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MELDUNG/815: Simultan auf beiden Seiten (SB)



Neuer Weltrekord in Prag

In früheren Zeiten war es nicht unüblich, daß Schachmeister den Kontakt zum Publikum geradezu gesucht haben. Nur von Ferne oder durch Glasscheiben getrennt eine Partie zu beobachten hat weniger Reiz, als wenn man mit einem Meister des Fachs selbst eine Partie austrägt. Da der Klassenunterschied zu einem Laien kaum zu beziffern wäre, ersannen findige Köpfe das Simultanmatch, bei dem ein Meister des Königlichen Spiels gleichzeitig gegen mehrere Simultangegner antritt, deren Zahl nach oben offen ist und durchaus mehrere Hundert betragen kann. Der Simultanspieler geht dabei von einem Brett zum anderen, verweilt einen Moment und führt dann seinen Zug aus. Kurz verschnaufen, weiterlaufen. Daraus leitet sich auch der ältere Name Reihenspiel für das Simultanmatch her. Immer schon waren Schachspieler bestrebt, ihre Kunst einer größeren Öffentlichkeit näherzubringen, hing doch von der Medienwirksamkeit nicht selten die Fülle ihres Portemonnaies ab. Turnierveranstalter sahen es zudem gern, wenn sich prominente Schachmeister bereiterklärten, im Rahmen eines Turniers auch eine Simultanveranstaltung zu geben, lockte dies doch mehr Zuschauer in die Turnierhallen, die so die Gelegenheit am Schopfe packten, einmal in ihrem Leben gegen einen illustren Schachdenker spielen zu können. Die Chance, den Großmeister vielleicht doch besiegen zu können, erhöht sich zumindest statistisch, wenn Laienspieler in einem großen Haufen, also in der Überlegenheit der Zahl, einem einzelnen Meister die Stirn bieten. Dahinter steckt die Hoffnung, daß der Meister an einem Brett im Andrang der Gedanken möglicherweise die Übersicht verliert und einen falschen Zug macht, der dem glücklichen Laien einen Sieg beschert. Schach auf diese Weise populärer zu machen, stellt unstrittig eine solide Marketingstrategie dar, die kein anderer so hervorragend bediente wie der kubanische Weltmeister José Raúl Capablanca, der regelrechte Simultantourneen durch die USA und die Sowjetunion absolvierte.

Eine andere Art des Simultanspiels besteht darin, daß zwei Großmeister zugleich an mehreren Brettern gegeneinander spielen und so auf hohem Niveau eine Anzahl von Partien am selben Ort, zur gleichen Zeit austragen. Die beiden russischen Großmeister Michail Tal und David Bronstein begeisterten 1982 in Tiflis ihr Publikum mit einem Match an acht Brettern, womit sie für eine lange Zeit einen Weltrekord aufstellten. Der für seine wilden Kombinationen am Brett ebenso berüchtigte wie gefürchtete Tal setzte sich seinerzeit mit 5:3 gegen seinen Kontrahenten durch.

Es dauerte lange, bis dieser Rekord gebrochen wurde. Am 4. Dezember lieferten sich David Navara und Sergei Movsesian ein Duell an zwölf Brettern gleichzeitig. Schon eine einzelne Partie zwischen turniererprobten Meistern erfordert ein Höchstmaß an Konzentration, zwölf auf einen Streich zu spielen setzt dem noch die Krone auf. Austragungsort war das Einkaufszentrum Luziny in Prag. Für die beiden war es übrigens keineswegs eine Premiere. Bereits 2011 hatten sie ein Match in dieser Disziplin an sechs Brett bestritten, was den fast 30 Jahre alten Rekord von Bronstein und Tal jedoch nicht tangierte. Navara ist ein Weltklassespieler und die Nummer 1 der Tschechischen Republik, während der in Armenien geborene Movsesian die slowakische Staatsangehörigkeit besitzt, seit Jahrzehnten in Prag lebt, aber für den armenischen Schachverband spielt. Damals setzte sich Navara knapp mit 3,5:2,5 durch.

Im Luziny in Prag betrug die Bedenkzeit pro Partie 90 Minuten für 40 Züge sowie 30 Minuten für den Rest der Partie, zuzüglich 30 Sekunden für jeden ausgeführten Zug. Es zeigte sich, daß Navara, der am Spitzenbrett des Bundesligisten SV Mühlheim Nord spielt, deutlich besser vorbereitet war und den Wettkampf überlegen mit 8,5:3,5 für sich entschied. Ein neuer Weltrekord, der jedoch, wie sollte es anders sein, beiden Spielern, die sich dieser Marathonaufgabe stellten, gebührt.

Doch was ist die Quintessenz von diesem Spiel? Ist die ganze Welt ein kindliches Staunen und Experimentieren mit dem Zufall oder doch nur ein befristetes Entfliehen der Arbeit, ein Blick in die Ferne, der, einmal zurückgebrochen, das Dasein im Käfig bestätigt?

Daß dieser Wettkampf ausgerechnet in Prag stattfand, war kein Zufall. Die Tschechen sind ein schachbegeistertes Volk. Eine Parkbank, auf der zwei Leute Schach spielen, und im Nu bildet sich eine Traube Schaulustiger, vergessen ist die Hetze des Alltags, sie bleiben stehen, schauen, staunen, als gäbe es nichts anderes auf der Welt zu tun, als würde sich gerade hier und nirgendwoanders Ruhe finden lassen. Überhaupt hat das Schach in Osteuropa weitaus tiefere Wurzeln geschlagen als in jeder anderen Weltregion. Aber ist das Grund genug, um sich in einer Einkaufspassage als Reklametafel für den Kommerz herzugeben? Oder drückt sich darin ein fordistisches Motiv aus, quasi am Fließband Partien zu produzieren, immer schneller und sinnentleerter nach dem Ticktack der Schachuhren? Eine Attraktion für die gaffende Menge war es sicherlich, die nunmehr vollends begriffen hat, daß in einer Welt der Waren nichts zu billig ist, um es dem allesverschlingenden Kauf- und Konsummoloch nicht in den Rachen zu werfen.

14. Dezember 2016


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