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INTERVIEW/001: Schachdorf Ströbeck - Gelebte Kultur und Zeitkritik, Frau Heizmann im Gespräch (SB)


Gelebte Kultur und Zeitkritik (Frau Heizmann im Gespräch)

Interview mit Susanne Heizmann vom Ströbecker Schachensemble



Persönliches Engagement ist manchmal das einzige Mittel, auf das sich Menschen zurückbesinnen können, um folkloristische Traditionen vor dem Vergessen oder den Umwälzungen einer oft rücksichtslosen Zeit zu bewahren. Das Lebendschach in Ströbeck wäre ohne den Mut und die feste Entschlossenheit einiger weniger vielleicht für immer von der Bildfläche verschwunden, zum Schaden für alle nachfolgenden Generationen, denen die Erkenntnis dann verschlossen bliebe, daß das Schachspiel mehr ist als ein Wettkampf am Brett. Für ihr Eintreten zum Erhalt dieser einzigartigen Kultur- und Schachgeschichte gebührt Susanne Heizmann, die im Ensemble für Organisatorisches, Kostüme und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich ist, großer Respekt. Zwischen den Auftritten zu den Feierlichkeiten zum 30jährigen Bestehen des Lebendschachensembles am 8. Juni war Frau Heizmann freundlicherweise bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.

Entspannte Atmosphäre am Schachtisch - Foto: © 2013 by Schattenblick

SB-Redakteur im Gespräch mit Susanne Heizmann
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Heizmann, könnten Sie Ihre Funktion beim Lebendschachensemble erklären?

Susanne Heizmann: Ich helfe in der technischen Crew und kümmere mich auch um die Pressearbeit, daß Neuigkeiten an die Zeitung kommen und dergleichen. Manchmal spiele ich auch im Ensemble mit oder passe, wenn nötig, auf die minderjährigen Kinder auf, die uns ihre Eltern anvertrauen. Da muß man schon ein Auge auf sie haben. Es sind letzten Endes viele Erwachsene nötig, um das Ganze am Laufen zu halten.

SB: In der Vergangenheit wurde Schach in Ströbeck in der ersten und zweiten Sekundarstufe unterrichtet. Die Schüler traten selbstredend beim Ensemble auf. 2004 wurde die Sekundarschule Dr. Emanuel Lasker jedoch wegen zu geringer Schülerzahlen geschlossen, so daß dieser Wegfall durch Erwachsene kompensiert werden mußte. War es schwierig, sozusagen älteren Nachwuchs zu rekrutieren, der für die Kinder einspringt?

SH: Nein, am Anfang waren viele dazu bereit, weil sie die Idee gut fanden, daß wieder Erwachsene im Ensemble sind. Als aber immer mehr Arbeit auf uns zukam, wurde es zusehends anstrengender, denn nach der Wende war es schließlich möglich, daß das Ensemble auch überregional in anderen Bundesländern, durch das Kulturdorfprojekt sogar im Ausland auftreten konnte. Dazu mußte man sich Urlaub nehmen oder sich die Wochenenden freihalten. Außerdem müssen die Eltern als Begleitpersonen dafür sorgen, daß ihre Kinder regelmäßig zu den Proben kommen. Deswegen sind jetzt nur noch ein paar Engagierte übriggeblieben, die es wichtig und nötig finden, daß es weitergeht.

Frau Heizmann im weißen Tanzkostüm - Foto: © 2013 by Schattenblick

Susanne Heizmann
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Waren Sie bei der Premiere des Ensembles 1983 schon dabei gewesen?

SH: Nein, das war noch zur DDR-Zeit. Ich habe damals auf der anderen Seite der Mauer gelebt und bin erst vor 14 Jahren aus dem Schwarzwald nach Ströbeck gezogen.

SB: Selbst ein landesweiter Protest gegen die Schließung der Sekundarstufe blieb erfolglos. Wie ist es mit dem Ensemble danach weitergegangen?

SH: Meine Kinder waren in der Grundschule und haben wie alle anderen Schüler Schachunterricht bekommen. Natürlich wollten sie auch gerne beim Lebendschachensemble mitmachen. Einmal gab es eine Busfahrt nach Magdeburg. Da mußten die Eltern mitkommen und den Kindern beim Umziehen helfen. Das hat mir so gut gefallen, daß ich mir, als das Ensemble in Gefahr geriet, gesagt habe, jetzt müssen wir etwas machen. Damals hat der Schulleiter zu Gesprächen aufgerufen. Es kam zu einem Treffen am runden Tisch, und nach zwei oder drei Gesprächen waren wir uns einig, wie es weitergehen soll. Die Grundschule bleibt nach wie vor der Träger, nur daß die Leitung des Ensembles nicht mehr in den Händen der Lehrer liegt. Als es noch die Sekundarschule gab, stellten die Grundschüler und die Sekundarschüler die Bauern und die Offiziere, und die Lehrer beaufsichtigten das Ganze. Das lief alles prima, weil es eine Einheit darstellte. Aber jetzt, wo auch Erwachsene dabei sind und die großen Schüler, die noch Interesse daran haben oder weil ihre Eltern Wert darauf legen, von verschiedenen Schulen zusammengesucht werden müssen, konnten wir nicht mehr einen Lehrer damit beauftragen. Daher haben wir uns überlegt, daß die Erwachsenen vom Verein die Leitung übernehmen und sich auch die Programmpunkte ausdenken. Aber die Schule ist immer noch unser Träger und verwahrt auch den Fundus an Requisiten und Kostümen. Darüber hinaus üben wir die Stücke in der Turnhalle der Schule ein.

Angeregte Unterhaltung zwischen SB-Redakteur und Frau Heizmann - Foto: © 2013 by Schattenblick

Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Sind an dem Lebendschachprojekt auch andere Schulen beteiligt?

SH: Wir arbeiten derzeit an einer Arbeitsgemeinschaft der verschiedenen Schulen, an denen wir Mitglieder haben. Die Proben würden dann als Unterricht gelten. Unsere Sekundarschüler und Gymnasiasten gehen überwiegend nach Halberstadt, aber insgesamt sind vier Schulen betroffen. Wir stellen uns eine Nachmittags-AG für das Lebendschach vor, die jedoch bei uns in Ströbeck stattfinden würde. Die Schulen würden ihre Schüler dann zu uns entsenden. Es wäre schön, das hinzukriegen, damit wir einen institutionellen Rahmen bekommen, nur daß es eben eine Kooperation zwischen Schulen und dem Verein wäre. Das wird durch Erlasse auch vom Ministerium gefördert. Besonders praktiziert wird es in der Zusammenarbeit von Schulen und Sportvereinen. Der Übungsleiter am Nachmittag wird dann wie ein Lehrer behandelt. Wir könnten das theoretisch genauso machen und wären dann der erste Nicht-Sportverein im diesem Bereich. Hier in der Region läuft auf künstlerischem Gebiet noch nicht viel, vielleicht mit Ausnahme der privaten Musikschulen, die mit den Schulen zusammenarbeiten.

Schachensemble am Ströbecker Marktplatz - Foto: © 2013 by Schattenblick

Frau Heizmann und das Ensemble bei einer Tanzvorführung
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Zu DDR-Zeiten war es sehr beliebt, das Ensemble aus Ströbeck zu Veranstaltungen einzuladen, um auf diese Weise die lange Traditionsgeschichte des Lebendschachs zu Repräsentationszwecken einzusetzen. Woher kommen heutzutage die Anfragen, wenn man das Ströbecker Lebendschachensemble buchen möchte?

SH: Das fängt schon mit Halberstadt an. Wenn sie dort eine schöne Feier mit überregionalen Gästen organisieren, möchten sie gern etwas Buntes zeigen; und die verrückten Schachspieler aus Ströbeck sind dann natürlich ein echter Hingucker. Im Juli werden wir beim Festival "Ton am Dom" auf dem Domplatz in Halberstadt auftreten. In Dresden durften wir uns sogar mitten auf dem Platz vor der Frauenkirche präsentieren, obwohl man dort normalerweise keine Events veranstalten darf. Im Rahmen der Kooperation der Kulturdörfer Europas aus elf verschiedenen Ländern stellt jedes Dorf seine charakteristische Kultur vor. Ströbeck ist natürlich mit dem Lebendschach vertreten. Die Ballett-Truppe, die heute bei den Feierlichkeiten auftreten wird, kommt aus unserem tschechischen Partnerdorf Bystré. Die Griechen wiederum zeigen Volkskunst und die Spanier kommen mit ihrem Dudelsack-Orchester. Die Idee zu dem Kulturdorfprojekt stammt von den Holländern aus Wijk aan Zee, wo eine besondere Schachturniertradition existiert. Über dieses Projekt hatten wir auch schon einige Auslandseinsätze, zumal die EU solche Kulturinitiativen unterstützt. Für viele Kinder im Ensemble, die keine reichen Eltern haben, ist es die einzige Möglichkeit, für ein paar Tage ins Ausland zu kommen. Für sie hat es einen besonderen Wert, weil sie bei Gasteltern unterkommen und so einen direkten Kontakt zur Zielkultur haben. Die Reisen sind für die Kinder auf jeden Fall ein enormer kultureller Zugewinn.

Zwei Mädchen im modernen Kostüm - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ensemblemitglieder vor der Tanzaufführung
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: In der Vergangenheit trugen die Ensemblemitglieder bei den Auftritten zwar schachlich orientierte, aber in erster Linie doch schillernde Showkostüme. Die neuen Kostüme sind dagegen eher ländlich-traditionell gehalten und drücken eine stärkere regionale Verbundenheit aus. Gibt es dazu eine Hintergrundgeschichte?

SH: Wir wollten etwas aus unserer Geschichte darstellen und haben daher versucht, eine Epoche zu finden, die es möglich machte, beide Seiten des Schachbretts mit verschiedenen Berufen abzudecken. Das war nicht leicht. Weil noch verläßliche Quellen und sogar Bilder vorhanden waren, bot sich der Zeitraum des 19. Jahrhunderts geradezu an. Beispielsweise wurden die Schäfermäntel bis in die Zeit der Fotografie hinein noch getragen. Aus den Quellen wußten wir zudem, daß die Schäfer diese Tracht seit soundsovielen Jahrzehnten trugen. Bei der Wahl des Springerkostüms half uns das berühmte Gemälde Anton von Werners von der Krönung des Kaisers im Versailler Spiegelsaal, auf dem Bismarck in der Paradeuniform der Halberstädter Kürassiere abgebildet ist. Der Witz dabei war, daß er eigentlich die blaue Uniform trug, aber mit der weißen dargestellt wurde, weil sie irgendwie prächtiger wirkte. Es heißt, er soll sich darüber maßlos geärgert haben.

Ich zeige Ihnen hier einmal die Bildvorlagen, nach denen wir die Kostüme angefertigt haben. Das waren zum Beispiel die Damen, also die reichen Bäuerinnen. Aus ihrer Tracht existierten noch Originalteile. Die Kostüme wurden so teilweise nach Bildern und teilweise nach Originalteilen nachgearbeitet.

Foto von alter Damentracht - Foto: 2013 by Schattenblick

Großbäuerinnen um 1850
Foto: 2013 by Schattenblick

Und das hier waren ihre Ehemänner, die reichen Bauern und Grundbesitzer, die im Schachspiel die Könige darstellen. Alles, ob nun die Knöpfe, Schuhe oder Strümpfe, wurde den Vorlagen nachempfunden. Daß die Großbauern seinerzeit in dieser Gegend Zylinderhüte trugen, fand ich sehr interessant.

Foto zweier Großbauern mit Zylinderhut - Foto: 2013 by Schattenblick

Elegantes Großbauerntum um 1850
Foto: 2013 by Schattenblick

Und das hier ist eine namentlich bekannte Botenfrau, die irgendjemandes Vorfahre von heute ist. Sie hat auf dem Bild aber das traditionelle Kopftuch nicht auf. Sie war Witwe und hat sich mit Botengängen von hier nach Halberstadt ihren Lebensunterhalt verdient. Interessanterweise hat sie auch Fernschachzüge, denn man hatte damals ja noch kein Telefon, von Ströbeck nach Halberstadt getragen. Es ist historisch gesichert, daß die Ströbecker mit befreundeten Schachspielern aus Halberstadt eine oder mehrere Fernschachpartien spielten. Die Tracht der Botenfrauen mit der Schürze, der Bluse und dem dazugehörigen Körbchen haben wir für das Schach in hellen und dunklen Farben anfertigen lassen.

Historisches Foto aus dem Museumsarchiv - Foto: 2013 by Schattenblick

Ströbecker Botenfrau aus dem 19. Jahrhundert
Foto: 2013 by Schattenblick

Dieses Gemälde hier - es ist nicht das berühmte Bismarck-Gemälde im Versailler Spiegelsaal - zeigt die Halberstädter Kürassiere. Man sieht hier die beiden Knopfreihen - alles ist genauso nachgearbeitet worden. Der Vorteil war eben, daß sie hellere und dunklere Ausgehuniformen besaßen. Wie bei den Schäfern. Man weiß zuverlässig, daß ein Schäfermeister das Recht hatte, einen hellen Mantel zu tragen, während die Schäfergehilfen oder angehenden Meister in einem dunklen Mantel gingen. Dieser Beruf bot sich für das Schachspiel bestens an, und auch bei den Kürassieren gab es eine Alltags- und eine Paradeuniform. Das waren nachweislich Berufe, die in dieser Zeit verschiedenfarbige Kleidung trugen. Bei den Privatleuten, also bei der Botenfrau und dem Großbauerntum, haben wir eine helle und eine dunkle Tracht gewählt, damit es zum Schachspiel paßt.

Gemälde mit Halberstädter Reiteroffizieren - Foto: 2013 by Schattenblick

Die Herren Kürassiere
Foto: 2013 by Schattenblick

SB: Und wie kam man auf die Idee, den Turm im Schachspiel als Schäfer darzustellen?

SH: Der Turm steht und bewacht. Das paßt doch irgendwie auch zum Schäfer.

SB: Das ist ein nachvollziehbarer Gedanke.

Historisches Foto zweier Harzer Schäfer - Foto: 2013 by Schattenblick

Schäfertracht aus dem 19. Jahrhundert
Foto: 2013 by Schattenblick

SH: Auf diesem Foto hier sind die einfachen Bauern abgebildet, die nicht Landbesitzer, sondern bloße Arbeiter waren. Sie trugen tatsächlich diese bestickten Kappen, was bei den Kostümen dann ebenfalls nachempfunden wurde.

SB: Bei der Lebendschach-Aufführung heute hatten die Bauern Dreschflegel dabei.

SH: Ja, aber in früheren Auftritten, als wir noch Theater- oder Showkostüme trugen, hatten die schwarzen Bauern einen Morgenstern und die weißen einen Dreschflegel. Das sah ziemlich bedrohlich aus.

Bauer mit besticktem, festähnlichem Hut - Foto: 2013 by Schattenblick

Kleinbauer in regionaler Tracht
Foto: 2013 by Schattenblick

SB: Das heißt, die Reform in den Trachten von 2006 war auch der Versuch, wieder an alte Traditionen beim Lebendschach anzuknüpfen, die über die Leihstücke beispielsweise aus dem Halberstädter Theater ein wenig verfälscht worden sind?

SH: Die Showkostüme hatten die Intention, bei den Zuschauern Eindruck zu hinterlassen und ihnen etwas zu bieten, natürlich dem jeweiligen Zeitgeschmack entsprechend, wie die kurzen Röckchen und engen Taillen bei den rot-blauen Kostümen oder die feschen Mützen mit Federn bei den schwarz-weißen Kostümen. Das Ensemble ist früher auch in barocken, brokatähnlichen Kostümen aufgetreten, die von einer Theaterschmiede zur Verfügung gestellt wurden. Als das Lebendschachensemble anläßlich der Schacholympiade 1960 nach Leipzig eingeladen wurde, stellte das natürlich den Höhepunkt im damaligen Ensemble dar. Leipzig war auch die Veranlassung dafür, ein festes Ensemble mit einer künstlerischen Absicht auszubilden. Es ging dann nicht mehr wie früher nur darum, daß die Leute ihren Spaß daran hatten, Partien nachzuspielen, sondern sie wollten auch die Zuschauer amüsieren.

Zwei Mädchen in der Tracht der Botenfrauen - Foto: © 2013 by Schattenblick

Botenfrauen als Läufer auf dem Schachbrett
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Die heutige Aufführung zum 30jährigen Jubiläum bot ein breites abwechslungsreiches Programm, bei dem die klassische Lebendschachpartie zwar im Mittelpunkt stand, aber zugleich von verschiedenen choreographischen und tänzerischen Darbietungen eingerahmt wurde. Gibt es ein fest einstudiertes Programm, das dann bei Einladungen abgespielt wird, wie zum Beispiel in den Kulturdörfern?

SH: Na ja, das wird vorher bestimmt. Welche Programmpunkte wir in welcher Reihenfolge machen, hängt ja auch davon ab, wo wir uns umziehen können und wie weit der Weg vom Umkleideraum bis zur Bühne oder dem Brett ist.

SB: Schach ist ein universelles Spiel, das sich in allen gesellschaftlichen Schichten eingebürgert hat. Gemessen an der Präferenz für den Wettkampf sind folkloristische Reminiszenzen eher eine Randerscheinung. Nach welchen Kriterien wird bei einem Auftritt ausgewählt, was man im Einzelfall präsentieren möchte?

SH: Es ist uns wichtig, den Leuten die Ströbecker Schachtradition, die sich in unseren alten Kostümen ausdrückt, auch durch Wortbeiträge nahezubringen, damit sie erfahren, daß es bei uns eine Schule gibt, in der alle Kinder als Pflichtfach Schach lernen, und daß die Anfänge des Schachspiels in Ströbeck viele Jahrhunderte in die Geschichte zurückreichen. Je nachdem, wo man hinfährt, ändert sich natürlich auch der Text der Moderation. In Halberstadt kennt man uns, da werden die Beiträge selbstverständlich kürzer gehalten. Wenn wir jedoch Auftritte im Westen haben, wo man von Ströbeck vielleicht nie etwas gehört hat, wird unsere Geschichte des langen und breiten erzählt. Der Ablauf der Programmpunkte ist so stets an das jeweilige Publikum angepaßt.

Zwei Kürassiere stehen sich auf dem Schachbrett gegenüber - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kürassiere stellen die Springer dar
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Das wäre dann die Sichtbarmachung einer Kultur, die viele Jahrzehnte im Schatten eines ideologischen Konflikts verborgen blieb.

SH: Na klar, die Reisemöglichkeiten zur DDR-Zeiten und auch vorher waren nicht besonders ausgeprägt. Zusammen irgendwohin zu fahren und das Lebendschach vorzuzeigen, war ja nicht möglich. Es war eher umgekehrt, daß Leute hierhergekommen sind - darüber gibt es ganz alte Filme - und das Ströbecker Schach dann in die Welt hinausgetragen haben. Seit wir nach dem Fall der Grenze wieder reisen können, ist das anders geworden. Jetzt überlegt man sich vorher, was man den Leuten von unserem Dorf erzählen möchte. Und dazu bedient man sich der Stilmittel des Tanzes, der Musik, der Wortbeiträge bis hin zum Lebendschach. Manchmal werden zusätzlich noch Broschüren verteilt.

SB: Neben Wortbeiträgen wurden auch schöne Gedichte vorgetragen, wobei die Figur des Schleichs eingebaut wurde, die selbst in Ströbeck mehr oder weniger in Vergessenheit geraten war. Man weiß über diese Figur aus dem Kurierschachspiel im Grunde kaum noch etwas.

SH: Ja, und weil sie den Schleich für einen Pierrot halten, wundern sich die Leute, was er bei den Schachfiguren macht.

Schäfer in weißer und dunkelblauer Tracht - Foto: © 2013 by Schattenblick

Mit dem Hirtenstab das Brett bewachen
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Die Moderation war heute natürlich auf das Jubiläum zugeschnitten. Einen weiten Raum nahmen daher die Bräuche ein, die man in Ströbeck in Verbindung mit dem Schachspiel pflegt. Inwiefern ändert sich das Programm, wenn das Ensemble im Ausland auftritt?

SH: Wir haben auch schon einmal Wortbeiträge in zusammengefaßter Form übersetzt und im Publikum als Handzettel herumgehen lassen oder schickten, wenn wir im Rahmen des Kulturdorfprojekts eingeladen wurden, dem befreundeten Kulturdorfverein Informationen zu. Wenn wir im voraus wissen, daß die Zuschauer mehrheitlich Ausländer sind, dann wird nicht soviel erzählt, sondern gleich das Papier verteilt. Wir haben auch schon mit Bildern gearbeitet. Diese alten Fotos haben wir auch in Plakatgröße, und wenn die Figuren dann aufmarschieren, werden die Fotos herumgezeigt, damit die Leute die historischen Vorlagen für die Kostüme sehen.

SB: Während der Jubiläumsfeierlichkeiten haben Kinder einen Schachbrett-Tanz sowie verschiedene Choreographien mit übergroßen Schachfiguren und schwarzen und weißen Flaggen aufgeführt. Sind das Neukreationen?

SH: Nein, die gab es schon vor 30 Jahren. Das ist ja der Witz daran, daß jetzt Erwachsene im Publikum saßen, die das als Kinder selbst gemacht haben. Das war wie eine Art Klassentreffen.

Kleine Kinder laufen mit Schachbrettern auf - Foto: © 2013 by Schattenblick

"Hoch die Bretter" - Ströbecker Schachbrett-Tanz
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Gibt es für diese Tanzeinlagen der Kinder einen
kulturgeschichtlichen Hintergrund?

SH: Ich glaube nicht. Sie wurden vor 30 Jahren, als das Ensemble gegründet wurde, als Teil des Showprogramms erfunden.

SB: Hat es in Ströbeck, bevor das Ensemble praktisch als Institution der Kulturpflege gegründet wurde, eine vergleichbare Struktur gegeben?

SH: Das Ensemble fing eigentlich mit dem Tanzen an. Vorher sind sie bei besonderen Anlässen wahrscheinlich in ihren Alltagstrachten, oder was sie an Kostümen hatten, aufgetreten. Die kleinen Bäuerchen haben dann zur Musik ihre Schachbretter und Dreschflegel zusammengehalten und sich umeinander gedreht oder haben eine Polka getanzt. Das gab es vorher auch schon, aber als man merkte, daß das Publikum Showtänze sehen möchte, wo der Bezug zum Schach eigentlich nur noch als Accessoire oder Requisit Bedeutung hat - die Mädchen haben Schachfiguren auf ihren Röcken und schwenken ein Schachbrett -, ist die Folklore gegenüber der Performance in den Hintergrund getreten. Das ist dann praktisch nur noch das pure Entertainment mit ein klein bißchen Schachbezug.

Tänzerinnen in Schwarz und Weiß - Foto: © 2013 by Schattenblick

Szene aus dem Ströbecker Schach-Musical
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Das würde heißen, daß man diese Kindertänze mit ins Programm aufgenommen hat, um eine Tradition publik zu machen?

SH: Ja, und um sie zeitgemäß einzupacken.

SB: Hat es seit der Gründung des Ensembles einmal eine Zeit ohne Präsentation in Ströbeck gegeben?

SH: Als die Sekundarstufe geschlossen wurde, war es ein Jahr lang ziemlich mau. Es hat zwar Versuche gegeben, das Ensemble fortzusetzen, aber es gab da viel Enttäuschung, weil Stellen gestrichen und Lehrer an andere Schulen versetzt wurden. Daraufhin trat die alte Leitung zurück. Als das Schachfest jedoch näher rückte, haben einige Leute gesagt, wir können kein Schachfest ohne Schachensemble und Lebendschach machen. Zieht euch etwas an, egal was, und führt etwas auf. Wir hatten damals aber schon die schönen neuen Kostüme und brauchten nur noch Leute hineinzustecken. Und die haben wir dann zusammengesucht. Am Anfang wollte jeder mitmachen und mit der Zeit hat sich herausgestellt, wer dabei bleibt.

Zwei Ensemblemitglieder in Großbauerntracht - Foto: © 2013 by Schattenblick

Großbauer als König
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: War der Übergang von der Truppe, die seinerzeit nach Leipzig zur Schacholympiade geschickt wurde, zur jetzigen Form des Ensembles fließend oder gestaltete er sich mit Hindernissen, denn die Leipziger Crew war ja bestenfalls halbprofessionell und wurde wahrscheinlich speziell für dieses Ereignis zusammengestellt?

SH: Nein, das waren tatsächlich alles Schüler. Da hatte jeder sein Kostüm und wurde von der Schule, was heute nicht mehr möglich ist, freigestellt. Man wußte genau, wer der König und wer die Dame ist. Die Warteliste derer, die mitmachen wollten, war so lang, daß niemand sagen konnte, heute habe ich aber keine Lust, sonst ist er herausgeflogen. In DDR-Zeiten herrschte Zucht und Ordnung. Das Problem heute ist, daß die Kinder sehr viele Freizeitangebote haben und nicht immer zu den Proben kommen können oder auf Urlaub sind. Wir versuchen, jedem Kind seinem Stammplatz im Ensemble zu sichern, aber sie wachsen mit der Zeit natürlich aus den Kostümen heraus und irgendwann helfen auch keine Gummibänder mehr. In der heutigen Zeit ist alles beliebiger und flexibler geworden, aber wir haben trotzdem noch diese wunderschönen Kostüme. Man muß halt zusehen, daß man jemanden reinsteckt, der noch einigermaßen figürlich hineinpaßt.

Zwei Ensemblemitgliederinnen in Großbäuerinnentracht - Foto: © 2013 by Schattenblick

Großbäuerinnen ganz Dame
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Im Museum sind Bilder aus der Vorkriegszeit ausgestellt, auf denen Kinder und Erwachsene beim Lebendschach zu sehen sind.

SH: Ja, sie hatten damals noch einfache Kostüme, die man relativ gut anpassen konnte. Da wurden die Kostüme nach den Bäuchen gemacht.

SB: In der Moderation zur Lebendschach-Aufführung wurden heute viele Legenden und Anekdoten erzählt, die im Kern um die Frage kreisen, wie das Schachspiel nach Ströbeck gekommen sein könnte. Wenn man wie das Ensemble im Dienst einer Tradition steht, ist man dann nicht auch zur Aufklärung verpflichtet?

Zwei Kinder in Ströbecker Bauerntracht - Foto: © 2013 by Schattenblick

Der alten Bauerntracht nachempfunden
Foto: © 2013 by Schattenblick

SH: Ja, eine Aufklärungspflicht besteht, aber es ist vor allem der Wunsch, sich selbst und die Dinge, die einem wichtig sind, anderen zu präsentieren. Sicher kann man zwischen Legenden und beweisbaren Fakten unterscheiden, aber man möchte auf jeden Fall diese Geschichte, die doch ziemlich einzigartig ist, zunächst einmal erzählen. Daß das mit Guncellin genau 1011 gewesen sein soll, ist eine Legende. Man weiß es nicht mehr exakt. Aber man hat Quellenforschung betrieben und es lassen sich auch alte Bücher finden, in denen Ströbeck soundso früh als Schachspielerdorf erwähnt wird. In Verbindung mit dem, was in den einzelnen Epochen an Völkerbewegungen stattgefunden hat, kann man ungefähr nachvollziehen, auf welchem Wege das Schach nach Ströbeck gekommen ist. Den geschichtlichen Hintergrund kann man dem Publikum allerdings nur in verkürzter Form wiedergeben, aber für Interessierte gibt es schriftliche Belege, die man hier im Schachmuseum einsehen kann.

Kleine Mädchen drehen sich paarweise um Schachfiguren - Foto: © 2013 by Schattenblick

Tanz um die Figuren
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Trachtenpflege ist die eine Seite, denn sie ist zugleich auch Teil der eigenen Geschichte, das andere ist der Umgang mit dem Kommerz als Touristenattraktion. Läßt sich beides miteinander vereinbaren, ohne die Tradition, die es zu erhalten wert ist, dabei preiszugeben?

SH: Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Bevölkerung ein Bedürfnis danach hat, mindestens einmal im Jahr beim Schachfest dabei zu sein. Wenn das Lebendschach kommt, sind alle da. Wenn sie es gesehen haben, können sie wieder Bier trinken und Würstchen essen oder feiern. Hauptsache, man hat das Lebendschach gesehen, vor allem auch deswegen, weil es generationenübergreifend ist und viele da mitgemacht haben und jetzt wissen möchten, wer es weiterführt. Natürlich hofft jede Region, jedes Dorf und jede Stadt auf Tourismus, und dieser Trend wächst in Deutschland. Um aber eine Zugkraft auf Touristen auszuüben, bräuchten wir eine andere Infrastruktur. Man müßte zumindest ein Café und ein Hotel oder eine Jugendherberge haben.

Kostümierte Jugendliche schwenken Fahnen auf dem Marktplatz - Foto: © 2013 by Schattenblick

Schwarz-weiße Flaggenchoreographie
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Im Grunde ist das Lebendschach ein Brauch, der weitgehend regional gepflegt wird, oder einmal etwas provokant gefragt: Es kommen jetzt keine Busse mit Touristen aus Japan?

SH: Aus Japan nicht gerade, aber ein Kegelverein hat sich hier einmal in der Nähe in ein Hotel einquartiert und dabei unter anderem auch das Schachmuseum besucht.

SB: Aus dem, was Sie gesagt habe, entnehme ich, daß das Lebendschach ein wichtiger Teil der Ströbecker Kultur ist und einen hohen Stellenwert im Selbstverständnis seiner Einwohner genießt. Sie werden es pflegen, ob nun Leute kommen oder nicht.

SH: Wir wären natürlich froh, wenn wir unsere Geschichte möglichst vielen erzählen könnten. Ob sie nun zu uns kommen oder wir zu ihnen, ist unerheblich, solange das Lebendschach erhalten bleibt.

SB: Spielen Sie eigentlich selbst Schach?

SH: Nein, ich kann überhaupt kein Schach spielen.

SB: Und ihre Kinder?

SH: Meine Kinder können es prima.

SB: Herzlichen Dank, Frau Heizmann, für das Interview.

Spielposition beim Lebendschach - Foto: © 2013 by Schattenblick

Ein Brett voller Leben
Foto: © 2013 by Schattenblick

11. Juli 2013