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MELDUNG/816: Postfaktisch postuliert (SB)



Budenzauber mit der Zahl

Irgendwann haben wohl die meisten Klubspieler auch einmal eine Partie ohne Ansicht des Brettes gespielt. Der Reiz steckt in der Herausforderung, sein am Brett geschultes Abstraktionsvermögen, also Züge im Kopf zu berechnen, auch blind zu testen. Die Erfahrungen lassen sich leicht subsummieren: Wenn der Gegner deutlich schwächer spielt und man das nötige Maß an Konzentration aufbringt, lassen sich Blindpartien auch gewinnen, aber das Niveau liegt erheblich unterhalb des eigenen Standards. Blindschach ist demnach nicht nur den Großen in der Schachkunst vorbehalten, aber es sind ihre Leistungen auf diesem Gebiet, die medial verbreitet werden und damit in eine Wissenslücke aus Aberglauben und Faszination stoßen. Eine Besonderheit gibt es jedoch, die aus ihrer jahrelangen Turnierpraxis resultiert: Großmeister sind in der Lage, eine große Anzahl an Blindpartien nacheinander (Blindschach in Folge) oder sogar gleichzeitig (Blindsimultan) zu spielen.

Am 4. Dezember stellte der usbekische Großmeister tatarischer Abstammung Timur Gareyev einen neuen Weltrekord im Blindsimultan auf. In der University of Nevada in Las Vegas trat der in Taschkent geborene, inzwischen aber in den USA lebende Großmeister gegen 48 Gegner an. Die Augen verbunden saß Gareyev während der Partien auf einem Hometrainer. Die Züge seiner Kontrahenten wurden ihm angesagt und seine eigenen von Assistenten jeweils ausgeführt. Am Ende des Blindmarathons konnte der Usbeke 35 Siege verbuchen bei sieben Remisen und sechs Niederlagen. Ein beachtliches Ergebnis und eines Weltrekordes allemal wert, zumal zuvor tatsächlich niemand gegen so viele Gegner blind spielte und gleichzeitig eine derart hohe Gewinnquote erzielt hatte. Nun gibt es allerdings kein offizielles Gremium, das einen Weltrekord in der Disziplin Blindsimultan vergeben könnte. Das heißt, die Bewertung hängt nicht unwesentlich von den Pressemitteilungen ab.

Überhaupt scheint Gareyev, der sich gerne Blindfold King nennt, in diesem Jahr regelrecht auf Rekordjagd gegangen zu sein. Bereits am 24. September absolvierte er im Coralville Marriott Hotel in Iowa in einer über zehnstündigen Dauerbelastung auf dem Trimmrad 64 Blindpartien in Folge, von denen er unter der Aufsicht der beiden FIDE-Schiedsrichter Mark Capron und Eric Golf Vigil 54 gewann, zwei remisierte und acht verlor. Fünf der Verlustpartien des 28jährigen resultierten aus Zeitüberschreitungen. Aber auch seine Siege waren nicht immer frei von Fehlentscheidungen, die jedoch oft ungeahndet blieben. Gespielt wurden sie als Blitzpartien von drei bis fünf Minuten Bedenkzeit sowie wechselnden Formaten wie dem Fischer-Schach.

Doch welchen Wert hat ein Simultanrekord gegen Kontrahenten, die bestenfalls einem lokalen Schachverein angehören, aber mitnichten Profi-Status besitzen? Quantität macht noch lange keine Qualität aus. Im Boxsport spricht man in solchen Fällen von Fallobst. Konkret wiesen seine Gegner aus Iowa, Illinois, Kansas und Missouri eine durchschnittliche Wertung von 1432 USCF-Punkten auf, in der USCF-Blitzwertung rangierten sie von 243 bis 2147. Selbst einem geübten Spieler unterlaufen bei einer Blitzpartie strategische Fehler und Figureneinsteller, um so mehr gilt dies natürlich für Gelegenheitsspieler unter dem Streß einer tickenden Uhr.

Das Blindspiel geht weit in die Geschichte zurück und wurde schon von den Arabern im 8. und 9. Jahrhundert praktiziert. Erstmals in Europa bekanntgemacht hat es der Sarazene Buzzecca im Jahre 1266 im Florentiner Pallazo del Popolo, als er gegen starke Gegner gleichzeitig zwei Partien blind und eine sehend austrug. Das Resultat mit zwei Siegen und einem Remis hatte in der damaligen Zeit, wo das Spiel aus dem Gedächtnis heraus ein Novum darstellte, die Gemüter sichtlich erregt, aber erst der Franzose André Danican Philidor sorgte mit seinem Blindspiel gegen drei Gegner gleichzeitig im 18. Jahrhundert für eine länderübergreifende Sensation. Von da an haben Meisterspieler gerne aufs Blindschach zurückgegriffen, um ihr Renommee aufzupolstern wie der Amerikaner Paul Morphy im 19. Jahrhundert, der acht Partien blindsimultan zum besten gab. Hohe Vertreter der Schachkunst wie Louis Paulsen, Joseph Henry Blackburne und Johannes Herman Zukertort erhöhten die Zahl ihrer Gegner sukzessive und ernteten dafür den Beifall ihrer Zeit.

Unter der Losung viel Feind viel Ehr' stieg die Zahl der Kontrahenten im 20. Jahrhundert immer weiter an. Als hervorragende Blindsimultanspieler traten unter anderem Harry Nelson Pillsbury (22 Gegner, 1902), Gyula Breyer (25 Gegner, 1921), Richard Réti (29 Gegner, 1925), Alexander Aljechin (32 Gegner, 1933) und George Koltanowski (34 Gegner, 1937) hervor. Daß ein gewisser Schmu mit Sensationslust verquickt für Schlagzeilen sorgen kann, bewies Miguel Najdorf, der zunächst 1943 gegen 40 und vier Jahre später gegen 45 Brettgegner antrat und die meisten Partien gewann, was wenig verwunderlich war, da er in aller Regel gegen blasse Provinzspieler die Klingen kreuzte. Der deutsche FIDE-Meister Marc Lang stellte vom 26. auf den 27. November 2011 in Sontheim an der Brenz einen neuen Weltrekord gegen 46 Gegner auf, wobei 25 Siege, 19 Remisen und zwei Niederlagen zu Buche schlugen. Mit im Durchschnitt knapp über 1500 DWZ waren auch seine Gegner kaum mehr als bessere Klubspieler. Als Harry Nelson Pillsbury 1902 in Hannover dem Blindschach eine Bresche schlug, trat er immerhin gegen Teilnehmer des Hauptturniers beim 13. Kongreß des Deutschen Schachbundes an, die ihr Metier verstanden und dem Amerikaner nur drei Siege erlaubten. In sieben Partien mußte Pillsbury kapitulieren, elf endeten mit Remis.

Daß ein Großmeister blindsimultan auch gegen erfahrene Turnierrecken bestehen kann, stellte Robert Hübner 1982 unter Beweis, als er gegen sechs Spieler des Hamburger SK aus der 1. Schachbundesliga spielte, vier Partien gewann und zwei remisierte. 1997 wiederholte Hübner seinen Erfolg gegen sechs Spieler aus der Mannschaft des Zweitligisten SF Köln mit fünf Siegen und einem Unentschieden. Und zwei Jahre später warf er in Berlin die Mannschaft des SC Kreuzberg aus der zweiten Bundesliga sprichwörtlich auf die Bretter. Aus acht Partien resultierten fünf Siege und drei Remisen. Der wohl beste Schachspieler aller Zeiten, Garry Kasparow, nahm es am 7. Juni 1985 in Hamburg gar mit zehn starken Gegnern bei einer Zeitkontrolle von anderthalb Stunden für 40 Züge auf, wobei der Russe eine halbe Stunde extra erhielt als Ausgleich für den Zeitverlust wegen der Zugübermittlung durch Boten. Kasparow siegte in acht Partien und ließ nur zwei Remisen zu.

Daß Blindschach, wie früher angenommen, zu Wahnvorstellungen und mentalen Defekten führen könnte, weswegen das Blindsimultan zwischenzeitlich in der Sowjetunion verboten war, gehört ins Reich der Legenden und Schauermärchen. Abgesehen vom Medienrummel trägt das Blindschach, ob nun in Folge oder simultan, gewiß nicht zur Weiterentwicklung der Schachkunst bei. Schon eine einzelne Blindpartie verflacht das Niveau, was deutlich macht, daß die Visualisierung der Züge im Kopf nicht allein zum Verständnis einer Schachpartie beiträgt, daß Auge und Verstand nicht nur aus Gewohnheit zusammengehen müssen, um eine bestimmte Stufe der gesellschaftlichen Reflexion, die man auch als Denkspiel bezeichnet, zu erreichen. Im entgrenzten Raum der Gedanken, ohne die festen Konturen des Brettes und der Figuren, die Orientierungen stiften, fällt es auch Meistern der Kunst schwer, die Flüchtigkeit des Denkens durch wiederkehrende Muster zu kompensieren und damit begehbar zu machen.

Ob Garejev aus lauter Ruhmsucht in Las Vegas und Iowa ein als Weltrekord getarntes postfaktisches Postulat aufstellte oder Personen und Umstände geschickt verknüpft hatte, um sich einen Kurzurlaub finanzieren zu lassen, bleibt sein unbenommenes Geheimnis. Bei alledem sollte jedoch nicht vergessen werden, daß es auch Menschen gibt, die entweder blind geboren wurden oder früh das Augenlicht verloren und ungeachtet dessen an Schachturnieren teilnehmen, die also im wahrsten Sinne des Wortes Blindschach spielen. Zu dieser Gruppe begeisterter Schachenthusiasten gehört auch der Niederländer Lucas de Jong. Für den 23jährigen Studenten aus Nijmegen, der stets von seinem Blindenhund Okie zu einem Turnier geführt wird, ist die Welt ein ewigdunkler Raum. Strapazen und Handicaps auf sich nehmend bestreitet er als Kapitän der fünften Mannschaft des SNB Nijmegen Turniere und Partien auf einem speziellen Schachbrett, auf dem er die jeweilige Stellung ertastet. Während das Blindschach für einen sehenden Meister eine Trainingsmethode darstellt, bei der er sich das Schachbrett immer wieder im Geiste vorstellt, ist blindsimultan für Menschen wie de Jong der natürlichste Ausdruck ihres Schaffens auf einem Brett mitten in der Finsternis.

21. Dezember 2016


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