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MELDUNG/832: Alexander Morozevich feiert 40. Geburtstag (SB)




Kreative Geister braucht das Schach

Wenn Alexander Morozevich am Brett sitzt und in die Runde schaut, liegt in seinem Blick etwas Verträumtes; nicht versonnen noch tiefgründig oder gar mit vornehmer Distanz blickt er auf das Geschehen um sich herum, wohl aber mit der Attitüde eines Denkers, der sich nicht vereinnahmen läßt. Stets adrett gekleidet, leger, keineswegs mit der Steifheit eines britischen Kragens, geht von ihm der Charme eines ungebändigten Avantgardisten aus. Der russische Großmeister, der heute am 18. Juli seinen 40. Geburtstag feiert, ist ein hervorragender Angriffskünstler, berühmt und gefürchtet für sein risikovolles Spiel. Auf Konventionen nimmt er keine Rücksicht - Morozevich ist alles mögliche, nur kein dressiertes Zirkuspferd.

Gerade für diese Respektlosigkeit gegenüber dem guten Ton und Konsens einer Welt, in der die Kunst sich im Streben nach Erfolg allzu oft und imageschädigend verbiegt, liebt ihn seine zahlreiche Fangemeinde. Am Brett kann er auch einem Weltmeister gefährlich werden. Doch so, wie er mit wildem Elan in die Top-10 vorstürmt und einen Turniersieg nach dem anderen erringt, kann es geschehen, daß er schwächere Perioden durchläuft, massiv Elo-Punkte einbüßt, sein Stern zu erlöschen droht, um sodann, wie der legendäre Vogel namens Phönix, wieder aus der eigenen Asche zu schillerndem Glanz emporzustreben.

Schon in seinen Kindertagen in Moskau wurde sein einzigartiges Talent erkannt. Zunächst unter der Anleitung von Lyudmila Belavenets und später von Vladimir Jurkov feierte er seine ersten Schacherfolge und sorgte schließlich mit 17 Jahren für weltweites Aufsehen, als er 1994 auf dem Lloyds Bank-Meisterturnier in London mit 9,5 Punkten aus 10 Runden den ersten Platz erzielte, und doch war dies nur der Vorlauf zu weiteren Sensationssiegen. Nur ein Jahr später bezwang er beim Intel Grand Prix Turnier in Moskau mit den weißen Steinen keinen Geringeren als Viswanathan Anand brillant mit dem Königsgambit, einer alten Eröffnung, die im 19. Jahrhundert zur scharfen Klinge geschliffen wurde, aber derer man sich heutzutage auf Großmeisterebene kaum noch bedient.

Morozevich hat seitdem etliche starke internationale Turniere gewonnen, war erfolgreich auf Schacholympiaden - Bronze 1994 und Gold 1998, 2000 und 2002 - und gewann 2007 den russischen Meisterschaftstitel. Wenn es für ihn gut läuft, gehört er stets zu den heißesten Anwärtern auf den ersten Platz. Sein Spiel zeichnen weniger verschlungene Eröffnungskenntnisse aus, er ist kein pedantischer Theoretiker. Vielmehr legt er den Schwerpunkt auf das Mittelspiel, wo er seine Gegner oft mit kuriosen, taktisch-versierten Einfällen überrascht. Auch daß er alte Varianten ideenreich wiederzubeleben weiß, ist Ausdruck einer Originalität, die immer wieder typische Schemata durchbricht und so Modeströmungen eine klare Absage erteilt. So machte er die Tschigorin-Verteidigung des Damengambits wieder populär, über die er 2007 ein Buch veröffentlichte.

Mit dieser Visitenkarte avanciert er zum Publikumsmagneten, weil in seinen Partien das kämpferische Element eindeutig im Vordergrund steht. Ihn zu bezwingen ist schwer. Nicht eher gibt er Ruhe, bis alle Ressourcen einer Stellung ausgeschöpft sind. Und nicht selten findet er den Weg durch ein kompliziertes Nadelöhr zum Remis. Mitunter verschwindet Morozevich fast gänzlich von der Turnierbühne wie 2010, als er Einladungen unbeantwortet ließ und als Trainer für Zhu Chen in Katar fungierte. Schon kursierten Gerüchte von einem Rücktritt, aber dann im Jahr darauf kehrte er stärker denn je in die Turnierhallen zurück und gewann unter anderem das Superturnier in Saratow. In den letzten Jahren sah man ihn seltener auf Turnieren mit klassischer Bedenkzeit, dafür aber häufiger auf Schnell- und Blitzturnieren.

Für welchen Weg sich Morozevich letztlich auch entscheidet, im modernen Schach wird er ein Rätsel und unberechenbar bleiben. Sein Talent ist unbestritten, aber als Spieler und Person umgibt ihn ein kaum zu durchdringendes Geheimnis. Ein gutes Beispiel dafür ist der Weltcup 2011, wo er Alexander Grischuk nach nur 12 Zügen ein Remisangebot machte, obwohl er, um weiter im Wettkampf zu bleiben, unbedingt gewinnen mußte. Natürlich nahm sein Landsmann die Offerte an, ohne Morozevichs Beweggründe jedoch verstehen zu können.

In einer Zeit, in der Vorbilder rar werden und das Schach seinen Stellenwert im Kulturbetrieb wie nie zuvor behaupten muß, sind Spieler wie Morozevich nicht nur gefragt, sondern auch unverzichtbar, um den Anhängern des Königlichen Spiels zu verdeutlichen, daß kreative Geister, nicht Litfaßsäulen der Vermarktung, das Leitmotiv der Popularität prägen.


18. Juli 2017


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