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ES GESCHAH.../006: Der Anekdotenkammer sechste Tür (SB)


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Lieber Anekdotenleser, hinter der sechsten Tür unserer Kammer verbirgt sich eine Geschichte, die so sehr nach einem Märchen klingt, daß eine Amme sie nicht besser hätte erfinden können, und doch vermag sie in ihrer Redlichkeit noch durch das kleinste Nadelöhr zu gehen, ohne sich zu schrammen. Es hat sich zugetragen, wie's treulich hier geschrieben steht. Kein Wort sitzt an der falschen Stelle, kein Fakt dreht sich im verkehrten Takt. Geleimt wird nur, was nicht zusammenhält.

In Wien stand einst ein berühmtes Café, und wer zu suchen versteht, der wird es noch heute finden, wenn auch unter einem anderen Namen und an einem anderen Ort. Nun, diese Lokalität war nicht etwa durch ihren exzellenten Kaffee über die Donau hinaus berühmt, auch nicht wegen ihrer Spezereien, die in aller Munde waren, nein, lieber Leser, diese Stube war ein Schachhaus, wie es auf der ganzen Welt seinesgleichen nicht hatte.

Viele berühmte Schachmeister und auch solche, die sich dafür hielten, besuchten dieses kleine schmucke Café. Im Frühling, wenn die Blüten mit ihren Düften lockten, und im Sommer, wenn die Kirschen rot wie Mädchenlippen glänzten, saßen die Herrschaften mit der steilen Stirnfalte vor der Tür an runden Tischen und tranken zum Kaiserschmarren süßen Mokka, jedoch im Herbst, wenn die Winde brausend über die Gehwege fegten, und im Winter, wenn der fallende Schnee sich zu Hügeln türmte, da verkehrten die Meister der grübelnd verzogenen Augenbraue in der warmen Stube, nahe beim Ofen, und reimten sich Schachzüge zurecht, die die Kiebitze 'genial' nannten.

Neben den kleinen und Möchtegern-Meistern erhoben sich auch einsame Gipfel in die Höhe, und denen fehlte es nicht an stillen Bewunderern. Einer unter diesen Bergriesen überragte die anderen noch um einen Hut, was ihn zum Meister aller Meister, zum "Weltschachmeister" machte. Dieser Herr der tausendfältigen Geistesblitze hieß Wilhelm Steinitz.

Steinitz verkehrte nur an bestimmten Tagen im Schachcafé, nämlich immer dann, wenn auch seine freigebigen Mäzene zum Umtrunk vorbeischauten. Einer jener Gönner, dessen Namen die Geschichte vertraulich verschwieg, war ein Graf aus vornehmem Hause und Geschlecht, und er kam jeden Freitagabend auf eine Stunde ins Café, um mit dem großen Steinitz eine Partie zu spielen.

So ging das nun schon seit mehreren Jahren, und wiewohl der Graf bisher kein einziges Spiel gewonnen hatte, war seine Geduld so fest wie Granit, daß sich Kathedralen hätten darauf bauen lassen. Nur zwei Remispartien aus dieser Zeit gereichten ihm zur Ehre. Der Graf hatte jedoch bei sich geschworen, erst Ruhe zu geben, wenn er gegen den großen Steinitz eine Partie siegreich beendete. Zur Geduld gesellte sich eine dicke Börse, und so wurde es Steinitz nicht leid, diesem Grafen Lektion um Lektion zu erteilen.

Nun trug es sich zu, daß der Graf nie alleine kam, sondern stets in Begleitung eines stummen Mohren aus dem Morgenlande, der seine Schuldigkeit damit erfüllte, daß er still neben dem Grafen saß und besonnen auf das Brett blickte. Doch dieser Mohr war nicht stumm, auch wenn er nicht mit dem Munde redete; er war beredt durch seine heimlichen Fußtritte. Ja, wirklich, er redete mit seinen Füßen, und dies geschah so: Sobald der Graf eine Figur zu ziehen gedachte, die zu bewegen, sträflich war, stieß ihm der Mohr seine Babusche gegen das Schienbein, so daß der Graf seine Entscheidung tunlichst überdachte und einen anderen Zug ausführte, sofern er die Billigung des Mohren fand. So spielte der Graf nie allein gegen Meister Steinitz. Die beiden waren so vorzüglich aufeinander eingespielt, daß niemand ihren heimlichen Pakt durchschaute.

Steinitz spielte die Partien mit seinem reichen Gönner stets mit der Vorgabe eines Turmes. Diese Art des kavaliermäßigen Umgangs war früher sehr beliebt gewesen und sollte den Reiz des Spiels erhöhen, gleichsam die Chancen egalisieren. Nun geschah es, daß der große Meister Steinitz wegen einer ärgerlichen Angelegenheit nicht so konzentriert spielte, wie es geboten war, denn das Zweiergespann des Grafen und des Mohren hatte nach den ersten laienhaften Jahren inzwischen tüchtig dazugelernt und behandelte die Stellungen längst mit einem gereiften Verständnis.

Seine Unachtsamkeit brachte Steinitz in eine betrübliche Lage, und so sehr er sich auch wand und mit Finten täuschte, der Graf und der Mohr entschlüpften allen Netzen und Fallschlingen und standen sodann vor Steinitz' arg entblößter Königsstellung. Der Graf wollte gerade den vernichtenden Zug ausführen, als ein unsanfter Fußtritt seinen Siegeswillen hemmte.

Der Graf stutzte verwundert, wagte jedoch nicht zur Seite zu blicken, um ja nicht das stille Geheimnis, das ihn mit dem Mohren verband, durch eine verräterische Miene preiszugeben. Flugs zog er die Hand von der Figur zurück und suchte nach einem neuen Stein, den zu ziehen ratsamer war. Doch der Graf war so über die Maßen verunsichert vom Fußtritt des Mohren, daß seine Hand nervös über das Schachbrett zuckte. Schließlich und überhastet machte der Graf seinen Zug und ... verlor. Verdrossen erhob er sich vom Brett und reichte Steinitz wortlos ein versiegeltes Kuvert mit der vereinbarten Wett- und Ehrenschuld.

Der Graf kam nie wieder ins Café, und wenn seine Droschke durch Wien fuhr und Meister Steinitz vom Gehwege aus winkte, zog der Graf mürrisch den Vorhang zu, als habe er den großen Schachmeister nicht gesehen. War dem Grafen der strapazierte Geduldsfaden gerissen? War das Faß seiner Niederlagen übergelaufen? Nein! Nein!

Die Ehre war's, die ihr Gesicht verlor. Der Tritt, der Steinitz vor der Niederlage rettete und ihm die Blamage ersparte, kam nämlich von ihm selbst. Er hatte all die Jahre vom Geheimnis des Grafen gewußt, es stillschweigend hingenommen und zuletzt zu seinem eigenen Vorteil genutzt.


Erstveröffentlichung am 24. April 1995

28. Februar 2007


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