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INTERVIEW/005: Schach im Norden - Zündstein der Geistesblitze ... (Teil 1)    Karsten Müller im Gespräch (SB)


Harte Arbeit und der Schweiß der Leidenschaft


Gespräch mit Karsten Müller am 18. Mai 2015 in Hamburg

Es gibt kaum eine Region der Welt, in der das Schach nicht verwurzelt ist. Auch wenn es in bestimmten Kulturen seine eigene und mitunter eigentümliche Erscheinungsform ausgebildet hat wie beispielsweise in China oder Japan, läßt sich dennoch nicht verleugnen, daß sich im Schachspiel die wesentlichen Merkmale der zivilisatorischen Entwicklung des Menschen widerspiegeln. Über seinen kulturhistorischen Hintergrund streiten die Gelehrten bis heute, aber die Faszination, die vom Schach ausgeht, ist ihm bis auf den heutigen Tag nicht abzusprechen. Im Interview des Schattenblick mit dem Hamburger Großmeister Dr. Karsten Müller, der viele Jahre selbst auf dem Turnierparkett gespielt hat und inzwischen als Trainerpersönlichkeit mit aufopferndem Engagement Talente im ganzen Bundesgebiet fördert und betreut, ist diese unvergängliche Faszination nur allzu präsent.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Karsten Müller
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick: Karsten, du hast schon in jungen Jahren mit dem Schachspiel angefangen. Wie kam es, daß du dich für ein ernstes und streng logisches Spiel begeistert hast in einem Alter, in dem man für gewöhnlich Cowboy und Indianer spielt?

Karsten Müller: Ich habe das Schach von meinem Vater gelernt. Es hat mich von Anfang an fasziniert, genauso wie später die Mathematik. Beides hat mich regelrecht in den Bann geschlagen. Ich habe immer wieder gegen meinen Vater gespielt und immer wieder verloren, aber ich hatte die feste Überzeugung, daß sich das eines Tages ändern würde, und so kam es dann auch. Als ich aufs Matthias-Claudius-Gymnasium ging, bin ich dort der Schulschachgruppe beigetreten und habe gleich das erste Begrüßungssimultan gewonnen. Von da an galt ich in Hamburger Schachkreisen als Talent.

SB: War dein Vater Titelträger?

KM: Nein, er hat früher nur Betriebsschach gespielt, das nicht in DWZ oder Ingo gewertet wird. Schätzungsweise hat er damals eine Spielstärke von DWZ 1800 bis 1900 gehabt.

SB: Peter Leko hat als Jugendlicher auf dem harten Parkett des Turnierschachs bestehen müssen. Wie ist man mit deinem Talent beim SC Diogenes und später beim Hamburger Schachklub (HSK) umgegangen, hast du fachliche Förderung erhalten oder dich letzten Endes doch als Autodidakt durchgeschlagen?

KM: Nach heutigen Maßstäben habe ich viel zu spät mit dem Leistungsschach begonnen. Da war Peter Leko schon auf dem Weg zum Großmeister. Dieser Vorsprung ist im Grunde uneinholbar, wenn nicht spezielle Bedingungen konstelliert sind. Aber damals war es in Westdeutschland bzw. Hamburg üblich, daß man in der 5. Klasse mit dem Schach als Leistungssport anfängt. Ich war teilweise Autodidakt, auch wenn ich gute Trainer wie zum Beispiel Gisbert Jacoby hatte, der den Hamburger Jugendkader geleitet und später die Firma ChessBase mitgegründet hat. Er hat auch mit Robert Hübner gearbeitet.

SB: Könntest du einmal schildern, wie diese Förderung oder großmeisterliche Begleitung ausgesehen hat?

KM: Großmeister hat man früher nur mit dem Riesenfernrohr zu Gesicht bekommen. Es waren fast mythologische Gestalten, die sicherlich irgendwo existierten und deren Partien man nachspielen konnte, denen man aber praktisch nie begegnet ist. Das war anders als heute, wo viele der jugendlichen Talente gegen Großmeister zum Beispiel im Internet-Blitz oder bei Bundesliga-Runden spielen. Inzwischen sind sie greifbar geworden. Zu meiner aktiven Zeit existierte die Sowjetunion noch, der Eiserne Vorhang trennte Ost und West, und so gesehen waren zum einen nicht viele sowjetische Großmeister in Europa unterwegs und zum anderen gab es früher nicht so viele Turniere, so daß die Chance gering war, daß man gegen sie hätte spielen können. Die Bundesliga war damals schon sehr stark, sicher nicht so stark wie heute, und es gab seinerzeit noch die Ausländerregel. So spielten in der Hamburger Mannschaft vor allem Hamburger, heute ist es ganz anders geworden. Der deutsche Großmeister Klaus Bischoff hat einmal mit mir bei einer Deutschen Jugendmeisterschaft analysiert und mich auf das Turnier mit vorbereitet, aber sonst war es gar nicht so einfach, einem Großmeister überhaupt gegenüberzutreten.

SB: Deine Förderung beim SC Diogenes und HSK bestand also aus Personen, die dich im Rahmen der Klubstrukturen gelegentlich bzw. mehr oder weniger regelmäßig gefördert haben. Ist unter solchen Bedingungen überhaupt eine kontinuierliche Entwicklung möglich?

KM: Lektionen gab es einmal in der Woche mit Gisbert Jacoby im Hamburger Jugendkader. Das waren aber größere Gruppen mit 6 bis 8 Teilnehmern. Einzeltraining war eher die Ausnahme und kam nur als Vorbereitung auf Turniere vor, aber daß man jetzt jede Woche mit einem Großmeister Einzeltraining gemacht hätte, war aus verschiedenen Gründen nicht darstellbar. Zum einen hätte ein Großmeister bereit sein müssen, Jugendtraining zu geben, und zum anderen hätte dies organisiert und vor allem finanziert werden müssen. Heute ist das Organisieren nicht mehr so schwierig. Zur Not kann man Unterricht im Internet nehmen.

SB: Turnierschach ist eine harte Turnier- und Leistungssituation für ein kindliches Gemüt oder einen Jugendlichen, eine echte Bewährungsprobe. Es sind Fälle bekannt, in denen ein Erwachsener nach einer Niederlage eine Figur an den Kopf seines jungen Kontrahenten geworfen hat, es soll auch Ohrfeigen gegeben haben. Ist dir ähnliches widerfahren und wie hast du den Einstieg in die Welt der konkurrierenden Bretter erlebt?

KM: So etwas ist mir nie widerfahren. Ich habe immer gute und positive Erfahrungen gemacht, mich als Kind oder Jugendlicher mit Erwachsenen messen zu können. Es kann natürlich sein, daß einige aus Frust oder Enttäuschung, gegen ein Kind verloren zu haben, in dieser Weise reagierten, aber an mir haben sie ihren Ärger nicht ausgelassen.

SB: Als Knirps am Brett hast du die Füße kaum auf den Boden gekriegt, weil Tisch und Stühle für die Erwachsenen konzipiert waren. Wie bist du mit dieser Situation und großen Herausforderung, die auch von Leistungsdruck geprägt war, klargekommen?

KM: Damals habe ich das nicht so gesehen. Vielmehr war ich froh, endlich machen zu können, was ich ohnehin wollte. Für mich war das fast wie Meditation, so rein im Schach aufzugehen, wenn es außer einem selbst und dem Brett nichts anderes mehr gibt. Daß Schach ein logisches Spiel ist, gefällt mir dabei am meisten. Kein Zufall, man erzwingt die Entscheidung selber oder auch nicht. Allerdings muß ich zugeben, daß ich aus bestimmten Gründen, auch weil es zuviel Energie kostet, seit einigen Jahren höchstens noch ein paar Bundesliga-Partien spiele. Ich habe vielleicht auch keine Ziele mehr. Solange ich jung war und Ziele hatte, noch Internationaler und Großmeister werden und in die Bundesliga aufsteigen konnte, war das kein Problem. Inzwischen trainiere ich junge Talente. Ich denke, die Grunderfahrung, die Jugendliche sammeln, ist insgesamt sehr positiv. Die meisten von ihnen wollen so weit oben in der Bundesliga und gegen so starke Gegner wie möglich spielen, so daß es eher umgekehrt ist.

SB: Genialität ist erlernbar - an den Polgar-Schwestern wurde das ins Exempel gesetzt. Schach als Unterrichtsfach ist die zivilgesellschaftliche Variante dazu. Abgesehen von der Talentsuche, welchen kognitiven Nutzen könnte das Schachspiel im Rahmen der schulischen Ausbildung haben?

KM: Genialität ist erlernbar? Ich stimme dem Grundtenor natürlich zu, aber das Wort Genie paßt meines Erachtens an dieser Stelle nicht. Als Genie wird man geboren, das kann man nicht lernen. Als Magnus Carlsen wird man geboren, man kann nicht lernen, Weltmeister zu werden. Sicherlich hat sich Judit Polgar im Vergleich zu ihren beiden Schwestern nach oben durchgekämpft. Sie hat auch ein gewisses Genie, aber wenn man im Schach gut werden will, dann vor allem durch harte Arbeit. Damit allein kann man jedoch nicht Weltmeister werden. Das haben in der Geschichte des Schachs nur 16 Sterbliche geschafft, und die wurden schon als Genies geboren. Schachliche Spielstärke entsteht, wenn man gegen möglichst gute Gegner spielt und die Partien analysiert, aber so, daß man den anderen noch verstehen und die eigenen Fehler reflektieren kann. Man sagt, für die Jugendlichen ist es gut, wenn sie gegen Kontrahenten spielen, die um 150 DWZ-Punkte besser sind. Daneben sollte man viele Taktik-Aufgaben lösen, Musterpartien durchspielen und überhaupt viele kombinatorische Manöver abspeichern.

SB: Die Polgar-Schwestern haben nicht nur Bücher gebüffelt, sondern sind auch von Meistern des Fachs begleitet worden. Ihr Erfolg war somit eingebunden in einen Prozeß individueller Förderung.

KM: Diese Art der Förderung führt nur bis auf eine bestimmte Höhe, aber es reicht nicht, um Weltmeister oder genial zu werden wie Magnus Carlsen, Wassily Iwantschuk, Judit Polgar oder Michail Tal mit seiner unglaublichen magischen Kombinationsgenialität. Man kann nicht hundert Kinder nehmen und ihnen beibringen, wie Michail Tal Schach zu spielen - so funktioniert das nicht. Denn sonst könnte man Genies züchten, und das würde das Wort Genie meiner Meinung nach entwerten und seiner eigentlichen Bedeutung und Konnotation berauben.

SB: Genie oder Genius stand in der frühen Romantik als Bildungsideal für eine umfassende Ausbildung auf allen kulturellen, künstlerischen und wissenschaftlichen Feldern. Es ging in meiner Frage auch um den schulischen Nutzen von Schach als Unterrichtsfach.

KM: Im Schulunterricht sollen natürlich keine Schachprofis herangebildet werden, sie hätten für die Volkswirtschaft auch keinen Nutzen. Dennoch bin ich der Auffassung, daß Schach an Schulen als freiwilliges Fach angeboten werden sollte. Das wird von Roman Vidonyak und Michael Prusikin im Tegernseer Tal auch so praktiziert. Dort können die Jugendlichen zwischen Volkstanz, Schach oder Nähen wählen. Die Freiwilligkeit, sich für das Schachspiel als Schulfach zu entscheiden, ist eine gute Grundlage. Ich denke schon, daß das Schachspiel gerade schwächeren Schülern, insbesondere an Schulen mit vielen Kindern, die einen Migrationshintergrund haben und keine deutschen Muttersprachler sind, helfen kann, weil es eine Sprache ist, in der sich alle verständigen können. Schach kann auf verschiedenen visuellen Ebenen dazu verhelfen, mathematisch-räumliche und logische Fähigkeiten herauszubilden. Denn im Schach konfrontiert man sich mit der Frage, warum das eine ausgewählt und das andere verworfen wird. Ich könnte mir vorstellen, daß einige Kinder durch Schachunterricht in einem bestimmten Sinne mehr angesprochen und gereizt werden als durch andere Schulfächer.

SB: In diesem Zusammenhang wird gerne vom Zugewinn an Konzentrationsfähigkeit gesprochen, wodurch sich auch in anderen Fächern die Schulleistungen verbessern würden. Teilst du diese Ansicht?

KM: Der US-amerikanische Großmeister Maurice Ashley beschreibt in seinem Buch, daß nach seinen Schachunterricht Eltern oder andere Lehrer zu ihm kamen und von ihm wissen wollten, wie er es geschafft habe, daß sich diese Chaosklasse 40 Minuten lang an seine Aufgaben gehalten hat. Das kann Schach, wenn es sinnvoll eingesetzt wird, aber natürlich muß man die Lehrer oder Trainer dafür auch haben, und dann ist die Frage, ob es freiwillig oder verpflichtend sein sollte. Ich persönlich halte von der Zwangsbeglückung nichts. Es gibt in einigen Bundesländern zumindest Schulmodelle, wo solche Leistungskurse in den normalen Schulbetrieb integriert sind. Man muß dabei auch bedenken, daß früher spätestens um 13:30 Uhr Schluß war mit Schule. Heute sind Ganztagsschulen nichts Ungewöhnliches mehr. Dann stellt sich die Frage, wie beschäftigt man die Schüler? Schach könnte die offenen Räume gut füllen. Gerade für Jugendliche, die sich im Unterricht schlecht konzentrieren können, wäre es eine sinnvolle Hilfestellung. Wenn sie wissen wollen, wie sie ihre Freunde oder Klassenkameraden in einer Partie Schach besiegen können, kommen sie nicht umhin, auf ihre Trainer oder Lehrer zu hören, und auch das fördert die Konzentration. Schulschach ist weltweit stark auf dem Vormarsch, auch in Deutschland.


Karsten Müller vor dem Analysebrett - Foto: © 2015 by Schattenblick

Wie spielt man die Preußische Verteidigung?
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: In der Vergangenheit haben Schachmeister ihren Variantenkoffer gepackt und sind zu einem Turnier gefahren. Spätestens seit den 90er Jahren gehören Schachprogramme zum erweiterten Instrumentarium der Schachanalyse. Inwiefern hat sich das Schach aus deiner Erfahrung unter dem Einfluß von Fritz & Co verändert?

KM: Computer kamen erst Mitte der 80er Jahre auf, aber sie konnten damals noch nicht mit König und Turm gegen König Matt setzen. Das ist ganz anders geworden. Die Jugendlichen können jetzt unglaublich ausgefeiltere Repertoires mit dem Computer erstellen. Früher konnte man bisweilen mit dem Mut zur Lücke alles mögliche ins Blaue hinein spielen, in der Hoffnung, daß der Gegner am Brett nicht zurechtkommen wird. Das geht heute nicht mehr. Es gibt Jugendliche, die spielen Tag und Nacht im Internet oder arbeiten mit Hilfe der Datenbanken und Computerprogramme an ihrem Eröffnungsrepertoire. In vielen Varianten sind sie jetzt bis zum 20. Zug vorbereitet, und wenn man dann nicht aufpaßt, läuft man schnell in eine Hausanalyse, aus der man am Brett nicht mehr so leicht herauskommen kann. Schach ist heute viel wissenschaftlicher und technisierter geworden.

SB: Ist dann die Gefahr nicht groß, daß Schachspieler durch die Konditionierung auf ein bestimmtes Repertoire, wofür der Computer ja steht, zu Automaten werden?

KM: Die Frage ist berechtigt. Trotzdem sind die Jugendlichen, wenn sie durch die Computeranalyse gegangen sind, viel stärker, als ich es damals war. Aber wenn man ganz nach oben oder so spielen will wie Garry Kasparow, Wladimir Kramnik, Vishy Anand oder Magnus Carlsen, dann kriegt man das mit dem Computer nicht hin. Carlsen ist sogar das genaue Gegenteil von diesem Automatenansatz. Ihm reicht es in der Eröffnung schon, mit Weiß einen ausgeglichenen Spielstand zu haben. Er muß das nicht bis zum Matt oder bis zum forcierten Remis nach 40 Zügen mit Schwarz vorbereitet haben. Und intuitiv bin ich bereit zu glauben, daß es in diese Richtung wieder gehen wird. Aber natürlich wird mit den Computern alles nach vorne verschoben. Wenn man mit 4 oder 5 Jahren anfängt, mit den Computerprogrammen zu spielen und zu üben, wird man früher besser und jünger Großmeister. Früher gab es die Faustregel, daß die Meister mit 40 Jahren ihren Peak erreichen. Nach heutigen Maßstäben kann man sich als 40jähriger zur Ruhe setzen. Ich habe das mehr oder weniger als Spieler beherzigt, aber das Schöne am Schach ist, daß das auch wieder nicht ganz stimmt. Vishy Anand ist jetzt wieder Zweiter in der Weltrangliste geworden. Früher wäre er der Regelfall gewesen, aber heute wird er immer mehr zur Ausnahme. Ein paar Sachen sprechen jedoch auch für die Jugend. Sie haben mehr Energie für die doppelrundigen Opens und auch für einzelne Turniere. Durch die harte Arbeit am Computer können sie sich länger und besser konzentrieren. Der Wert der Erfahrung spielt zum Glück noch eine Rolle, aber seine relative Gewichtung muß sich in der heutigen Welt verringern.

SB: Heißt das, daß die alte Schule gegen die computergestützte Jugend kein Bein mehr auf den Boden kriegt?

KM: Leider will Kasparow nicht mehr in die Turnierarena zurückkommen, obwohl er Nigel Short letztens noch ganz gut im Griff hatte, aber er meint, daß er gegen Magnus Carlsen und Fabiano Caruana keine Chance mehr hätte. Ein Match zwischen Kasparow und Carlsen wäre natürlich sehr reizvoll in bezug auf diese Hypothese. Aber Garry, der früher vor Selbstvertrauen nur so strotzte, hat schon vor vielen Monden seinen Rücktritt erklärt. Er wollte russischer Präsident werden und Putin ablösen, aber der sitzt sehr fest im Sattel. Auch der Weltschachbund FIDE wollte ihn als Präsidenten nicht haben.

SB: Deutschland war früher eine der führenden Schachnationen. Der Zweite Weltkrieg hat unter den Reihen deutscher Schachmeister große Opfer gefordert wie zum Beispiel Klaus Junge. Die Bundesrepublik konnte nie wieder an die alten Zeiten von Adolf Andersson und Emanuel Lasker, nur um zwei Namen zu nennen, anknüpfen. Jugendliche Talente sind durchaus vorhanden, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt scheint ihre Entwicklung zu stagnieren. Seit Lasker hat es zumindest keinen deutschen Weltmeister mehr gegeben. Liegt es an der fehlenden Infrastruktur oder sind die finanziellen Anreize zu gering, um ein Berufsschachspielertum in Deutschland auszubilden?

KM: Da spielen verschiedene Gründe mit rein wie zum Beispiel die gewaltige Konkurrenz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Auch aus China und Indien drängen immer mehr Spieler auf das internationale Terrain. Deutschland kann mit Ländern wie Rußland, in denen Schach eine attraktive berufliche Karriere darstellt, wo es ein staatlich subventioniertes Förderungssystem gibt oder das Schach einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert hat, weil sich Putin für das Schach interessiert, oder wie in Armenien, wo der Präsident des Schachverbandes zugleich der Staatspräsident ist, nicht wirklich konkurrieren. In der Sowjetunion war Schach fast schon zu einer Art Ersatzreligion geworden, und als Vishy Anand Weltmeister wurde, ist er in Indien wie ein Held gefeiert worden, was bei einem Milliardenvolk wie den Indern natürlich unglaubliche Potentiale freisetzt. Aber auch Magnus Carlsen hat in Norwegen einen durchaus beachtlichen Schachboom ausgelöst.

SB: Woran scheitert es dann in Deutschland?

KM: Immerhin konnte Arkadij Naiditsch an die Tür der erweiterten Weltelite anklopfen, und Herr Grenke in Baden-Baden hat dankenswerterweise vieles für das Schach auf die Beine gestellt und dort eine starke Bundesliga-Mannschaft versammelt. Deutschland hat durchaus Talente, die im Rahmen des Prinzenförderprogramms Unterstützung erfahren. So wurde Matthias Blübaum vom SV Werder Bremen und Dennis Wagner vom SV Hockenheim unter die Arme gegriffen. Auch Vincent Keymer ist ein großes Talent. Jedenfalls war die Ernennung von Dorian Rogozenco zum Bundestrainer eine gute Wahl. Die Prinzengruppe ist gut aufgestellt, auch wenn wir in den internationalen Ligen nicht mitspielen. Uns fehlt dieses eine Talent, das dann Weltmeister wird.

SB: In diesem Sinne ist es sicherlich nicht besonders hilfreich, daß das Bundesinnenministerium im Mai 2014 die Streichung der Fördermittel für den Deutschen Schachbund (DSB) beschlossen hat. Wie ist es dazu gekommen?

KM: Begründet wurde die Streichung in Höhe von 130.000 Euro pro Jahr mit "beim Denksport nicht vorliegender eigenmotorischer Aktivität". Auf den ersten Blick mag da etwas dran sein, aber die Frage ist, ob eigenmotorische Aktivität den Sport im allgemeinen definiert und auszeichnet. Ich glaube, das ist eine zu enge Sichtweise, auch wenn ich als Schachspieler natürlich befangen bin. Was den Sport ausmacht, ist fast schon eine philosophische Frage. Eine Antwort aus Sicht der Traditionalisten könnte sein, daß Sportarten historisch gewachsen und schließlich olympisch geworden sind. Dann könnten wieder neue hinzukommen, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. Man könnte allerdings auch einwenden, daß Sport einen fairen Wettkampf zwischen Menschen beschreibt. Für die Olympischen Spiele hat es bisher nicht gereicht trotz intensiver Bemühungen des Weltschachbundes FIDE. Das Problem fängt schon damit an, ob man Schach bei den Sommer- oder bei den Winterspielen unterbringt. Der CDU-Politiker Eberhard Gienger hat vorgeschlagen, daß sich der DSB wegen der gestrichenen Fördermittel, da Schach ein Kulturgut sei, an die Kultusministerien wenden sollte. Ich will so etwas nicht völlig verwerfen, und natürlich hat Schach auch mit Kultur zu tun, aber in erster Linie ist es ein Sport und für bundesdeutsche Maßstäbe besser bei den Sportorganisationen aufgehoben.

SB: Hat der DSB gegen diese Art der Diskriminierung des Schachsports Front gemacht?

KM: Ja, er hat sehr massiv Front gemacht, und wenn ich auf dem neuesten Stand bin, gab es den Kompromiß, daß die Gelder, die das Bundesinnenministerium zur Verfügung stellt, nicht komplett für den Leistungsbereich gestrichen werden sollen.

SB: Unter Otto Schily als Bundesinnenminister hatte das Schach bessere Zeiten gesehen. Wie erklärst du dir den Umschwung?

KM: Ich bin nicht sicher, ob sich das wirklich durch einen Spitzenpolitiker personifizieren läßt. Ich glaube, daß man mehr Medaillen bei den Olympischen Spielen holen möchte, und in diesem Sinne scheint es sinnvoll, möglichst viele Fördermittel in die olympischen Sportarten zu stecken. So könnte man auf die Idee kommen, beim Schach zu sparen. Ob wir wirklich bei den olympischen Medaillen mit den Sportsupermächten mithalten könnten, wenn die Euros für das Schach umgelenkt werden, bleibt noch zu klären. Man muß natürlich auch sehen, daß olympische Sportarten wie das Bobfahren die Industrie ankurbeln, die dafür Hightech-Bobs bauen muß. Aber ich denke, daß auch die nichtolympischen Sportarten ihren Platz verdient haben.

SB: Die Türkei hat im Schach lange Zeit ein Schattendasein geführt, aber in den letzten 20, 30 Jahren wurde am Bosporus viel Geld in die Jugendförderung gesteckt, und die letzten Ergebnisse können sich durchaus sehen lassen. Diese Bereitschaft, im internationalen Vergleich mithalten zu wollen, scheint bei den politischen Eliten in Deutschland nicht vorhanden zu sein.

KM: Wir brauchen einen Weltmeister wie Magnus Carlsen, damit auch die Öffentlichkeit in Deutschland, wie in Norwegen geschehen, größere Notiz vom Schach nimmt. Denn im Rahmen unserer Möglichkeiten sind wir mit der A-Nationalmannschaft bei den Herren und Damen gar nicht einmal schlecht aufgestellt. Einige Bundesligisten betreiben eine intensive Jugendförderung und in der Bundesliga gibt es mit den Jugendbrettern eine gute Fördermaßnahme, wo junge deutsche Talente in einem Raum mit der erweiterten Weltspitze spielen. Dort können sie miterleben, wie Großmeister mit einer Elo-Zahl über 2700 atmen und spielen. Das darf man nicht unterschätzen. Großmeister mit einer geringeren Elo-Zahl gibt es wie Sand am Meer. Viele von ihnen geben professionelles Schachtraining und bieten ihre Dienste rund um die Uhr auf den Servern an. Aber irgendwann im erweiterten Bereich der Weltspitze kommt die Verknappung. Von den echten Spitzengroßmeistern gibt es nicht viele. Ab 2700 wird die Luft dünn. Ich weiß nicht, ob es außer der Bundesliga noch viele Turniere gibt, wo die Jugendlichen diese Luft atmen und einem 2700er bei der Arbeit zuschauen können, ihn vielleicht sogar als Gegner bekommen. Deutschland braucht sich hinter seinen Schachtalenten nicht zu verstecken, auch wenn wir im Augenblick mit den Schachsupermächten nicht mithalten können.

Alexander Donchenko und Rasmus Svane, den ich mit trainiere, könnten eines Tages in der Weltspitze mitmischen. Das gilt auch für Matthias Blübaum, Dennis Wagner, Hanna Marie Klek und Filiz Osmanodja. Auch wenn Jonas Lampert die Prinzengruppe verlassen mußte, hinkt er nur etwas hinterher und ist schon in der Bundesliga etabliert. Mit Vincent Keymer könnte sogar ein deutsches Jahrhunderttalent heranwachsen. Beim Pfalz-Open im Februar dieses Jahres trumpfte er mit seinen zehn Jahren unglaublich auf und konnte sogar zwei Großmeister besiegen. Aus der letzten Jugendolympia-Mannschaft hat es Georg Meier bis in die A-Nationalmannschaft geschafft. Ein Sieg in der Olympiade würde aber für einen Popularitätsschub nicht ausreichen. Das wäre eine nette Nachricht, mehr aber nicht. Was wir brauchen ist ein Weltmeister wie Magnus Carlsen.

(wird fortgesetzt)


Kleiner Spielraum beim HSK - Foto: © 2015 by Schattenblick

Am Analysebrett kommt keiner vorbei
Foto: © 2015 by Schattenblick

29. Mai 2015


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