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INTERVIEW/006: Schach im Norden - Zündstein der Geistesblitze ... (Teil 2)    Karsten Müller im Gespräch (SB)


Spiegelbild der Zivilisation oder Riß im Regelwerk?


Gespräch mit Karsten Müller am 18. Mai 2015 in Hamburg

Nachdem der Hamburger Großmeister Karsten Müller im ersten Teil des Interviews zu Fragen des Schulschachs, der Förderung im Nachwuchsbereich und den Veränderungen im Schach durch die Einführung und Adaptation der Schachprogramme Stellung bezogen hat, widmet er sich im zweiten Teil des Interviews dem Wirken und Wirkungskreis der Großmeisterlegenden und anderen Aspekten schachtheoretischer Erörterung.


Im Seminarraum - Foto: © 2015 by Schattenblick

Karsten Müller
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Capablanca hat einmal empfohlen, vornehmlich Turmendspiele zu studieren, um ein besseres Verständnis für das Spiel zu bekommen. Du bist international als Endspielexperte anerkannt. Teilst du die Meinung des kubanischen Ex-Weltmeisters, auch wenn der Ausspruch von Siegbert Tarrasch - Vor das Endspiel haben die Götter das Mittelspiel gesetzt - ein anderes Vorgehen nahelegt?

KM: Man kann natürlich mit dem Endspiel anfangen, aber dann mit den elementaren Mattsetzungsphasen - König und Dame gegen König, zwei Türme und König gegen König, König und Turm gegen König, zwei Läufer und König gegen König. Mit Läufer und Springer mattzusetzen, würde ich in einem Anfängerkurs erst einmal zurückstellen. Auf diese Weise könnte man sich damit vertraut machen, wie die Figuren überhaupt ziehen und ein Matt zu erzwingen ist. In einem fortgeschritteneren Stadium wäre es sicherlich auch sinnvoll, die klassischen Remisbilder der Philidor-, Lucena- und Vancura-Stellung zu studieren. Aber Turmendspiele mit der Fülle tiefer komplexer Feinheiten, wie sie beispielsweise in den Partien von Akiba Rubinstein vorkommen, würden selbst einem erfahrenen Klubspieler einiges abverlangen.

Es gibt sogar eine Schule, die das Vorgehen über das Endspiel postuliert, aber dann sollte man den Einstieg über die ganz elementaren Bauernendspiele wählen, weil man sonst die Abwicklungen selbst bei den einfachen Turmendspielen nicht richtig einschätzen kann. Das Erlernen der Endspiele könnte ein Fundament sein, was zudem den Vorteil hätte, daß dem Schüler wie in der Mathematik logische didaktische Strukturen an die Hand gegeben werden. In diesem Sinne verstehe ich Capablancas Empfehlung. Aber dann wäre erst einmal Schluß. Die wirklich komplexen Turmendspiele bringen einem Anfänger nichts. Er würde in dieser Komplexität wie in einem Ozean ertrinken. An dieser Schnittstelle kommt das Tarrasch-Zitat zum Tragen. Nach den elementaren Turmendspielen sollte man mit Taktik-Aufgaben und Variantenberechnungen weitermachen und vielleicht ein paar grundlegende Eröffnungen studieren.

SB: Meine Frage hatte einen Hintergedanken. Das Zitat erweckt den Eindruck, als wäre das Endspiel nicht so wichtig, weil man eventuell mit einem Mattangriff durchdringen kann. Hast du das Gefühl, daß das komplexe Gebiet der Endspiele im Turnierschach vernachlässigt wird?

KM: Endspiele werden schon ein bißchen unterschätzt. In der Regel befaßt man sich mit Eröffnungen und kombinatorischen Wendungen. Für einen normalen Turnierspieler kommt danach nicht mehr viel. Die Jugendlichen von heute haben allerdings eine vertiefende Ausbildung durchlaufen.

SB: Du schreibst für die Endspielkolumnen von ChessBase und ChessCafe.com und nimmst dazu Beispiele aus der Großmeisterpraxis. Könnte man demnach sagen, daß nicht jedes Remis Remis ist und umgekehrt mancher Sieg glücklich errungen wurde?

KM: Ja, das stimmt. Viele beschäftigen sich nicht so vertiefend mit dem Endspiel. Eröffnungswissen wird in jeder Partie abgefragt. Endspiele kommen seltener vor, so daß man auf diesem Gebiet nicht soviele Erfahrungen hat. Da ist die Unsicherheit größer. Das macht aber auch Sinn. Mit den elementaren Endspielen kommt man schon ziemlich weit, so daß Eröffnungen und Mittelspielstrategien den Vorrang bekommen, um im Turnierschach sattelfest zu sein. Wenn man dann eine bestimmte Meisterschaft erreicht hat und nicht mehr soviele taktische Einsteller begeht, kommt irgendwann wieder der Zeitpunkt, wo man sich intensiver mit dem Endspiel beschäftigen sollte. Diesen Punkt verpassen jedoch viele, weil sie im Treibsand der Eröffnungen steckenbleiben. Sicherlich kann man sein Leben lang an den Eröffnungen herumfeilen und sich dabei im Perfektionismus verlieren. Bei meinen Seminaren erlebe ich oft, daß das Studium der Endspiele stiefmütterlich behandelt wurde, auch wenn es heutzutage besser geworden ist als früher, zumal eine Reihe von guten Büchern wie die "Endspieluniversität" von Mark Dvoretsky oder "Grundlagen der Schachendspiele" von mir und Frank Lamprecht auf dem Markt sind. Trotzdem bleibt es ein berechtigter Einwand. Diese letzte Stufe nehmen viele nicht, aber die Jugendlichen heutzutage schon. Das ist vielleicht einer der Vorteile verglichen mit früher, sie haben oft Trainer, die ihnen solche Endspielhappen servieren.

SB: Hast du einmal die Stichhaltigkeit der Lösungswege in den alten Lehrbüchern über Endspiele überprüft?

KM: Die Endspielbücher enthalten nur ganz wenige Fehler. Dafür, daß die Awerbach-Reihe Menschenwerk ist, kann sie sich wirklich sehen lassen. Für die englische Auflage hatte ich einmal Dvoretskys Endspieluniversität mit dem Computer korrekturgelesen. Ich habe natürlich einiges gefunden, was nicht immer korrekt war, weil Mark Dvoretsky ziemlich schwierige Beispiele ausgewählt hatte, aber trotzdem sind die Handanalysen in aller Regel einwandfrei. Hingegen lassen sich bei einem Eröffnungsbuch, wenn man es durch den Computer jagt, praktisch auf jeder Seite Fehler finden. Das ist in der Endspielliteratur viel seltener. Es gab sogar Stellungen, die der Computer nicht verstanden hat, die in der Menschenanalyse jedoch richtig gelöst wurden. Zum Glück war ich noch dazwischen und konnte diese Irritationen ausschließen. Generell ist Endspielwissen viel zeitloser als eine Eröffnungsanalyse. Insgesamt gab es nur ganz wenige Revolutionen durch die Computerdatenbanken. Die erste war, daß zwei Läufer in einem bauernlosen Endspiel immer gegen einen Springer gewinnen. Die Menschentheorie hatte das für Remis gehalten, was aber für die Praxis irrelevant ist, weil eine solche Situation auf dem Brett fast nie vorkommt. Dieses Urteil gilt jedoch nur, wenn man die 50-Züge-Regel nicht berücksichtigt. Andernfalls sind einige Stellungen dieses Typs bei optimaler Verteidigung unentschieden. Eine besonders bemerkenswerte Revolution, die auch Auswirkungen hatte, war, daß Dame und verbundene Freibauern auf der g- und h-Linie gegen Dame in der Regel Remis wird, wenn der Verteidiger gut genug plaziert ist. In alten Tagen hätte man eine solche Stellung einfach aufgegeben, jetzt, wo die Großmeister es besser wissen, halten sie die Stellung zusammen. Auch beim Endspiel mit Dame und Springerbauer gegen Dame ist die Remiszone in der entferntesten Ecke bestätigt worden. Ebenso hat man die Zweite-Reihe-Verteidigung in einem Endspiel mit Turm und Läufer gegen Turm als Remis sicher bestätigt. In den trickreichen Turmendspielen findet die 7-Steine-Tablebase natürlich immer noch viele Fehler in den Menschenanalysen, aber trotzdem sind die Grundpfeiler, die die Menschen aufgestellt haben, im großen und ganzen recht solide. Daß Hauptremisstellungen fallen, ist selten, aber in den Turmendspielen ist die erste 2003 ins Wanken geraten und seitdem folgten noch einige Stellungen, die aber unglaublich kompliziert sind.

SB: Du hast eine Serie über 14 DVDs zum Endspielkomplex bei ChessBase veröffentlicht. Hast du sie auf Anfänger oder Fortgeschrittene zugeschnitten?

KM: Das ist verschieden. Die beiden ersten DVDs und die 14. sind grundlegender und könnten auch für den Einstieg genommen werden. Die ersten vier DVDs folgten einem Konzept, aber der Rest hat sich über Feedback, neue Ideen und teilweise über Rezensenten so ergeben. Mir persönlich gefällt die 9. DVD am besten, weil ich mich beim Thema Turm und Leichtfigur gegen Turm und Leichtfigur einmal richtig austoben konnte und denke, daß es eine lohnenswerte Arbeit war, da Stellungen dieses Endspieltyps viel häufiger in der Praxis vorkommen als Turmendspiele, aber in der klassischen Literatur nur am Rande behandelt werden. Es fehlte vor allem eine Systematik. So nutzt Mark Dvoretsky in seiner Endspieluniversität im wesentlichen den Typus König und Figur gegen König, Figur und Bauer.

SB: Du warst noch keine 30 Jahre alt, als du 1999 die DSB A-Lizenz zum Trainer absolviert hast. Hattest du schon damals mit dem Gedanken gespielt, die Turnierlaufbahn irgendwann zu beenden und den Schwerpunkt ganz auf die Trainertätigkeit zu legen?

KM: Ich habe mit dem Jugendtraining schon Ende der 80er Jahre angefangen, als ich noch für den SC Diogenes gespielt habe. Mit Jugendlichen zu arbeiten hat mir schon immer Spaß gemacht, und irgendwann habe ich meinen ganzen Schwerpunkt in diese Richtung verlagert, vielleicht auch, weil ich mit meinem eigenen Schach keine rechte Motivation mehr hatte. Als Trainer hatte ich wieder Ziele.

SB: Zu deinen Schützlingen gehörte auch Jan Gustafsson, der 2004, 2005 und 2011 deutscher Vizemeister wurde.

KM: Einen guten Trainer erkennt man daran, daß die Schützlinge stärker werden als er selber, und mit Jan Gustafssons Aufstieg war ich dann in dem Sinne ein guter Trainer. Ja gut, ich habe ihn bei einigen Jugendmeisterschaften mit vorbereitet. Allerdings bin ich mit Jan nie so richtig klargekommen. Er hatte immer seinen eigenen Kopf, hat immer schon selber viel gearbeitet. Mit anderen meiner Schüler kam ich in dem Sinne besser zurecht, weil sie mehr auf mich gehört haben, aber gut, er war der erste meiner Schüler, der mich klar überholt hat. Daß Schüler nicht immer auf ihren Trainer hören, muß kein schlechtes Zeichen sein. Es besteht durchaus die Gefahr, wovor auch in den Lehrbüchern gewarnt wird, daß die Jugendlichen zu einem matten Abglanz ihres Trainers werden. Man hat etwas falsch gemacht, wenn man sie in die eigene Richtung zwingt und sie alles annehmen. Sie müssen kreativ sein und sollen den Trainer auch überrunden. Dafür muß es Potential geben, und von daher ist es sehr wichtig, daß sie auch selber arbeiten. Früher habe ich sehr viel vorgegeben, habe teilweise auch Eröffnungsdateien bereitgestellt und gesagt, lernt das auswendig. Mir ist es jetzt am liebsten, wie sie sich größtenteils um sich selber kümmern und auf autodidaktischem Wege besser werden.

SB: Du hast Biographien über Bobby Fischer, Michail Tal, Alexander Aljechin und Jose Raoul Capablanca geschrieben bzw. mit verfaßt.

KM: Das ist nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Beim Fischer-Buch habe ich im wesentlichen seine gesamten Turnierpartien mit dem Computer analysiert und mit Kasparows und Hübners Analysen abgeglichen. Hanon Russell hat Dokumente und Fotos beschafft und Larry Evans ein längeres Vorwort mit leicht biographischen Zügen dazu geschrieben. Ich habe mich also rein auf das Schachliche beschränkt und versucht, seinen Werdegang und seine Stärken im Schach einzuordnen. Hanon Russell wollte noch, daß die Frage, wer der größte Schachspieler aller Zeiten sei, in dem Buch besprochen wird. Das hieß für mich: Kasparow, der Held meiner Jugend, versus Fischer, aber nachdem ich alles besser durchdacht hatte, führt Bobby die Liste jetzt knapp vor Garry an, und danach kommt lange Zeit nichts.

SB: Wie hat sich dein Wandel vollzogen?

KM: Würde man jetzt das schachliche Lebenswerk und auch den Output betrachten, dann würde Kasparow natürlich vorne liegen. Er hat viel mehr Partien gespielt, mehr Analysen veröffentlicht und eine Buchserie über seine großen Vorgänger geschrieben. Drei Gründe haben jedoch den Ausschlag für Fischer gegeben. Vor Fischer war Schach im Westen weitgehend unpopulär. Die US-Checker Federation hatte mehr Mitglieder als der US-Schachverband, und professioneller Schachspieler zu werden war völlig undenkbar. Im Grunde hat er im Westen die Möglichkeit geschaffen, Schachprofi zu werden. Fischer hat nicht nur die Schachwelt verändert, sondern das Schach auch in die US-Nachrichtensendungen gebracht. Nach Fischer war Schach nicht mehr dasselbe wie vorher. Der zweite Grund ist, daß Fischer ganz auf sich allein gestellt war, während Kasparow die sowjetische Schachmaschinerie zur Seite stand. Er hatte viele Trainer und konnte sich gewissermaßen als Staatsamateur ganz darauf konzentrieren, Schachweltmeister zu werden. Der dritte Grund, der den eigentlichen Ausschlag gegeben hat, ist, daß es in der Menschheitsgeschichte ganz selten vorkommt, daß ein einzelner eine ganze Maschinerie stürzt, die von einer der weltbeherrschenden Supermächte gut geölt und mit viel Rubeln durchgeschmiert wurde. Die Sowjetunion hat bis dahin fast alle Schacholympiaden gewonnen und, angefangen mit Michail Botwinnik, alle Weltmeister nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt. Den Herren im Kreml muß es erschienen sein, als würde die Sowjetunion ewig existieren und als würden die Schachweltmeister bis ans Ende aller Zeiten aus ihrem Korpus kommen. Daß ausgerechnet ein US-Cowboy ihr den geheiligten Titel nehmen würde, muß eine der unwahrscheinlichsten Sachen der Welt für die Sowjetunion gewesen sein. Daß ein einzelner einer Weltmacht einen derartig gehüteten Titel entreißen konnte, ist in der Menschheitsgeschichte so außergewöhnlich, daß ich deswegen Fischer als die Nummer 1 gesetzt habe. Allerdings ist das nur eine schachliche Einschätzung, alle anderen persönlichen Fragen habe ich im Buch auszuklammern versucht.

SB: Warum fielen für dich Tal und Capablanca, die ebenfalls Außergewöhnliches im Schach geleistet haben, weit dahinter zurück?

KM: Diese Frage hat keine objektivierbare eindeutige Antwort. Es ist nur meine subjektive Einschätzung, daß Fischer der größte Schachspieler aller Zeiten ist, gefolgt von Kasparow. Man könnte einen weiteren Grund anführen, nämlich daß Fischer vor dem WM-Match gegen Boris Spassky die Nummer 2 in der Weltrangliste um über 100 Elo-Punkte überrundet hat. Hinzu kommt ferner, daß seine Erfolgsserie von 1970 bis 1972 eine der besten Serien aller Zeiten gewesen ist und daß er zwei seiner Rivalen im Kandidatenmatch mit jeweils 6:0 besiegt hat - das ist heute undenkbar. Tal und Capablanca sind natürlich Genies, aber sie hatten das Pech, daß gerade die politische Konstellation Fischer so weit nach oben gespült hat. Das war für Capablanca und Tal objektiv schwieriger.

SB: Wie würdest du, jetzt unabhängig vom politischen Rampenlicht, Tals Beitrag zum Schach bewerten?

KM: Das Tal-Buch war ebenso wie das Fischer-Buch nicht meine Idee, ich habe nur die Vorlage umgesetzt. In dem Sinne war es für mich eine schachliche und keine biographische Arbeit. Die Frage nach dem besten Schachspieler aller Zeiten war ein bißchen spezieller und griff über das Schach in das Politische aus, aber im wesentlichen habe ich versucht, es zu vermeiden. Auch beim Tal-Buch hat man mich um Mitarbeit gebeten. Ich habe die Kombinationen ausgesucht und analysiert, während Raymund Stolze den biographischen und anekdotischen Teil komplett übernommen hat. Alexander Koblenz hatte ihm noch etwas zur Veröffentlichung übergeben, was schon im Magazin erschienen war, aber noch gut ins Buch gepaßt hat. Micha ist ein Genie. Hätte man den Schachmeister gesucht, der die größten taktischen Feuerwerke aller Zeiten abgebrannt und die meisten, schönsten und irgendwie auch irrationalsten Opfer gebracht hat, wäre er meine Nummer 1 gewesen, aber danach wurde nicht gefragt. Der Olms-Verlag war hinterher wahrscheinlich ein bißchen überrascht über das, was er bekommen hat. Es war deutlich mehr als abgesprochen, aber zum Glück haben sie ein Auge zugedrückt. Auch die Gastbeiträge von Angelina Tal und Kramnik, der eine ganz eigene Perspektive hatte, oder von Robert Hübner, der seine persönlichen Erfahrungen mit Tal einbrachte, haben das Buch enorm bereichert und den biographischen Teil abgedeckt.


Karsten Müller macht einen Zug am Schachbrett - Fotos: © 2015 by Schattenblick  Karsten Müller macht einen Zug am Schachbrett - Fotos: © 2015 by Schattenblick  Karsten Müller macht einen Zug am Schachbrett - Fotos: © 2015 by Schattenblick

Topalow-Shirow, Linares 1998 ... einer der genialsten Endspielzüge der Schachgeschichte
Fotos: © 2015 by Schattenblick

SB: Einmal an dich als Mathematiker die Frage: Ist Schach ausrechenbar?

KM: Aus der Sicht der reinen Mathematik ist Schach ausrechenbar, denn es gibt nur endlich viele verschiedene legale Stellungen und sie lassen sich durch Retroanalyse zu einem Baum zusammenfügen. Theoretisch wäre es also möglich, eine solche Datenbank zu erzeugen. Praktisch ist die schiere Anzahl allerdings so groß, ungefähr in der Größenordnung von 10 hoch 45, daß die Atome im bekannten Universum nicht ausreichen würden, um alle Werte abzuspeichern, wenn man einen pro Atom speichern kann. Es wäre also ein technologischer Quantensprung nötig, um das durchführbar zu machen. Bisher sind übrigens alle Siebensteiner als solche Tablebases erzeugt, und zwar vom Supercomputer der Moskauer Lomonossov Universität, der zu dem Zeitpunkt dem Vernehmen nach der zehntbeste der Welt war. Anders sieht es aus, wenn man "nur" wissen will, wie die Grundstellung im Schach zu bewerten ist. Dafür muß man nicht den Wert aller legalen Stellungen kennen, denn nicht alle kommen in einem minimalen Beweisbaum vor. Wenn Weiß gewinnt, dann reicht ja beispielsweise nur ein erster Zug aus, während darauf allerdings alle schwarzen Antworten zu berücksichtigen sind. Wenn die Grundstellung remis ist, was nach den Erfahrungen wahrscheinlicher ist, dann müssen allerdings alle weißen ersten Züge beachtet werden, worauf jeweils nur ein schwarzer reicht und so weiter. So könnte man dann durch Variantenberechnung von Eröffnungsdatenbanken in Patt- oder Mattstellungen oder Endspieldatenbanken übergehen. In diesem Sinne wurde übrigens Checkers (8*8 Dame) 2007 von Jonathan Schaeffer und seinem Team von der University of Alberta in Kanada gelöst. Es gibt ernstzunehmende Vorhersagen, daß auch Schach 2070 in diesem Sinne gelöst sein wird. Ich glaube das nicht, weil es selbst hierfür zu viele Möglichkeiten gibt. Wenn es allerdings in diesem schwachen Sinne gelöst werden würde, dann verlöre Schach meiner Meinung nach erheblich an Reiz. Denn ich finde es faszinierend, daß man eben den genauen Wert der Stellung wie Matt in 257 Zügen nicht kennt und eine Restunsicherheit bleibt. Denn Perfektion wird doch sehr schnell langweilig und den Stellungswert in einer Tabelle nachzusehen, ist natürlich nicht die eigentliche Spielidee des Schachs.

SB: Die Frage, ob Schach Kunst, Wissenschaft oder bloßer Zeitvertreib ist, kann immer nur individuell beantwortet werden. Was macht für dich die Ernsthaftigkeit des Schachspiels aus, daß du soviel Energie und Lebenszeit darin investierst?

KM: Ganz allgemein gesprochen ist Schach vor allem ein Sport und Wettkampf. Daß Menschen in Turnieren spielen, macht das Hauptmerkmal des Schachs aus. Aber wenn du mich persönlich fragst, ist es etwas anderes. Als ich jung war, habe ich im Schach den Vergleich mit anderen gesucht, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt hat sich das gewandelt. Vor allem seit ich Autor und Trainer bin, fasziniert mich der wissenschaftlich-logische Aspekt, der die Theorie der Endspiele zu durchdringen versucht. Dazu paßt mein Mathematik-Studium ganz gut. Die Mehrheit der Schachspieler wird diese Meinung aber nicht teilen.

SB: Du warst Sekundant von Alexei Shirow beim SKA-Turnier in München 1993. Wie sieht ein Sekundantenalltag aus?

KM: Ich glaube, das hat sich heutzutage völlig gewandelt. Seitdem war ich kein Sekundant mehr von wirklich starken Spielern, sondern habe vor allem Jugendliche auf die Deutschen Meisterschaften vorbereitet. Man schaut sich an, was die Gegner spielen, arbeitet mit dem Computer ein eigenes Repertoire aus und versucht vorherzusagen, was kommen wird, und dann den zu sekundierenden Spieler möglichst komfortabel mit Neuerungen und zu ihm passenden Stellungen auszustatten und auf Gleise zu lenken, die der Gegner vermutlich nicht kennt und die ihm nicht genehm sein werden. Das ist heutzutage eine sehr schwere Arbeit. Mit Alexei war das damals noch ganz anders. Mein Beitrag war vor allem die Analyse einer Hängepartie. Heutzutage gibt es keine Hängepartien mehr, damit ist eine der typischen früheren Haupttätigkeiten des Sekundanten weggefallen. Ich glaube, ein wichtiger Aspekt war, ihn bei Laune zu halten. Er war nicht gut ins Turnier gestartet, und in der Hängepartie mit zwei Bauern weniger wäre er schon mit einem Remis zufrieden gewesen. Da war es ganz hilfreich, daß ich ihn gedrängt habe, mehr daraus zu machen. Wir hatten noch einiges mit der alten Version von Fritz untersucht, als der Computer plötzlich keinen Strom mehr hatte. Das war nicht so schlimm, also sind wir mit Michael Adams und seiner Freundin noch essen gegangen, statt weiter zu analysieren. Aber wir hatten immerhin einen Pfeil im Köcher und insofern Glück, als Joel Lautier das in seiner Vorbereitung entgangen war. Ich glaube tatsächlich, einer meiner wichtigsten Aufgaben als Sekundant war, ihn bei guter Stimmung zu halten. Da war es enorm hilfreich, daß er die Hängepartie gewonnen hatte. Danach war die Psychologie hinter ihm und alles lief rund. Ansonsten hat er mir immer gezeigt, was er an Eröffnungen für seine Gegner analysiert hatte, und das haben wir dann ein bißchen vertieft. Im wesentlichen ging es darum, daß er ein Feedback bekommt. Er war auch einmal bei mir zuhause, um mir zu zeigen, was er für seine Partie gegen Kramnik vorbereitet hatte. Die Rolle des Sekundanten bestand damals eher darin, ein Feedback zu geben, weil die Computer noch nicht so stark waren. Dies war nötig, weil man als Spieler immer ein bißchen eindimensional und möglicherweise zu sehr von den eigenen Ideen eingenommen ist. Diese wichtige Rolle des Sekundanten haben jetzt die Computer übernommen. Es heißt, eine zentrale Aufgabe von Alexander Koblenz war, möglichst viele Blitzpartien gegen Tal zu verlieren, also sich immer wieder vermöbeln zu lassen und ihm zu erklären, wie genial er ist, um seine Stimmung zu maximieren, und nicht so sehr, eine Neuerung im 30. Zug zu suchen. Das ist erst heutzutage zur Hauptaufgabe der Sekundanten geworden. An dieser Stelle haben die Computer alles revolutioniert.

SB: Kasparow hatte sein Gespür für den richtigen Zug oder die versteckte Kombination in einer Stellung gerne auf die Intuition zurückgeführt. Läßt sich die spielerische Intuition irgendwie statistisch oder mathematisch festmachen?

KM: Der Begriff der Intuition ist schwer zu fassen und zu untersuchen. Wahrscheinlich bildet sie sich, wenn man viele Muster gesehen hat, viele Partien gespielt und viel Erfahrung gesammelt hat. Dann findet das Gehirn eine Abkürzung, die einem sagt, diese Idee ist gut, aber das ist von Mensch zu Mensch wieder verschieden. Eine Talsche, Kasparowsche oder Capablancasche Intuition kann völlig verschieden ausgeprägt sein.

SB: Man könnte natürlich wissenschaftlich untersuchen, was eine Intuition im Vergleich zur Erfahrung ausmacht. Kannst du dir vorstellen, daß die Intuition möglicherweise in Bereiche vordringt, die kognitiv nicht zu bestimmen sind?

KM: Es gibt zum Schach psychologische und andere wissenschaftliche Untersuchungen. Demnach sollen Großmeister nicht unbedingt mehr Züge durchrechnen als ein Laie oder Amateur, aber sie werden durch ihre Intuition eher in Richtung der relevanten Züge geführt. Der Erfurter Meister Martin Krämer dachte in Litomysl 2007 gegen den Tschechen Lukas Cernousek lediglich während seines Auf- und Abgehens im Turniersaal über die Partie nach, wobei er wundervolle Züge fand, die eines Michail Tals würdig gewesen wären. Am Ende verlor er nur durch einen Flüchtigkeitsfehler. Weitgehend ohne Ansicht des Brettes hat er nur mit der Kraft seiner Gedanken gespielt. Das Gehirn spielte alleine. Ich kann mir vorstellen, daß das bis zu einem bestimmten Grad funktioniert. Aber das Schöne ist natürlich, daß etwas Mystisches oder Unergründliches immer an der Intuition bleiben wird. Vielleicht gibt es auch einen prinzipiellen Teil der Natur, der nicht erfaßbar ist. Man könnte sicherlich Testaufgaben stellen und untersuchen, auf welchen Bereich des Brettes die Augen schauen. Für Wissenschaftler ist am Schach attraktiv, daß es eine klare Elo-Einteilung gibt. So können die Wissenschaftler die Ergebnisse aus Aufgaben mit eindeutigen Lösungen mit diesem oder jenem Elo-Schnitt abgleichen. Ansonsten ist es gar nicht so einfach, solche Untersuchungen zu Wissensgebieten zum Beispiel mit Philosophieprofessoren oder Deutschlehrern zu machen. Beim Schach geht das. Die Frage ist natürlich, was man genau mißt und was sich am Ende als Intuition herausdestilliert.

SB: Auf einen Kernbegriff gebracht: Was macht das Wesen des Schachspiels für dich aus?

KM: Der Kern des Schachspiels ist der Kampf. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es als Abbild der indischen Armee entstanden. Und ist es nicht besser, statt eines Atomkriegs ein Match auf dem Schachbrett auszutragen? Wenn Menschen Schach spielen, ist es ein Kampf, aber nicht mit Fäusten, nicht mit Atomwaffen, nicht mit Schwertern oder Maschinengewehren, sondern ein Duell unter geregelten Bedingungen zwischen Menschen als ein Kampf der Gedanken auf dem Brett.

SB: Karsten, vielen Dank für das Interview.


Wappen des Hamburger Schachklubs an Hauswand - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick


Sitz des Hamburger Schachklubs - Foto: © 2015 by Schattenblick

Foto: © 2015 by Schattenblick

30. Mai 2015


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