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INTERNATIONAL/236: Tragödie mit Ankündigung - Massaker in brasilianischen Gefängnissen (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasilien

Tragödie mit Ankündigung: Massaker in Gefängnissen


(Lima, 15. Januar 2017, noticias aliadas) - Zwischen dem 1. und 2. Januar 2017 sind 56 Gefangene in Brasilien ums Leben gekommen, nachdem es zu Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Banden im Gefängniskomplex von Anisio Jobim am Rande von Manaus, der Hauptstadt des nordwestlichen Bundesstaates Amazonas, gekommen war. Vier Tage später wurden 33 Gefängnisinsassen in der Haftanstalt Agricola Monte Cristo in Boa Vista, der Hauptstadt des Bundesstaates Roraima im Norden des Landes, ermordet.

Wie Justizminister Alexandre de Moraes mitteilte, handelte es sich um eine Abrechnung zwischen Mitgliedern der größten, in São Paulo gegründeten kriminellen Organisation des Landes 'Erstes Hauptstadtkommando' PCC (Primer Comando Capital) und der 'Familie des Nordens' FDN (Familia del Norte), eine mit dem 'Roten Kommando' (Comando Vermelho) verbündete Gruppe, die in Rio de Janeiro über weitreichende Macht verfügt. PCC und das Rote Kommando kämpfen um die Kontrolle der wichtigsten Haupthandelsrouten für Drogen, insbesondere um die an Bolivien, Kolumbien, Guyana, Peru und Venezuela grenzenden Gebiete.

De Moraes räumte ein, dass das brasilianische Gefängnissystem aufgrund der Überbelegung, der unhygienischen Verhältnisse und den permanenten Kämpfen zwischen rivalisierenden Banden vor dem Kollaps stehe. Nach Angaben der Gefängnisverwaltung des Bundesstaates Amazonas befinden sich in der Strafanstalt Anisio Jobim insgesamt 1.224 Insassen - während die maximale Kapazität des Gefängnisses bei 454 Gefangenen liegt.


Brasilianisches Gefängnissystem vor dem Kollaps

Die Organisation Human Rights Watch (HRW) klagte in ihrem Weltbericht 2016 die drastische Überbelegung und Gewalt in brasilianischen Strafanstalten an.

"Die Anzahl der inhaftierten Erwachsenen ist im letzten Jahrzehnt um 80 Prozent gestiegen. Im Juni 2014 lag sie höher als 600.000 Personen - das übersteigt die Aufnahmekapazität der Gefängnisse um 60 Prozent, so die neuesten Daten der dem Justizministerium unterstellten Nationalen Behörde für Gefängnisaufsicht InfoPen (Sistema Integrado de Información Penitenciaria). Die Überbelegung und der Mangel an ausreichendem Personal verhindern, dass die Gefängnisbehörden die Kontrolle innerhalb der Gefängnisse aufrechterhalten können. Das führt dazu, dass die Insassen Gewalt und Banden ausgesetzt sind", so der Bericht.

HRW gab außerdem an, dass "die Überbelegung sich auch auf die Gesundheit der Häftlinge auswirkt. Die Verbreitung des HIV-Virus in den Gefängnissen von Brasilien ist um 60 Prozent höher als in der übrigen Bevölkerung und die von Tuberkulose um fast 40 Prozent, so InfoPen. Das Fehlen der entsprechenden Maßnahmen wie medizinische Kontrollen, Präventivmaßnahmen und ärztliche Betreuung tragen zu der Verbreitung von Krankheiten unter den Insassen bei. Diese werde durch prekäre hygienische Verhältnisse und unzureichende Belüftung verstärkt".


Vom Staat vernachlässigt

Der Sicherheitssekretär des Bundesstaates Roraima, Uziel Castro, erklärte, dass es sich im Fall von Boa Vista nicht um einen Kampf zwischen Banden gehandelt habe. Einige Insassen hätten andere Mithäftlinge mit scharfen Waffen geköpft, verstümmelt und zerteilt.

Die Auseinandersetzung von Manaus war vorauszusehen, erklärte der Anwalt Glen Wilde do Lago Freitas, Mitglied der Nationalen Menschenrechtskommission der brasilianischen Rechtsanwaltskammer, gegenüber der Presse. Die 'Familie des Nordens' habe seit einem Jahr damit gedroht, Mitglieder des 'Ersten Hauptstadtkommandos' umzubringen. "Der Staat war nachlässig und hat nichts getan, um das Massaker zu verhindern", sagte er. "Es war eine angekündigte Tragödie".


Gefangene kontrollieren die Trakte

Der Nichtregierungsorganisation 'Globale Justiz' (Justicia Global) führte Ende 2015 eine Untersuchung in vier Gefängnissen in Manaus durch und kam zu dem Schluss, dass der Staat in diesen Einrichtungen keine Rolle spiele. Die Gefangenen seien diejenigen, die die Gefängnistrakte kontrollierten. Es gäbe sogar die Position des "Chaveiro" - eines Gefangenen, der dafür verantwortlich sei, die Zellen zu öffnen und zu schließen.

"Wenn man in ein und derselben Gefängniseinheit Insassen von zwei rivalisierenden Banden unterbringt, hat der Staat keinerlei Kontrolle über das, was dort drinnen passiert. Das Kommando übernimmt die organisierte Kriminalität", erklärte Marcos Fuchs, stellvertretender Direktor von Conectas, einer brasilianischen Organisation zur Verteidigung der Menschenrechte.

Brasilien hat die vierthöchste Anzahl von Strafgefangenen in der Welt - nach den USA, China und Russland. In den Gefängnissen befinden sich 662.000 Insass*innen. Diese Zahl übersteigt die Aufnahmekapazität der Gefängnisse um 67 Prozent.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte forderte die brasilianischen Behörden in einer Mitteilung zu einer "sofortigen, objektiven und effektiven" Untersuchung der Vorfälle in Manaus und Boa Vista auf. Gleichzeitig erklärte er, dass er die Ereignisse nicht für Einzelfälle halte, vielmehr spiegelten diese "den chronischen Zustand der Strafanstalten des Landes".


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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2017

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