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ES GESCHAH.../009: Der Anekdotenkammer neunte Tür (SB)


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Es gibt kaum eine Stadt, die sich um die Kultivierung des Schachspiels so verdient gemacht hat wie das altehrwürdige, am Schnittpunkt zweier Kulturräume gelegene Wien. Bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert blickte es auf eine jahrzehntelang im berühmten Café Central, auf Kongressen und Weltausstellungen gepflegte Tradition des gedankenvollen Wettkampfes zurück.

Die Geschichte der Vergesellschaftung des Schachspiels hat in Wien ganz unbestritten Wurzeln geschlagen. Der Schritt von einem hof-, zum salon- und schließlich gesellschaftsfähigen Spiel gestaltete sich in Wien um so anschmiegsamer, als viele reiche Kaufleute und Mäzene die 'Kunst im Schachspiel' protegierten. Zu nennen sind hier der Baron Albert von Rothschild, seinerzeit der reichste Mann der Monarchie und ein begeisterter Schachspieler von Meisterstärke, der seine täglichen Partien im Schachklub stets um den Wettpreis von 20 Kreuzern austrug, sowie - und im besonderen - der Seidenindustrielle Leopold Trebitsch, dessen Leidenschaft fürs Schachspiel jedoch mit seinem Können nicht schritthalten konnte.

Da Wien darüber hinaus aus seiner historisch gewachsenen Anlehnung an das viktorianische England auch aus dieser europäischen Schachquelle schöpfen konnte, übte es durch die Protagonisten der Wiener Schachschule einen wegweisenden Einfluß auf die Entwicklung zumal positionell durchdachter Lehrgrundsätze aus. Namen wie Georg Marco, Redakteur der Wiener Schachzeitung, Max Halprin, Julius Perlis, Augustin Neumann, Rudolf Spielmann, Boris Kostitsch, Heinrich Wolf, Milan Vidmar, Savielly Tartakower, Richard Réti und - als ihr würdigster Vertreter - Karl Schlechter, dessen Brillanz in der Verteidigungskunst nicht einmal vom Weltmeister Emanuel Lasker gebrochen werden konnte, sind unvergeßlich.

Freilich, die Anekdote hinter der neunten Tür ist weniger einem der großen Adepten der Wiener Schachschule als vielmehr einem ihrer eher rabiateren Charaktere gewidmet. Frei- und hochmütig in dem Sinne verstanden, als Josef Krejcik, geboren am 22. Januar 1885 in Rudolfsheim, einem Vororte Wiens, sich zeit seines Lebens dem Wahlspruch Goethes, "nur Lumpe sind bescheiden", verpflichtet fühlte.

Mit diesem philosophischen Vorbau, gepaart mit der Einstellung, daß er niemanden, ihn aber alle anderen im Schachspiel zu fürchten hätten, führte er stets ein offenes, zuweilen auch ein wenig spöttisch angehauchtes Wort. Da er mit allen großen Schachgeistern jener Tage nur zivile Duelle auf dem Brett austrug, blieb er uns lange genug erhalten, um die Nachwelt mit humoristischen Geschichten zu erfreuen. Wären die Waffen schärfer und nicht solche des Geistes gewesen, er hätte auf Grund seiner mäßigen Kriegskunst früh von der Welt Abschied nehmen müssen. Unterzog er seine Spielstärke gelegentlich doch einer strengen Selbstkritik, so war seine Einsicht durchaus bestechend in ihrer Genügsamkeit: "In diesem erlauchten Kreise glänzte ich weniger durch grandiose Spiele als durch ein großartiges Mundwerk." Von diesem Mundwerk soll in unserer kleinen Anekdote nun die Rede sein. Es bedarf keiner allzu großen Phantasie, um sich auszumalen, daß unser Freund und Freigeist dank seiner ungesattelten Zunge öfter in die Pflicht genommen wurde, als ihm lieb war. So geschah es eines Abends, die Meister saßen in geselliger Runde um die Bretter, als Krejcik, von seinem ureigenen Teufel geritten, das große Wort führte, obgleich seine Stellung in den letzten Zügen lag. Nun trug es sich jedoch undankbarerweise zu, daß unter den Anwesenden ein betagter Herr mit Namen Hirschhorn zugegen war und sich mit großer Belustigung an die Runde wandte. Ein weniger vollerzogener Mensch hätte vielleicht gesagt, er stichele.

Nun, in Wien, der Stadt mit einem gesunden Verhältnis zum durchbluteten Wortwitz, gehört eine Prise 'Schmäh' so notwendig zum Leben wie der Apfelstrudel auf den Sonntagstisch. Das Spiel dieses Herrn hatte sich nie im besonderen hervorgetan. Sein Platz war die mittlere Charge, seine Leidenschaft das Kiebitzen. Seine allabendliche Freude mischte sich gern in den Sieg des Besseren und naschte daran mit heimlicher Genugtuung.

Sie waren also wesensverwandt, dieser Hirschhorn und unser Freund Krejcik. Beide flüchteten, da keiner für sich allein stehen konnte, in die Nähe großer Meister, die genug Schatten warfen für ein buntes Publikum. Wer kennt sie nicht, die Spottdrosseln im Barte großer Meister!

Sichtlich behagte es Hirschhorn, seinen stillen Konkurrenten marod zu sehen. Die Freude des einen labte sich am Leid des anderen, und während Hirschhorn guter Dinge war, sank Krejciks Stimmung unter den Gefrierpunkt. Das Schicksal indes, das seinem König drohte, konnte kein Zähneknirschen abwenden. Als aber Krejciks Gegner würdevoll das Schachmatt intonierte, verstieg sich Hirschhorn zu der Unbedachtheit, Krejcik zu barbieren, ohne an dessen Niederlage persönlich Anteil gehabt zu haben: "Sie scheinen sich für das Schachspiel zu interessieren, ich an Ihrer Stelle würde es doch erlernen".

Der Zorn brannte auf seinem Gesicht, als sich Krejcik nun seinerseits zu einer Unbesonnenheit hinreißen ließ und höhnisch erwiderte: "Ihnen gebe ich die Dame vor und spiele jede Partie um einen Gulden!" Erstaunen legte sich auf die Gesichter aller anwesenden Meister. Mochte ihnen Krejciks kühne Selbstdarstellung auch zuweilen auf den Geist gehen, die Schuld an diesem Malheuer trug eindeutig Hirschhorns Handschrift. Aber die Herausforderung war nicht mehr rückgängig zu machen. Das freche Wort stand wie ein marmornes Denkmal im Raum.

Die Schuld mußte beglichen werden, und traf sie auch den Falschen. Sofort wurden die Figuren aufs Brett gestellt und eine Schar Neugieriger umringte beide Kampfhähne mit lächelnder Häme. Wehe denen, die sich die Suppe um der Ehre willen versalzen. An ein Zurück war jedenfalls nicht zu denken.

Hirschhorn, froh darüber, dem Maulhelden Senf zwischen die Zähne streichen zu können, strahlte wie ein Honigkuchen. Eine Dame zur Vorgabe, wer macht sich da noch Gedanken? Als Krejcik jedoch, statt sich in seine Gedankenklause zurückzuziehen, munter drauflos redete, jeden Zug in Bausch und Bogen kommentierte und gar nicht wenig Lobesworte für diesen oder jenen Plan fand, schwand die Zuversicht aus Hirschhorns Gesicht. Während Krejcik seine Züge flott und ungezwungen ausführte und dabei wie ein Barde seinen eigenen Untergang besang, vergrub sich Hirschhorn mehr und mehr in die Furcht, zum falschen Zug greifen zu können.

Die Art des Schwätzers ist bekanntlich, mit vielen Worten zu blenden, und kaum zwei Dutzend Züge später stand Hirschhorns Stellung trotz Damenüberlegenheit vor dem Ruin. Ein letzter wohlpointierter Zug, und Hirschhorn erhob sich mit hochrotem Kopf von seinem Sitz und verließ niedergeschlagen das Klubhaus. Hatte Krejcik jedoch geglaubt, nun den Ruhm der Rache abernten zu können, so sah er sich jäh eines besseren belehrt, als Meister Albin das Wort beflügelte: "Mit dem Mundwerk werden Sie noch viele Partien gewinnen".


Erstveröffentlichung am 24. August 1995

03. März 2007


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