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INTERNATIONAL/096: Libyen - Keine Rückkehr nach Tawergha, Ex-Gaddafi-Anhänger weiterhin bedroht (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. August 2012

Libyen: Keine Rückkehr nach Tawergha - Ex-Gaddafi-Anhänger werden auch weiterhin bedroht

von Rebecca Murray

Listen mit Namen von Vertriebenen im provisorischen Lager Fallah - Bild: © Rebecca Murray/IPS

Listen mit Namen von Vertriebenen im provisorischen Lager Fallah
Bild: © Rebecca Murray/IPS

Misrata, Libyen, 24. August (IPS) - Ein Jahr ist vergangen, seit die Einwohner der libyschen Küstenstadt Tawergha vor den blutigen Vergeltungsschlägen nach dem Sturz von Machthaber Muammar al-Gaddafi geflohen sind. Sie würden gern in ihren Heimatort zurückkehren, fürchten jedoch weiterte Racheaktionen.

"Wir gerieten unter schweres Geschütz, viele wurden getötet, und wir liefen weg, ohne etwas mitzunehmen", erinnert sich die 23-jährige Studentin Huwaida, die gemeinsam mit 200 Nachbarn aus Tawergha geflohen ist. Nun campiert sie auf der verlassenen Baustelle 'Fallah' in der Hauptstadt Tripolis.

Die Menschen von Tawergha waren Gaddafi-Getreue, die auf Seiten der Soldaten gegen die Rebellen kämpften. Die Mehrheit stammt aus Subsahara-Afrika. Huwaidas Familie und Freunde leben nun verstreut zwischen Tripolis, Bengasi und der südlich gelegenen Wüstenstadt Sabha. Die junge Frau ist der Meinung, dass die Tawerghaner für das, was einzelne Gaddafi-Anhänger verbrochen haben, kollektiv bestraft werden.

Das benachbarte Misrata wurde während des brutalen Konflikts im vergangenen Jahr besonders hart getroffen. Nach der Befreiung der Stadt im August 2011 fuhren Milizionäre in das etwa 40 Kilometer entfernte Tawergha, um Rache zu üben. Alle verlassenen Gebäude wurden systematisch zerstört. Übrig geblieben ist eine Geisterstadt.

Die Tawerghaner haben sich in Misrata für ihre Rolle in dem Konflikt entschuldigt. Sie sind zur Aussöhnung bereit. Sie nahmen auch an den Wahlen vom 7. Juni teil. Ihr Kandidat Maree Mohamed Mansour Raheel konnte als Unabhängiger einen Sitz im nationalen Parlament erringen.


Schuldige auf beiden Seiten sollen bestraft werden

Die Menschen aus Tawergha hoffen nun auf eine starke Regierung, die einen fairen nationalen Aussöhnungsprozess in Gang bringt. "Wir stehen für das ein, was manche von uns getan haben", erklärt Abdel Rahman Mahmoud, ein führender Vertreter der Stadt. Nun müssten all jene, die auf beiden Seiten das Gesetz gebrochen hätten, vor Gericht gestellt werden. "Die Einwohner von Misrata sollten uns die Listen mit den Namen der von ihnen gesuchten Tawerghanern aushändigen", sagt Mahmoud. "Die Leute sind es leid, dass das alles so lange dauert."

Für die Menschen aus Tawergha bleibt der Alltag schwer zu meistern, und die Zukunft ist unsicher. Ohne Arbeit ist die Mehrheit von ihnen auf wohltätige Zuwendungen oder alte Gehälter aus der öffentlichen Verwaltung angewiesen.

Milizen haben in der Zwischenzeit eine Reihe von Angriffen auf die Flüchtlingslager in Tripolis und Bengasi gestartet. Aus Angst, entführt, verhaftet oder gefoltert zu werden, wagen sich viele der aus Tawergha Geflohenen nicht mehr aus den Lagern.

Huwaidas Familie lebt seit einem Jahr in einem schäbigen Wohnwagen nahe dem Fallah-Grundstück. Obwohl eine türkische Baufirma das Gebiet zu Beginn des Aufstandes gegen Gaddafi verließ, müssen die jetzigen Bewohner jederzeit damit rechnen, erneut vertrieben zu werden.

In einem am 2. März veröffentlichten Bericht fällte die Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats ein vernichtendes Urteil über die Aktivitäten der Misrata-Rebellen seit Ausbruch der Revolution. "Die 'Thuwar' (bewaffnete Gruppen) haben Tawerghaner in ganz Libyen getötet, willkürlich festgenommen und misshandelt. Die Stadt wurde mit dem Ziel zerstört, sie für die Menschen unbewohnbar zu machen. Mord, Folter, brutale Behandlungen und Plünderungen, zu denen es während der Feindseligkeiten gekommen ist, sind als Kriegsverbrechen zu betrachten." Nach wie vor würden diese Milizen gegen internationale Menschenrechte verstoßen, heißt es in dem Report.

Der Fischer Ahmad El-Wash hat sich nahe von Misrata an einen weißen Strand am Mittelmeer zurückgezogen. "Die Tawerghaner werden keine Chance zur Rückkehr erhalten", meint der 50-Jährige, der auf Seiten der Aufständischen gekämpft hat und verwundet wurde. "Ich bin schockiert über das, was sie während der Revolution getan haben." Der Gefahr einer Neuauflage der Brutalität werde man sich nicht aussetzen. Libyen sei ein großes Land. Sicherlich ließe für die Tawerghaner im Süden eine neue kleine Stadt gründen.


"Vergewaltigungen sind die rote Linie"

Die umstrittensten Verbrechen, die den Einwohnern von Tawergha angelastet werden, sind Massenvergewaltigungen und Misshandlungen. "Dass sie getötet haben, war nicht das Schlimmste", sagt Salim Beit Almal, der neue Vorsitzende des lokalen Rats von Misrata. "Vergewaltigungen und Folterungen sind die rote Linie." Im April hatte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Louis Moreno-Ocampo, Misrata besucht, um den Vergewaltigungsvorwürfen gegen Anhänger des früheren Regimes nachzugehen.

Ibrahim Beit Almal, der Direktor des Militärgeheimdienstes in Misrata, hat vor über zwei Monaten eine Liste mit den Namen von 3.000 gesuchten Tawerghanern an das Versöhnungskomitee in Bengasi übergeben. Eine Reaktion hat er nach eigenen Angaben nicht erhalten. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://www.icc-cpi.int/Menus/ICC/Situations+and+Cases/Situations/ICC0111/
http://www.ipsnews.net/2012/08/one-year-later-still-suffering-for-loyalty-to-gaddafi/

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IPS-Tagesdienst vom 24. August 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2012