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ES GESCHAH.../003: Der Anekdotenkammer dritte Tür (SB)


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Das "Café de la Régence" in Paris war während der Turbulenzen des 18. Jahrhunderts ein stadt-, landes- wie europaweit bekannter Treff der schachspielenden Avantgard. Der Wirt, der die Zeichen der Zeit erkannt hatte, wußte die Leidenschaft für das Königliche Spiel mit dem Nutzen klingender Münze zu verbinden und engagierte einen Meisterspieler, der Beruf und Berufung mitbrachte und die Gewähr leistete, gegen jeden um einen Wettpreis Schach zu spielen, der dies wünschte. Der erste jener erlauchten Geister, der dem Königlichen Spiel den gesellschaftlichen Steigbügel hielt, war François Antoine de Legall, Sire de Kermeur, späterhin Lehrer des berühmten Schachmeisters Francois André Philidor.

Ihm folgten nicht minder berühmte Größen wie Louis-Charles Mahé de La Bourdonnais, Pierre Charles Fournié Saint-Amant, Alexandre Louis Honoré Lebreton Deschapelles, Lionel Kieseritzky und Daniel Harrwitz nach, um nur einige der illustren Namen zu nennen. Philidor, der in späteren Jahren im Ruf stand, der beste Schachspieler seiner Zeit zu sein, kam häufig zu Gast ins Café de la Régence, wo er seine Spielstärke unter kritischen Augen zur Blüte brachte.

Eine schillernde Gesellschaft aus Kunst, Literatur und klugschwätzelndem Politikastertum gab sich dieserorts die Ehre; dazwischen tummelten sich zwielichte Gestalten nicht weniger ungezwungen wie Dandys und naserümpfende Bonhommes - schöne Damen präsentierten die neueste Mode und Grisetten kokettierten mit ihren Reizen um die Gunst betuchter Salonlöwen.

In dieser Atmosphäre eines grellen Libertinismus erlebte das Kaffeehausschach seine Kinderjahre. Daß die Schachkunst oftmals für kleinere bis größere Geldbeträge verscherbelt wurde, war nicht ehrenrührig, als vielmehr ein notwendiges Übel, denn so mancher Schachmeister konnte sich dergestalt ein erträgliches Auskommen sichern, wenigstens aber ein kleines Zubrot dazu verdienen.

Neben der mit steifer Stirnfalte grübelnden Schachprominenz verkehrten im Café de la Régence auch gekrönte Häupter wie Napoleon Bonaparte, von dem gesagt wurde, er sei "ein ebenso hitziger wie schlechter Spieler" gewesen, des weiteren Zar Paul I., Armand Emmanuel Duplessis Richelieu und Benjamin Franklin sowie Denker und Philosophen im Format eines Francois-Marie Arouet, der sich Voltaire riefen ließ, und Jean Jacques Rousseau. Während der blutbesudelten Revolutionsjahre kam auch der unbestechliche Maximillian Robespierre öfter zu Gast. Eine charmante Notiz soll nicht unerwähnt bleiben. 1840 stand in "Fraser's Magazine" zu lesen, daß das Café de la Régence an Sonntagnachmittagen so stark frequentiert wurde, daß die Gäste ihre Hüte aufbehalten mußten, damit man Platz sparte. Das Café de la Régence existiert heute noch, wenngleich es schon lange nicht mehr ein Mekka der Schachkunst ist.

Die Anekdote, die sich hinter der dritten Tür verbirgt, stammt selbstredend aus dem Café de la Régence, und einer der Hauptakteure wurde auch schon genannt, nämlich der Literat und Philosoph Jean Jacques Rousseau, der, ein Schachspieler aus innigster Leidenschaft, das Café gerne aufsuchte, um sich Erholung von seinen philosophisch Grübeleien zu verschaffen.

Mit dem Prinzen Conti focht Rousseau eine stattliche Zahl Partien aus, wiewohl der Prinz das Pech hatte, jedesmal gegen den Philosophen zu verlieren. Betrüblicherweise ist der Nachwelt nur eine einzige Partie erhalten geblieben, eine Partie jedoch, in welcher die exzellente Behandlung von Strategie und taktischem Fingerspitzengefühl seitens Jean Jacques Rousseaus augenscheinlich zutage tritt.

Der französiche Philosophenkönig und Vordenker der Menschenrechte führte in jener Partie die weißen Steine. Als der Prinz nun zum vermaledeiten Male angesichts eines unausweichlichen Matts kapitulieren mußte, wollten viele Ohren- und Augenzeugen, die am selbigen Tag zur fraglichen Stunde im Café zugegen waren, einen Stoßseufzer des Prinzen Conti vernommen haben, der schließlich zum Stoff einer Anekdote ausgesponnen wurde.

Nach seinem fünfzehnten Zug, der Prinz besaß unzweideutig ein materielles Übergewicht, worunter auch zwei Damen zu verbuchen waren, faßte er sich, vom nächsten Zug Rousseaus überrascht, an den Kopf und rief resigniert aus: "Ach, mein Herr Philosoph, Eure Kunst und Wissenschaft haben mir einmal mehr das Leben verdüstert. Auf mein Freund", der Prinz wandte sich an seinen herzöglichen Begleiter, der ihn stets wie ein Schatten begleitete, und fuhr getragen fort, "laßt uns in den Wald fahren, damit sich die Ruhe unter den Bäumen wie Balsam auf meine Seele lege. Weichen wir von diesem Ort affektierter Kultur und gehen zurück zur Natur."

Der Prinz erhob sich, verabschiedete sich brav und ließ einen nachdenklichen Rousseau zurück, dem die letzten Worte des Prinzen noch leise im Ohr nachhallten - "...zurück zur Natur." Rousseau soll in diesem Augenblick einen entscheidenden Denkanstoß für seine Umwertung der menschlichen Gesellschaft erhalten haben.

Ob diese Geschichte einzig der Fabulierlust jener Jahre geschuldet ist, läßt sich mit Bestimmtheit nicht ausschließen, der Dichtermund selbst hat sich darüber ausgeschwiegen. Aber vielleicht hat sie sich so oder ähnlich zugetragen, denn der große Philosoph und Wegbereiter jener Ideale und Tugenden, die alsdann als Banner über der Französischen Revolution wehten, sorgte 1750 durch seine Streitschrift über den verderblichen Einfluß der Künste und Wissenschaften auf die Sitten für großes Aufsehen.

Die darin erhobene Anklage gegen die Kultur, nämlich daß sie dem Menschen von einem naturnahen und glückseligen Urzustand entfremde und ihm Unschuld, Freiheit und Tugend raube, leitete auf jeden Fall den Beginn der modernen Kulturkritik ein.

Wie dem auch immer sei, die Ungeduld soll nicht weiter auf die Folter gespannt werden, und so sei allen Freunden der Schachkunst beim Nachspielen der denkwürdigen Partie ein philosophischer Hochgenuß gewünscht.

ITALIENISCHE PARTIE

Jean Jacques Rousseau - Prinz Conti
Paris 1741

1. e2-e4 e7-e5
2. Sg1-f3 Sb8-c6
3. Lf1-c4 Lf8-c5
4. c2-c3 Dd8-e7
5. 0-0 d7-d6
6. d2-d4 Lc5-b6

Die geschlossene Art, mit welcher Schwarz der Italienischen Eröffnung begegnet, wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Emanuel Lasker und Max Euwe als die sicherste Erwiderung empfohlen.

7. Lc1-g5 f7-f6
8. Lg5-h4 g7-g5?

Der Prinz spielt völlig überhastet, obwohl kein Grund zur Eile vorlag. Nach 8...Lc8-g4 hätte er fröhlich in die Zukunft schauen können.

9. Sf3xg5!

Mit diesem schönen Springeropfer ebnet sich Weiß alle Wege und treibt den schwarzen König nach einem gewitzten Manöver in eine rettungslose Bredouille.

9. ...f6xg5
10. Dd1-h5+ Kg8-f8
11. Lh4xg5 De7-g7
12. f2-f4!

Eine Idee von geradezu schöpferischer Verschlagenheit; die Heimtücke dieses Zuges wird erst sechs Züge später aufgedeckt.

12. ...e5xd4
13. f4-f5! d4xc3+
14. Kg1-h1 c3xb2
15. Lc4xg8 b2xa1D

Ein prachtvolles Stellungbild. Schwarz wähnt sich im siebten Himmel, doch der nächste Zug von Weiß stößt ihn unsanft in eine gähnende Tiefe.

16. f5-f6!

Der Prinz mußte nach diesem Bravourzug kapitulieren; eine befriedigende Verteidigung ist nicht zu finden, so folgt auf 16... Dg7-g6 17.Lg5-h6+ Kf8-e8 18.f6-f7+ Ke8-d7 19.Dh5-h3+ mit unentrinnbarem Matt.


Erstveröffentlichung am 24. April 1995

27. Februar 2007


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