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STANDPUNKT/073: Die Transformation des Abendlandes - Eine pfingstliche Betrachtung (Ingolf Bossenz)


Der Karneval gehört zu Deutschland

Die Transformation des Abendlandes hat gerade erst begonnen. Eine pfingstliche Betrachtung

Von Ingolf Bossenz, Pfingsten 2016


Jerusalem, 49 Tage nach Jesu Auferstehung. Die Jünger haben sich im selben Raum des Hauses versammelt, in dem sie vor knapp zwei Monaten gemeinsam mit Jesus beim letzten Abendmahl saßen: »Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.« So wird das Ereignis, das hernach Pfingsten genannt wurde (vom altgriechischen »pentekosté heméra«, 50. Tag - des Osterfestkreises; der Ostersonntag ist hier mitgezählt) in der Apostelgeschichte geschildert.

Berlin (Ost), Pfingsten 1961 n. Chr. Von meinen Eltern, die es immer gut mir meinten, wurde ich als Kind auch zu Pfingsten beschenkt. Die für mich faszinierendste Gabe war ein sogenannter Hirschfänger: ein einseitig geschliffenes Messer mit »Blutrille«, dessen Klinge in einer per Schlaufe und Druckknopf zu schließenden Lederscheide steckte und dessen Griff eine pelz- und hufbesetzte Rehpfote war. Seither ist Pfingsten für mich assoziativ mit diesem belangvollen Präsent verbunden. Dass eine solche Blankwaffe durchaus zu Pfingsten passt, wurde mir später klar, als ich wusste, was dieses Fest bedeutet.

Mit der Ausgießung des Heiligen Geistes über die Jünger des inzwischen zum Himmel aufgefahrenen Jesus begann die Geschichte der christlichen Kirche und damit der Missionierung. Eine Missionierung, die nicht nur fromme Apostel (wie den Erzpropagandisten Paulus) und wortreiche Agitatoren auf den Plan rief, sondern auch ehrgeizige und machthungrige Potentaten, die in dem neuen Glauben eine willkommene wirkungsreiche Legitimationsideologie ihrer Herrschaft sahen. Möglicherweise auch mit dem Hirschfänger, vor allem aber mit dem Schwert wurde der ureigentlich versöhnlich gemeinten Botschaft Jesu (»Liebet eure Feinde«) immer wieder blutig der nötige Nachdruck verliehen.

Oberammergau, Mai 2016 n. Chr. In genau vier Jahren beginnt in dem oberbayerischen 5000-Seelen-Dorf wieder - wie alle zehn Jahre seit dem 17. Jahrhundert - das »Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus«. Als Passionsspielleiter wiedergewählt ist Christian Stückl, der diese Aufgabe seit den Spielen 1990 erfüllt. Stellvertreter des Katholiken Stückl wurde Abdullah Kenan Karaca, Oberammergauer Muslim mit türkischen Eltern. Eine Kulturrevolution, die vor Jahren wohl bei den Oberammergauern wie auch bei den Kirchen, die ebenfalls bei der Passion mitreden, für Unmut und Protest gesorgt hätte. Ist Oberammergau, das insbesondere bei Gläubigen in den USA nachgerade als Inkarnation christlicher Tradition gilt, ein Indiz für die schleichende Islamisierung Deutschlands? Kaum. Ein Muslim macht aus der Passion Christi kein islamisches Mysterienspiel. Was ohnehin nicht in der Absicht des professionellen Theatermannes Karaca liegt. Aber Oberammergau ist ein Indiz für den Wandel, für die Öffnung von Religionen, für deren Abkehr von Ausschließung und Ausschließlichkeit. Was in diesem Fall vor allem für die christliche Religion gilt. Was einst mit Zähnen und Klauen, mit Schwert und Hirschfänger über Länder und Kontinente per Glaubenseifer und Gewaltorgien verbreitet und in die Köpfe von Willigen wie Unwilligen gepresst wurde, ist - im Unterschied zum Islam - längst friedliche Folklore.

Vor solchem Hintergrund ist es ausgesprochen spannend, dass Regisseur Stückl, der jedes Jahr zwischen den Passionen im Oberammergauer Spielhaus Theater inszeniert, im kommenden Sommer Henrik Ibsens »Kaiser und Galiläer« aufführen lässt. Das Schauspiel wird zwar wegen seines enormen Umfangs (Ibsens längstes Stück) und der Schwierigkeiten, es zu inszenieren, selten gespielt, gilt aber als wichtigstes Werk des norwegischen Dramatikers. Im Mittelpunkt steht der 360 bis 363 regierende römische Kaiser Julian, ein Neffe Konstantins des Großen. Sein Onkel hatte die sogenannte Konstantinische Wende eingeleitet - mit der Entscheidung, von den im Imperium Romanum präsenten Groß- und Kleinreligionen, heidnischen Splittergruppen und sonstigen Sekten, Glaubens- und Aberglaubensrichtungen das relativ junge Christentum zu präferieren. Aus einer verfemten und verfolgten Abspaltung des Judentums wurde eine Staatsreligion samt allen damit verbundenen Privilegien, Versuchungen und Verhängnissen. Julian, der Lehre des »Galiläers« Jesus abtrünnig und den alten heidnisch-hellenischen Gottheiten zugetan, wollte in seiner kurzen Regierungszeit nicht weniger als die Wende dieser Wende, die Entmachtung des Christentums und die Wiedereinführung des Mithraskultes, in dessen Zentrum die Verehrung der Sonne stand.

Julians Kampf gegen die der römischen Geschichte und Kultur fremde Jesus-Bewegung war der einzige Versuch mit Erfolgsaussicht, das Christentum zurückzudrängen. Er scheiterte und »Julian Apostata«, der Abtrünnige, hatte sich einen zwar tragischen, aber festen Platz in der Geschichte gesichert.

Tatsache ist, dass der Islam in der heutigen Welt die glaubensstärkste und in Qualität wie Quantität wirkmächtigste identitätsstiftende Religion darstellt.

Ohne dieses Scheitern würde es 2020 keine Passionsspiele in Oberammergau geben, aber auch keine Muslime in dieser oberbayerischen Gemeinde. Denn der oder die Gründer des Islam hat/haben sich nicht nur großzügig an den im 7. Jahrhundert vorliegenden Schriften und Überlieferungen des Christentums bedient (wie es zuvor die Christen bei den Juden taten). In der Religionsforschung wird auch die These vertreten, der Islam sei eine direkte Abspaltung des seinerzeit im arabischen Raum agierenden Christentums. Allerdings setzten die Anhänger Mohammeds noch eins drauf und behaupteten nicht nur, eine neue, originäre Religion geschaffen zu haben, deren Worte und Weisungen direkt von Gott kämen. Der Islam wurde zudem ungeachtet seiner späteren Entstehung zur Leit- und Urreligion deklariert, aus der - sozusagen in numinoser Antizipation - zunächst Juden- und Christentum entstiegen und dann der Islam als Höhe- und Endpunkt göttlichen Erschaffens.

Es gibt einen weiteren bemerkenswerten Aspekt an der Geschichte des Kaisers Julian, der realen wie der von Ibsen in Szene gesetzten, die das historische Geschehen in die Nähe einer Ätiologie rückt, also einer paradigmatischen Erzähldeutung aktueller Ereignisse oder Zustände: Das Ringen zwischen Hellenismus und Christentum und der schließliche Sieg des »Galiläers« im Römischen Reich des 4. Jahrhunderts zeigen, dass mit einer Religion, die es geschafft hat, ihre kultisch-ideologischen Anker nicht nur okkupatorisch-hegemonial (wie im arabisch-islamisch beherrschten »Al-Andalus« auf der Iberischen Halbinsel 711 bis 1492), sondern sozial-regulär in der Gesellschaft zu versenken, auf Dauer zu rechnen ist. Nur das - und nichts anderes - kann der Satz »Der Islam gehört zu Deutschland« bedeuten; die Feststellung des Faktischen, das offensichtlich ist. Mithin eine Binsenwahrheit. (Insofern ist das Gegenteil dieses Satzes, das jetzt sogar im Programm einer politischen Partei festgeschrieben wurde, Unsinn.)

Tatsache ist, dass der Islam in der heutigen Welt die glaubensstärkste und in Qualität wie Quantität wirkmächtigste identitätsstiftende Religion darstellt. Letzteres Spezifikum ist dem Christentum, zumindest in Europa, weitgehend abhanden gekommen. Und eine Religion, die keine Identität mehr stiftet, ist überflüssig. Sie hat ihre Schuldigkeit getan, sie kann abtreten. Doch sie hat Dank verdient: seitens des Islam, seiner Anhänger, Führer und Institutionen. Denn das Wohlwollen, die Toleranz, der Respekt, die Willkommenskultur (gäbe es diese nicht, würde wohl keine muslimische Massenzuwanderung stattfinden), auf die Muslime in Deutschland treffen, sind letztlich das Ergebnis einer jahrhundertelangen christlichen Kulturation und Sozialisation. Exemplarisch steht dafür ein Satz des Erzbischofs von Köln, Kardinal Rainer Maria Woelki: »Wer Ja zu Kirchtürmen sagt, der muss auch Ja sagen zum Minarett.«

In Zeiten weltweiter Christenverfolgung, vor allem in den islamischen Staaten, erinnert dieser Satz geradezu schmerzhaft an das Jesus-Wort bei Lukas »Und wer dich schlägt auf einen Backen, dem biete den anderen auch dar«. Papst Franziskus hatte hochoffiziell gar die islamischen Länder »demütig« ersucht, doch den Christen Freiheit zu gewähren. Ungeachtet der Repression und Gewalt gegen seine Glaubensbrüder und -schwestern betont der Pontifex seine »Zuneigung zu den authentischen Anhängern des Islam« und lobpreist den »wahren Islam«, der - so Franziskus - »jeder Gewalt« entgegenstehe.

Geht noch mehr Demut, ohne die Grenze zur Unterwerfung zu überschreiten? Schließlich bedeutet Islam »Erlangung von Frieden durch Unterwerfung unter Allah«.

Berlin-Kreuzberg, Pfingsten 2016 n. Chr. Durch die Straßen des hauptstädtischen Szeneviertels zieht wie jedes Jahr der bunt-ausgelassene Pulk des Karnevals der Kulturen. Der Karneval gehört zu Deutschland. Hoffen wir, dass es ebenso friedlich, tolerant, freudvoll und harmonisch abläuft bei der ethnisch-religiösen und kulturellen Transformation des Abendlandes, die gerade erst begonnen hat.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Mai 2016
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 14./15.06.2016
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1011858.der-karneval-gehoert-zu-deutschland.html
veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Mai 2016

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