Schattenblick →INFOPOOL →REPRESSION → FAKTEN

INTERNATIONAL/105: Pakistan - Zwischen Verfolgung und Meer, ethnische Hazara verlassen das Land (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. September 2012

Pakistan: Zwischen Verfolgung und Meer - Ethnische Hazara verlassen Land in Scharen

von Zofeen Ibrahim


Beerdigung eines Hazara-Gewaltopfers in Quetta - Bild: © Altaf Safdari/IPS

Beerdigung eines Hazara-Gewaltopfers in Quetta
Bild: © Altaf Safdari/IPS

Karachi, Pakistan, 11. September (IPS) - Es würde an ein Wunder grenzen, wenn Nadir Alis Plan, in Australien Asyl zu beantragen, aufgegangen wäre. Denn das Boot, mit dem er sein Ziel erreichen wollte, wird seit zwei Monaten vermisst.

Der 45-jährige schiitische Haraza hatte sich bis vor seiner Abreise im pakistanischen Quetta als Lohnarbeiter durchgeschlagen. Er erreichte zwar zusammen mit 24 anderen Bootsflüchtlingen am 22. Mai die indonesische Küste. Doch seitdem er von Jakarta aus erneut in See gestochen ist, hat die Familie nichts mehr von ihm gehört.

"Man hat uns gesagt, dass Meer sei gefährlich und das Boot zu klein", erzählt Qadir Nayel, Alis jüngerer Bruder. "Solange wir keine Todesnachricht erhalten, hoffen wir natürlich, dass er am Leben ist." 10.000 Euro hat Ali für die riskante Passage bezahlt.

Doch was veranlasst Pakistans Hazara, das Land unter solchen gefährlichen Umständen zu verlassen? Die 956.000 Mitglieder der schiitischen Minderheit, von denen allein 600.000 in Quetta leben, werden aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit verfolgt. Die Nachfahren von Mongolen, die an den Feldzügen von Dschingis Khan teilgenommen hatten, werden in Pakistan ähnlich drangsaliert wie die afghanischen Hazara zu Zeiten der Taliban-Schreckensherrschaft von 1995 bis 2001.

Schon vor rund 120 Jahren sind Hazara in Massen aus Afghanistan geflohen. Damals sahen sie sich von den dominanten sunnitischen Paschtunen-Stämmen bedroht. In Pakistan wurden sie zunächst freundlich aufgenommen und einige von ihnen brachten es in hohe Regierungsämter. Weitere 350.000 Hazara leben im Iran, ansehnliche Gemeinden gibt es aber auch in Europa, der Türkei und in Australien.

Die meisten der weltweit 3,4 Millionen Mitglieder zählenden Minderheit leben nach wie vor in Afghanistan. In Pakistan stellen Schiiten aller Ethnien etwa ein Fünftel der 180 Millionen Pakistaner, die wiederum in der Mehrheit Sunniten sind.


Ganze Familie auf hoher See ertrunken

Der Hazara Hussain hat den Tod von fünf Angehörigen zu beklagen. Ein Onkel mütterlicherseits, die Frau seines verstorbenen Bruders und deren drei Kinder kamen 2009 bei einem Bootsunglück in Indischen Ozean ums Leben. "Das letzte Mal, das ich mit meinem Onkel gesprochen habe, war in Jakarta, bevor die Familie an Bord ging", sagt Hussain. "Er war in Sorge und sagte mir, dass er sich besser nicht auf das Unternehmen eingelassen hätte. Am nächsten Morgen erhielten wir die Nachricht, dass das Boot gesunken ist und alle Passagiere ertrunken sind."

In den letzten Jahren haben die schiitischen Hazara in Scharen das südwestpakistanische Belutschistan verlassen. Offizielle Zahlen über das Ausmaß des Exodus gibt es nicht. Abdul Khaliq, Vorsitzender der Demokratischen Hazara-Partei, schätzt, dass in den letzten zehn Jahren mindestens 25.000 Hazara das Land verlassen haben, die überwiegende Mehrheit ging in den letzten drei Jahren. "Ich würde sagen, dass mehr als 1.000 von ihnen die gefährliche Reise nicht überlebt haben." Die Route, die die Hazara für gewöhnlich wählen, führt über Indonesien nach Australien.


Leben in Quetta gleicht russischem Roulette

Wie Ali Dayan Hasan, der Leiter des Pakistan-Büros der Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' betont, führen die Hazara in Quetta ein Ghetto-Dasein. "Sie können ihren Geschäften nur unter Einsatz ihres Lebens nachgehen. Es ist somit kein Wunder, dass so viele von ihnen in andere Staaten abwandern wollen. "Es wäre von den Zielländern äußerst grausam, die Asylanträge dieser Menschen abzulehnen", meint Hasan.

"Keiner verlässt freiwillig sein Land, seine Familie und seine Freunde, um sich auf eine Reise zu begeben, die voller Gefahren ist", meint Hussain. "Doch wir stehen mit dem Rücken zur Wand."

Nach Angaben des Südasiatischen Terrorismus-Portals (SATP), das von dem Institut für Konfliktmanagement in Neu-Delhi betrieben wird, sind seit Anfang des Jahres 47 Hazara bei 21 separaten Vorfällen getötet worden. Im letzten Jahr starben 203 Schiiten eines gewaltsamen Todes, davon 27 Hazara. Es ist keine Seltenheit, dass sie aus Bussen gezerrt und ermordet werden.

"Schon ihre schiitische Identität bedeutet eine Gefahr für ihr Leben in einem Land, das von religiöser Intoleranz, der Existenz extremistischer Gruppen und Straffreiheit in Fällen ethnisch bedingter Morde gegeißelt wird", meint Ambreen Agha, eine Wissenschaftlerin des Instituts.

Auch Hasan von HRW sieht die Hazara zweifach gefährdet: als Schiiten und als ethnische Minderheit. Untersuchungen seiner Organisation legen nahe, dass die verbotene militante sunnitische Gruppe Lashkar-e-Jhangvi (LeJ) hinter den Verbrechen an den Hazara steht.

Im Juni 2011 hatte LeJ erklärt: "Jetzt ist für uns der Kampf gegen die Hazara Pflicht. Wir werden erst ruhen, wenn wir die Flagge des wahren Islams im Land der Reinen - Pakistan - hissen." Agha zufolge zeigt eine solche Drohung vor allem eins: das komplette Versagen des pakistanischen Staatsapparats, mit dieser und anderen militanten Organisationen fertig zu werden.

Agha, die sich mit dem Leid der Hazara seit 2010 befasst, wirft dem pakistanischen Staat vor, noch nie ernsthaft gegen die Hard-core-Fanatiker vorgegangen zu sein. "Solange Islamabad seine Laissez-faire-Haltung nicht aufgibt, gibt es für die schiitischen Hazara keine Chance, in Pakistan in Frieden zu leben."


Verbrechen geduldet

Einen ähnlichen Vorwurf erhebt Hasan von HRW. "Ob nun der Staat Komplize der mörderischen LeJ-Aktionen ist oder nicht, so gibt es genügend unabhängige Beobachter, die bestätigt haben, dass die Sicherheitskräfte und Geheimdienste bei Übergriffen auf die Hazara beide Augen zudrücken", sagt er.

Inzwischen versuchen tausende Iraner, Afghanen und Pakistaner inklusive Hazara in klapprigen und überfüllten Booten die Weihnachtsinsel im Indischen Ozean zu erreichen - das Indonesien am nächsten liegende australische Territorium. Seit Ende 2009 haben mehr als 600 Menschen den Versuch, die Insel zu erreichen, mit dem Leben bezahlt.

Im August versuchte das australische Parlament die Einwanderungsgesetze zu ändern. So sollten Asylsuchende mit der Aussicht, in Off-shore-Lagern auf den Ausgang ihrer Asylverfahren zu warten, von der Reise abgeschreckt werden. "Der Indische Ozean ist groß und gefährlich. Wir haben schon viel zu viele Menschen gesehen, die bei dem Versuch, Australien zu erreichen, ihre Leben ließen", begründete Ministerpräsidentin Julia Gillard den Vorstoß ihrer Regierung. Doch das Gesetz wurde von Australiens Oberstem Gerichtshof zurückgewiesen. (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://www.hrw.org/news/2012/09/05/pakistan-shia-killings-escalate
http://www.satp.org/
http://www.ipsnews.net/2012/09/hazaras-in-pakistan-caught-between-persecution-and-the-high-seas/

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 11. September 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2012