung hat alle Bemühungen um eine Verhandlungslösung im bewaffneten Konflikt zurücktreten lassen. In der Amtszeit Uribes gab es keine Verhandlungen zwischen Regierung und Guerilla, was den mangelnden politischen Willen beider Seiten zeigt. Die Bischofskonferenz und andere zivilgesellschaftliche Mitglieder der Versöhnungskommission haben sich deshalb im Vorfeld der Wahlen engagiert, um Minimalanforderungen für eine Friedenslösung zu erarbeiten. Die Initiative organisierte zwischen Oktober 2009 und März 2010 "Runde Tische" mit Beteiligung von über 15 000 Personen aus mehr als 150 Landkreisen. Die dort erarbeiteten Kriterien stellen klare Anforderungen an die Kriegsparteien dar, Verletzungen des Humanitären Völkerrechts zu unterlassen und eine Verhandlungslösung anzustreben.

Für die Kirche selbst wäre dieser Kriterienkatalog eine wichtige Grundlage für zukünftige Verhandlungsinitiativen. In der jüngeren Vergangenheit hat es hier eine Vielfalt von Positionen gegeben, die keine eindeutige Linie erkennen ließ. Für eine Vermittlerrolle bedarf es sicher einer gewissen Flexibilität, aber auch einiger klarerer Grundsätze, die handlungsleitend sind und den Konfliktparteien klare Bedingungen setzen.

Anders als gegenüber der Guerilla verhielt sich die Regierung Uribe zu dem anderen bedeutenden bewaffneten Akteur. Mit den rechtsgerichteten Paramilitärs wurden Ende 2003 Verhandlungen über eine Demobilisierung geführt, die in einen Prozess mündeten, in dessen Rahmen bis heute über 34 000 Kämpfer ihre Waffen abgegeben haben. Obwohl diese Zahl bei weitem die Schätzungen der Sicherheitskräfte überstieg, die zu Beginn des Jahrtausends noch von zwischen 14 000 und 17 000 Bewaffneten ausgingen, sind die Paramilitärs bis heute aktiv. In einigen Regionen haben sie sogar die Kontrolle über Territorium, Bevölkerung und ökonomische Ressourcen eher konsolidiert.

Die Grundproblematik an dem "Friedensprozess" mit den Paramilitärs liegt darin, dass es keinen ausreichenden politischen Willen gab, diese Strukturen tatsächlich abzuschaffen. Und auch hier hat die kirchliche Verhandlungskommission, die aus drei Bischöfen bestand, zu wenig deutlich gemacht, welche Bedingungen sie an die Paramilitärs stellt und welche Prinzipien einer Versöhnung zugrunde liegen sollten.


Die paramilitärischen Verbände haben ihren Ursprung in privaten Armeen von Großgrundbesitzern. Sie wurden aber von den staatlichen Sicherheitskräften systematisch gefördert, bewaffnet und logistisch unterstützt. In der Phase ihrer größten Machtausdehnung in den späten neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren sie für eine Serie von Massakern an der Zivilbevölkerung und massiven Vertreibungen verantwortlich.

In mehreren Urteilen hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass es dabei zu einer systematischen operativen Zusammenarbeit kam. Diese ging in einigen Regionen so weit, dass Kommandeure der Paramilitärs alle ihre Aktionen mit den Kommandos von Militär und Polizei abgestimmt haben, wie etwa im Fall des Dorfes Mapiripán, in dem die Paramilitärs im Juli 1997 fünf Tage äußerst brutal wüteten. Vor dem Interamerikanischen Gerichtshof musste die Regierung die Kollaboration von Militärs eingestehen. Zwei hochrangige Militärs wurden dann auch 2007 zu Gefängnisstrafen verurteilt. Es ist aber eine ganze Reihe von Fällen dokumentiert, bei denen Truppen des Militärs direkt an Einsätzen der Paramilitärs beteiligt waren, wobei lediglich die Abzeichen an den Uniformen entfernt und die Gesichter unkenntlich gemacht wurden.


Die juristische Aufarbeitung der Verbrechen bleibt enttäuschend

Aus dieser strukturellen Förderung des Paramilitarismus ist ein Zielkonflikt erwachsen, der sich am stärksten im Gesetz für "Gerechtigkeit und Frieden" (Gesetz 975 von 2005) niedergeschlagen hat. Mit diesem Gesetz erhielt der Demobilisierungsprozess seinen rechtlichen Rahmen. Das Gesetz macht denjenigen Paramilitärs, die bereit sind, über ihre Vergehen auszusagen, ein weitgehendes Angebot der Strafreduzierung mit einer maximalen Strafe von acht Jahren. Nach der ersten Verabschiedung des Gesetzes in den beiden Parlamentskammern musste das Verfassungsgericht Korrekturen vornehmen, um die Konformität des Gesetzes mit dem internationalen Recht zu gewährleisten, denn die Straferleichterung sollte ursprünglich auch auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit angewandt werden.

Zudem sieht das Gesetz nicht vor, die massiven Verbrechen des Paramilitarismus systematisch aufzuarbeiten. Die von dem Gesetz vorgesehene Einrichtung einer "Kommission für Versöhnung und Wiedergutmachung" hat keinen Auftrag zur Wahrheitsfindung, die beispielsweise mit dem Mandat der Wahrheitskommissionen in Südafrika nach dem Ende der Apartheid oder in Guatemala nach dem Ende des bewaffneten Konfliktes vergleichbar wäre. Zwar gibt es eine "Unterkommission für historische Wahrheit", allerdings ist deren Mandat auf die Auswertung von Dokumenten beschränkt. Anhörungen sind nicht vorgesehen.

Fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes muss festgestellt werden, dass der Prozess stets auf die Kommandeure der Paramilitärs konzentriert war, mit denen das "Abkommen von Ralito" als Grundlage der Verhandlungen zwischen Regierung und Paramilitärs geschlossen wurde. Diese wurden zum Teil inhaftiert. 2008 wurden 13 von ihnen überraschend in die USA ausgeliefert, wo Auslieferungsgesuche wegen ihrer tiefen Verstrickung in den Drogenhandel vorlagen. Allerdings sind diese Personen für tausende von Morden, brutalste Massaker und wahrscheinlich zehntausende gewaltsame Vertreibungen von Zivilisten verantwortlich. Zunächst haben Regierung und Justizapparat versprochen, dass die Auslieferung nicht bedeute, dass die Kommandeure der Verfolgung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Justiz entzogen würden. Wie dies geschehen soll und wie auch die juristischen Probleme gelöst werden können, die damit verbunden sind, ist bis heute unklar.


Auch die juristische Aufarbeitung der Verbrechen bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Nur zehn Prozent der demobilisierten Kämpfer sind überhaupt in den Regelbereich des Gesetzes gefallen, während die anderen 90 Prozent durch andere Dekrete und Regeln straffrei blieben. Von den verbleibenden zehn Prozent haben etwa 2 500 ausgesagt oder Aussagen angekündigt. Die Anhörungen sind in vielen Fällen jedoch zu Rechtfertigungsplattformen für ihr Handeln geworden und die Aussagen waren sehr selektiv. Bis zum heutigen Tag hat es lediglich ein strafrechtliches Urteil gegen Kommandeure der Paramilitärs gegeben.

Auf der anderen Seite stehen die Opfer des Paramilitarismus, deren Zahl in die Millionen geht, wenn man bedenkt, dass die Paramilitärs für eine sehr hohe Zahl der vier Millionen Binnenvertriebenen in Kolumbien verantwortlich sind. Allein in den Aussagen der Paramilitärs wurden mehrere zehntausend Morde gestanden, so dass von einer weitaus höheren Dunkelziffer auszugehen ist. Die Beteiligung der Opfer an den Prozessen im Rahmen von "Gerechtigkeit und Frieden" lässt aber stark zu wünschen übrig. Zum einen gehen sie mit Aussagen ein sehr hohes Risiko ein. Bis heute wurden mehr als 15 Opfer ermordet, die öffentlich Aufklärung und Wiedergutmachung der Morde an ihren Angehörigen eingefordert haben: So wurde im Januar 2007 Yolanda Izquierdo in Montería von einem Killer erschossen, nachdem sie wenige Stunden zuvor bei der Justiz Schutz eingefordert hatte; sie hatte in einer öffentlichen Anhörung über die Morde und Vertreibungen durch die Paramilitärs in San Onofre gesprochen.

Die Netzwerke der Paramilitärs reichen bis tief in die demokratischen Institutionen des Landes hinein. Durch die Aussagen der inhaftierten Kommandanten wurden ihre Verbindungen zu Abgeordneten im Parlament bekannt. Salvatore Mancuso, einer der Sprecher der Paramilitärs, erklärte bei einem Auftritt vor dem Kongress, dass sie etwa ein Drittel der Abgeordneten kontrollieren. Er hat damit wohl nicht übertrieben. Seit 2006 wurden mehr als 30 Abgeordnete wegen ihrer Verbindungen zu den Paramilitärs inhaftiert, und gegen mehr als 100 weitere wird ermittelt. In den Jahren 2007 und 2008 war die Funktionsfähigkeit der Parlamentskammern und -ausschüsse so erheblich in Frage gestellt, da viele Repräsentanten wegen Ermittlungen oder Haft ihre Mandate nicht ausüben konnten.

Nun hatten viele Beobachter erwartet, dass mit den Parlamentswahlen im März 2010 eine Erneuerung und Bereinigung eintreten würde. Die zivilgesellschaftliche Wahlbeobachtungsmission, an der sich neben der nationalen Sozialpastoral auch viele Priester und katholische Laien in den Regionen beteiligten, hat in ihrer Wahlanalyse festgestellt, dass das Phänomen fortbesteht: Denn im Falle von 28 Abgeordneten, denen wegen des "Parapolitik"-Skandals die Ausübung von Ämtern verboten wurde, sind deren Ehepartner oder nahe Familienangehörige ins Parlament eingezogen. Die Wahlergebnisse wiesen oft dieselben Auffälligkeiten auf, wie sie die erste Phase der Politik der Paramilitärs prägten: In den Wahlkreisen gab es oft nur einen Kandidaten oder die Ergebnisse zeigten sehr hohe und untypische Mehrheiten.

Die Morde und Drohungen gegen die Opfer und die Fortsetzung der "Parapolitik" weisen auf die ungebrochene Kontinuität der paramilitärischen Gruppen und ihrer weit verzweigten Machtnetzwerke hin. Obwohl die Zahl der entwaffneten Personen die offizielle Zahl der tatsächlichen Kämpfer bei weitem übersteigt, haben die paramilitärischen Gruppen nie aufgehört zu existieren. Sie setzten in vielen Regionen des Landes ihre kriminellen Aktivitäten bruchlos fort.

Besonders aus den südwestlichen, südöstlichen und nordwestlichen Regionen berichten Vertreter der Kirche und Menschenrechtsorganisationen immer wieder, dass es dieselben Personen sind, die Druck auf die Zivilbevölkerung ausüben, Schutzgeld erpressen und den Drogenhandel organisieren. Seit Ende 2009 häufen sich die Gewalttaten in der Region Córdoba, wo allein im Juni und Juli 2010 zwei Massaker verübt wurden.

Im Gespräch mit Vertretern der örtlichen Sozialpastoral zeigen sich zwei Aspekte: Es gibt interne Auseinandersetzungen zwischen den Paramilitärs um ihre Anteile am einträglichen Drogengeschäft sowie einen Kampf um die Kontrolle über das Territorium. Im direkten Gespräch mit Binnenvertriebenen in dieser Region sagen jene, dass sie Drohungen erhalten, wenn sie sich organisieren, um ihre Rechte einzufordern; die Forderungen nach einer Rückgabe des Lands, das sie verlassen mussten, komme einem Todesurteil gleich. Für diesen Bereich gibt es von der künftigen Regierung Santos bisher keine neuen Konzepte, mit denen die Rechtsposition und die Sicherheit der Opfer gestärkt würden.

Die paramilitärischen Folgeorganisationen machen aber auch vor direkten Drohungen gegen kirchliche Mitarbeiter nicht halt, wie etwa im Falle der Sozialpastoral von Tumaco im Departement Nariño, die seit zwei Jahren wiederholt Drohungen von den so genannten "Schwarzen Adlern" erhält, die verlangen, dass sie ihr Engagement für die Opfer des Konflikts einstellen. Die Furcht vor diesen Drohungen ist in Tumaco besonders groß, denn bereits im Jahr 2001 wurde die damalige Leiterin der Sozialpastoral, Yolanda Cerón, von Paramilitärs ermordet. In anderen Regionen des Landes ist die Position der Kirche an der Seite der Opfer bedauerlicherweise oft weniger klar und eindeutig: Die Initiativen der nationalen Sozialpastoral, wie etwa zur "nationalen Friedenswoche", finden nicht überall das gleiche Echo, und die Opfer nicht immer denselben Rückhalt.


Die Landfrage: Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

Die Erfahrungen der Vertriebenen von Córdoba verweisen auf die zentrale Grundproblematik im kolumbianischen Konflikt: Die Überwindung der tiefen sozialen Ungerechtigkeit ist notwendige Voraussetzung für eine Friedenslösung. Dies zeigt sich am deutlichsten im Zusammenhang mit der Landfrage, steht diese doch in enger Wechselbeziehung mit den Gewaltakten. Nach Angaben des kolumbianischen Rechnungshofes von 2006 sind in Verbindung mit der Binnenvertreibung etwa fünfeinhalb Millionen Hektar Land gewaltsam umverteilt worden. Die Opferbewegung "Movice" geht sogar von zehn Millionen Hektar aus.

In einigen Regionen lässt sich sehr genau nachvollziehen, wie die Menschen systematisch vertrieben wurden, um die Kontrolle über Land zu erlangen und dieses für agroindustrielle Großprojekte zu nutzen. Der Fall der Gemeinde Curvaradó am Atratofluss wurde von der Ordenskommission für Gerechtigkeit und Frieden (Comisión Intereclesial de Justicia y Pazl), dokumentiert: Nach massiven Vertreibungen wurde das Land der afrokolumbianischen Kleinbauern widerrechtlich für eine agroindustrielle Palmölplantage genutzt und nicht mehr zurückgegeben. Erst nach mehreren Morden an Sprechern der Gemeinde und vielfachen internationalen Protesten haben die Kleinbauern einen Teil des Landes zurückerhalten.

Immer noch gibt es aber Pflanzungen auf dem Grund und Boden der Gemeinde, die von Polizei und Militär geschützt werden, während die rechtmäßigen Eigentümer in tiefem Elend leben. Ein Vertreter der Ordenskommission brachte die Erfahrung auf den Punkt: Die Vertreibungen sind nicht Folge des Konfliktes, sondern in vielen Fällen das Motiv, um sich Güter zu sichern und die Kontrolle über das Territorium zu gewinnen. Neben der Agrarindustrie berichten kolumbianische Organisationen besonders aus dem stark aufstrebenden Bergbausektor von gewaltsamer Aneignung von Land für wirtschaftliche Zwecke.

Immer häufiger sind davon indigene Gemeinden

betroffen, die eigentlich unter besonderem rechtlichen Schutz stehen, wie die nationale Indigenenorganisation eindrucksvoll dokumentiert. Auch in diesem Bereich ist die Bilanz der Regierung Uribe wenig erfreulich: nachdem die Anzahl von neuen Vertreibungen in den Jahren 2005 bis 2007 zurückging, ist sie rasch wieder angestiegen. Insgesamt geben das Nationale Sekretariat für Sozialpastoral und die Nichtregierungsorganisation CODHES mehr als vier Millionen Vertriebene seit Ende der achtziger Jahre an. Dies ist die zweithöchste Zahl von Binnenvertriebenen weltweit, und diese humanitäre Katastrophe setzt sich jeden Tag fort.


Mit dieser massiven gewaltsamen Umverteilung von Land hat sich die traditionell schon extrem hohe Landkonzentration in Kolumbien weiter verstärkt. Die Indikatoren für Einkommensverteilung der Vereinten Nationen haben sich weiter verschlechtert, und heute ist Kolumbien im südamerikanischen Vergleich nah an die Verhältnisse von Brasilien herangerückt. Die Ausgrenzung weiter Teile der Bevölkerung von gesellschaftlichem Wohlstand stellt das zentrale Hindernis für eine Friedenslösung dar.

Mehr als die Hälfte der Kolumbianerinnen und Kolumbianer gelten als arm, 20 Prozent als extrem arm. Das relativ solide Wirtschaftswachstum von durchschnittlich rund fünf Prozent auch während der Krisenjahre ist an dieser Bevölkerungsgruppe weitgehend vorbeigegangen. Solange jene strukturelle und gewaltförmig hergestellte Ungerechtigkeit weiterbesteht, wird es immer wieder Personen und Gruppen geben, die versuchen, diese mit ebenfalls gewaltförmigen Mitteln zu überwinden. Solche Verhältnisse waren stets auch der Nährboden für die Rekrutierung der illegalen bewaffneten Gruppen aller Couleur und Provenienz.

Offenbar denkt die neue Regierung über die Frage eines neuen "Landgesetzes" nach, mit dem auch die Rückgabe von Land an die Opfer geregelt werden soll. Allerdings liegen noch keinerlei Konzepte vor. Es mangelt Kolumbien nicht an Gesetzen, sondern an einem wirklichen Veränderungswillen. Sollte in der Agrarpolitik ebenfalls mehr Kontinuität als Neuerung auf der Agenda stehen, ist hier auch kein durchschlagender Vorschlag zu erwarten, denn die Widerstände aus den traditionellen Eliten gegen eine wirkliche Umverteilung werden mächtig sein.

Hier kann die Kirche zu einem bedeutenden Akteur werden, wenn sie ihre Leitlinien stärker in die Debatte einbringt. Bis heute fehlt ein starkes Statement, das den Inhalten der vielen Erklärungen der Bischofskonferenz zu Gerechtigkeitsfragen und insbesondere der Landfrage Nachdruck verleihen würde. Die 2004 verabschiedete Erklärung zur Landfrage und Agrarpolitik wäre auch heute noch ein hervorragender Ansatzpunkt für eine nationale Diskussion um diese Fragen.


Neben vielen Elementen der Kontinuität zwischen Ex-Präsident Uribe und seinem Nachfolger Santos sind auch Signale des Wandels zu erkennen. Uribe hat seine politischen Gegner genauso wie die demokratischen Kontrollinstitutionen, die seiner Linie nicht vollständig folgten, oft in harscher Form öffentlich angegriffen. Selbst Magistrate in den Obersten Gerichten mussten sich von ihm der Nähe zur Guerilla bezichtigen lassen. Hier hat Santos bereits vor seiner Amtseinführung erkennen lassen, dass sein Weg eher der des Konsenses sei, als er von einer "Harmonisierung" von Positionen sprach.

Eine größere Dialogbereitschaft kann die Polarisierung im Land sicher überwinden helfen. Hierauf setzt auch der Vorsitzende der kolumbianischen Bischofskonferenz, Erzbischof Rubén Salazar, der diese erhöhte Dialogbereitschaft in langen Gesprächen mit dem Kandidaten Santos erfahren konnte. Die Herausforderung für die Kirche vor Ort wird aber weiterhin sein, inmitten von bewaffnetem Konflikt und sozialer Spaltung ein Minimum an gesellschaftlichem Leben zu erhalten, das einen Weg zu Gerechtigkeit und Frieden für die Zukunft eröffnet. Dafür wird sie in Zukunft sicher eine klarere öffentliche Positionierung auf der Basis breit getragener Prinzipien und Kriterien benötigen.


Stefan Ofteringer (geb. 1966) ist Berater für Menschenrechte in Kolumbien des Bischöflichen Hilfswerks Misereor. Er berät Partnerorganisationen des Hilfswerks bei ihrer Menschenrechtsarbeit und bei Informationsarbeit im System der Vereinten Nationen. Er bereist das Land seit fast 20 Jahren.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 9, September 2010, S. 469-473
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2010