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DAS TURNIER/003: Die Tücke des Armageddons - Juniorenzweikampf in Yancheng (SB)


Wei Yi und Richard Rapport im Clinch


Lange vor der Institutionalisierung des Turnierwesens bildeten Zweikämpfe das Rückgrat der schachlichen Auseinandersetzung auf europäischem Boden, die mehr einen persönlichen denn öffentlichen Charakter hatten. Weder ging es um Preisgelder noch um nationalen Ruhm, sondern um die Entwicklung des eigenen Spiels im Duell mit dem Können und Kenntnisstand eines anderen Schachspielers. Die Turniertradition hat die Zweikämpfe nicht völlig aufgehoben, aber doch ziemlich an den Rand gedrängt. In den Weltmeisterschaften hat sich die Form des Zweikampfs noch am ehesten erhalten, auch wenn hier der Gedanke des Kommerzes weitgehend die Patenschaft übernimmt. Gelegentlich kommt es dennoch zu einem direkten Vergleich zweier Spieler, mitunter weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus, wie jüngst vom 20. bis 23. Dezember im chinesischen Yancheng in der Provinz Jiangsu, wo der chinesische Nachwuchsstar Wei Yi mit der ungarischen Zukunftshoffnung Richard Rapport einen Wettkampf über vier Partien nach klassischer Bedenkzeit austrug.

Wei Yi und Rapport führen die aktuelle Weltrangliste der Junioren U20 mit jeweils einer Elo-Zahl über 2700 an, und beide sind für ihren angriffslustigen Stil bekannt, der kompromißlos über Schablonen und Modeströmungen hinweggeht. In der heutigen Zeit, in der die Ausbildung und Optimierung von Schachtalenten oft den Weg über die computergestützte Konditionierung nimmt und ein risikofreudiges Spiel fast schon atavistischen Flair besitzt, gehören beide der sich neuerdings vermehrt Bahn brechenden Post-Carlson-Generation an, die weniger auf Computeranalysen eingeschworen und eher bereit ist, das eigene Denken jenseits der Algorithmen wiederzuentdecken. Die Aufbruchstimmung ist gegen die Fanfarenklänge eines perfekten Schachspiels gerichtet, das angeblich mit den Schachprogrammen Einzug hält. Doch die Geburtswehen täuschen. Was als Perfektion umjubelt wird, ist oftmals nichts anderes als ein Schwinden der Kreaktivkräfte, einhergehend mit einer Sterilisierung der Schachstrategie, bis nur noch gespielt wird, was im Sinne eines Buchhalters korrekt ist. Besser ließe sich der Fundamentalirrtum von einem richtigen Schach, dem über allem thronenden Dogma gesellschaftlich-technologischer Unterwerfung nicht dokumentieren.

Yancheng, 300 Kilometer nördlich von Shanghai gelegen, ist die Heimatstadt Wei Yis und zählt, gemessen an chinesischen Standards, mit etwa 1,5 Millionen Einwohnern eher zu den kleineren Städten. Organisiert wurde der Wettkampf vom chinesischen Schachverband, um seinem Jungtalent die Möglichkeit zu bieten, auch fernab des offiziellen Turnierbetriebs Erfahrungen im Austausch mit europäischen Starspielern zu sammeln. Wei Yi ist mit 17 Jahren drei Jahre jünger als sein Kontrahent. Nur zehn Elo-Punkte trennen Rapport (2717) und Wei Yi (2707) voneinander, aber ihre Karrieren verliefen dennoch sehr verschieden.

Auf sich aufmerksam machte Wei Yi insbesondere 2010, als er die Jugendweltmeisterschaft in der Altersklasse U12 in Porto Carras mit 9,5 Punkten aus 11 Runden gewann und dank seines Erfolges zum FIDE-Meister ernannt wurde. Nachdem er 2012 beim Aeroflot Open in Moskau und bei der Asiatischen Einzelmeisterschaft in Ho-Chi-Minh-Stadt seine letzten IM-Normen erfüllt hatte, wurde ihm Januar 2013 der Titel des Internationalen Meisters (IM) verliehen. Nur wenige Monate später avancierte er zum Großmeister (GM). Vorangegangen war die Erfüllung zweier GM-Normen 2012 bei der Juniorenweltmeisterschaft in Athen und beim 2. INA Open in Jakarta, die dritte Norm folgte im März 2013 beim Reykjavik Open. Im selben Jahr nahm Wei Yi erstmals am Schach-Weltpokal teil und überzeugte mit Siegen über Jan Nepomnjaschtschi und Alexei Schirow, die ihm gegenüber Favoritenstatus besaßen, aber von der Angriffslust des jungen Chinesen niedergerungen wurden. In der dritten Runde war für Wei Yi jedoch Schluß, als er gegen Shakhriyar Mamedyarow den kürzeren zog. Seine Karriere nahm dennoch Fahrt auf. Bei der Juniorenweltmeisterschaft 2014 landete er mit nur einem halben Punkt hinter Lu Shanglei auf dem zweiten Platz.

Auch der Westen hatte seinen Kometenflug nun endlich auf dem Radar, und so wurde er im Januar 2015 zur B-Gruppe des Tata-Steel-Schachturniers in Wijk aan Zee eingeladen, wo er mit 10,5 Punkten aus 13 Partien glänzend den Turniersieg einfuhr und so sein Ticket für die A-Gruppe des holländischen Superturniers im nächsten Jahr einlöste. Dort traf er auf die besten Spieler der Welt. Mit 6.5/13 landete Wei Yi punktgleich mit Mamedyarow zwar nur auf den geteilten 7. und 8. Platz, aber neben einer langen Remisserie, unter anderem gegen Weltmeister Magnus Carlsen, gelang ihm immerhin ein Sieg gegen den starken Tschechen David Navara.

Im März 2015 hatte er zudem einen Rekord aufgestellt, als er mit dem Erreichen einer Wertungszahl von 2706 Elo-Punkten zum jüngsten Spieler seit Einführung des Elosystems avancierte, der die magische Grenze von 2700 Elo-Punkten überschritt. Und Wei Yi legte noch einmal nach, als er im Mai 2015 die chinesische Einzelmeisterschaft in Xinghua mit 15 Jahren als jüngster Spieler, der den Titel je errang, gewann. Bemerkenswert daran war vor allem, daß er aus den ersten acht Runden fünf Siege bei drei Remisen verbuchte und es sich leisten konnte, in den letzten drei Runden nur einen Punkt gutzumachen. Einzig Lu Shanglei mußte er sich geschlagen geben. Im Jahr darauf verteidigte Wei Yi seinen Titel als Landesmeister ungefährdet und souverän. Auch wenn Chinas Top-Elite in Xinghua diesmal nicht an den Start ging, war das Turnier dennoch stark besetzt. In den ersten sieben Runden gewann Wei Yi seine vier Weißpartien und remisierte dreimal als Nachziehender. Sein Vorsprung war so groß, daß er sich vier weitere Remisen erlauben konnte und dennoch mit anderthalb Punkten Vorsprung brillierte. Seit 2014 ist Wei Yi Mitglied der chinesischen Nationalmannschaft und errang mit dieser Gold sowohl bei der Schacholympiade 2014 als auch bei der Asiatischen Mannschaftsmeisterschaft im selben Jahr. Goldsegen gab es für ihn und Chinas Nationalteam auch im April 2015 bei der Mannschaftsweltmeisterschaft im armenischen Zaghkadsor, wo Wei Yi mit 7 Punkten aus 9 Partien zum erfolgreichsten Spieler des Turniers aufstieg.

Bei den Frauen gehört China längst zur absoluten Weltklasse, aber bei den Herren fehlt noch der letzte Schliff und Anschluß an die Weltspitze. Das mag daran liegen, daß China weniger Großmeister hat als andere Schachnationen und die Riege ihrer Starspieler noch sehr jung ist. Ni Hua beispielsweise, der zur chinesischen Top-Ten zählt, ist erst 33 Jahre alt und gilt dennoch als Dinosaurier. Begünstigt durch die mediale Fokussierung auf die eigenen Elitespieler im Westen dringen Berichte über asiatische Jungstars und Top-Turniere nur selten hierher durch. Als Wei Yi mit 13 Jahren beim Reykjavik Open mit 7,5 Punkten aus 10 Runden hinter Pawel Eljanow, Wesley So, Bassem Amin (je 8,0/10), Anish Giri und Iwan Tscheparinow (je 7,5/10) einen erstklassigen sechsten Platz unter 227 Startern errang, wurde dies zwar zur Kenntnis genommen, aber ansonsten nicht weiter gewürdigt, obwohl er bis dahin eine ganze Reihe internationaler Erfolge eingefahren hatte. Man gab sich statt dessen weitgehend reserviert.

Möglicherweise war der Erfolgsweg von Magnus Carlsen weniger steinig, weil der Norweger die Presse hinter sich hatte und Europa, wie sich dann bestätigte, in ihm den zukünftigen Weltmeister sah. Wei Yi hingegen mußte sich seine Sporen hart verdienen und bekam dafür nicht immer den Zuspruch der zumal westlichen Berichterstattung, die den jungen Chinesen ungeachtet seiner beachtlichen Erfolgsserien eher stiefmütterlich, fast wie einen Exoten behandelte. Ob hinter der Mauer des Schweigens politisches Kalkül stand, läßt sich nur vermuten. Daß Wei Yi in der isländischen Hauptstadt nur gegen Wesley So eine Partie verlor, der 2007 selbst einmal der jüngste Großmeister in der Welt war, aber im Gegenzug Großmeisterkaliber wie Wladimir Baklan und Maxime Vachier-Lagrave bezwang, rief jedenfalls keine Stürme der Begeisterung hervor, und das, obwohl Wei Yi gegen den Franzosen Vachier-Lagrave nur 33 Züge bis zum Triumph brauchte.

Selbst als Wei Yi zwei Jahre später von der Presse nicht länger totgeschwiegen werden konnte, weil seine Erfolge für sich sprachen, blieb der Ton eher unterkühlt bis aversiv. So übertitelte der Schachblog der Zeit einen Bericht über Wei Yi mit "Der Chinese mit den Frikadellenhänden", der stets im gleichen blauen Trainingsanzug mit der Aufschrift China zu den Spielrunden beim World Cup in Baku erschien und dabei einen in sich gekehrten, fast abwesenden Blick verriet. Trotzdem Wei Yi in der aserbeidschanischen Hauptstadt Perlen seines Könnens präsentierte, wertete man ihn als einen bestenfalls trickreichen Spieler ab, der Notlagen noch zum Guten wenden konnte, aber im Grunde gegen schwächere Gegner wie den Ukrainer Wowk und seinen Landsmann Ding Liren mehr glücklich als verdient weitergekommen war. Frikadellenhände übrigens deshalb, weil sein Händedruck offenbar weich wie eine Frikadelle gewesen sein soll. Nun müßte selbst der größte Hohlkopf wissen, daß es unter Asiaten vollkommen unüblich ist, sich die Hände zu schütteln. Ihr höflicher Gruß drückt sich in einer leichten Verbeugung aus. Daß die Verunglimpfung eines jungen chinesischen Großmeisters als introvertiert, gefühlsarm, vielleicht gar dumm so ins Kulturrassistische abfärbt, ist mehr als bedauerlich, wenn man bedenkt, daß kaum eine andere Nation derzeit so begeistert ist von klassischer Musik und so viele hervorragende Pianisten hervorbringt wie China.

Respekt statt niederschwellige Ressentiments hat Wei Yi schon deshalb verdient, weil er im Juli 2015 auf dem 6. Hainan Danzhou-Turnier in Anlehnung an Bobby Fischer seine Partie des Jahrhunderts gegen den Kubaner Lazaro Bruzon spielte, in der er mit einem Turm- und Läuferopfer eine Jagd auf den schwarzen König von g8 nach h3 einläutete. Auf jeden Fall braucht Wei Yi keinen Vergleich mit dem Weltmeister Magnus Carlsen zu scheuen, zumal er ein Schach spielt, das vielen Freunden des Königlichen Spiels aus dem Herzen spricht. China ist im Herrenschach kein schlafender Panda mehr, Talente wie Wei Yi sind üppig vorhanden. Es gilt nur noch, die Perle in der Krone zu erobern. Daß man von chinesischen Nachwuchsstars so wenig zu hören bekommt, hat einen einfachen Grund: Sie werden selten zu den exklusiven Superturnieren im Westen eingeladen.

Im Gegensatz dazu hatte es Richard Rapport ungleich leichter, sein Talent unter der Ägide einer wohlgesonnenen Presse und eingebunden in eine Turnierinfrastruktur, die in Europa sicherlich vorbildlichen Charakter hat, zu entwickeln. Der Ungar wurde 1996 in Szombathely nahe der Grenze zu Österreich geboren und erlernte das Schachspiel im Alter von vier Jahren von seinem Vater, um seine Konzentrationsschwierigkeiten in den Griff zu bekommen. Daraus resultierten mehr als nur gute Noten in der Schule. Als 10jähriger wurde Rapport in die Zentrale Schachschule Geza Maroczy aufgenommen, wo ihn namhafte Trainer und Großmeister wie Emil Anka, Peter Lukacs, Jozsef Pinter und Robert Ruck unter ihre Fittiche nahmen. Eine Zeitlang ging er ferner beim früheren Weltstar Alexander Beljawski in die Lehre.

Ungarn ist eine alte Schachnation, die in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine hohe Blütezeit und später mit den Polgar-Schwestern und Peter Leko eine Art Renaissance erlebte. Der ganz große Durchbruch blieb jedoch aus, doch können die Magyaren auf private finanzstarke Sponsoren als auch auf die Unterstützung staatlicher Institutionen setzen, die viel in den nationalen Schachbetrieb investieren und angehenden Starspielern wie Rapport tatkräftig unter die Arme greifen. Vom Gewinn der Europameisterschaft der Europäischen Union in der Altersklasse U10 in Mureck im Jahr 2006 bis zum Titel des Internationalen Meisters im Jahr 2009 schien es für ihn nur ein Katzensprung gewesen zu sein. Stringent hatte er dazu die erforderlichen Normen bei der offenen ungarischen Meisterschaft 2008 in Harkány sowie 2009 beim Genset Cup in Szombathely und First Saturday-Großmeisterturnier in Budapest erfüllt. Als er im Jahr darauf auch seine Normen zum Großmeister im Alter von 13 Jahren, 11 Monaten und 6 Tagen absolvierte, löste er nicht nur Peter Leko als bis dahin jüngsten ungarischen Großmeister ab, sondern avancierte zumindest zwischenzeitlich zum jüngsten Großmeister der Welt in der Nachfolge von Jorge Cori aus Peru, der diesen Rekord mit 14 Jahren und zwei Monaten aufgestellt hatte.

2013 war für Rapport ein besonders erfolgreiches Jahr. So belegte er beim Tata-Steel-Schachturnier in der B-Gruppe mit 9 Punkten aus 13 Partien nach Wertung den zweiten Platz hinter dem punktgleichen Arkadij Naiditsch, gewann das 21. Sigeman&Co-Turnier in Malmö mit 4,5 Punkten aus 7 Partien nach Wertung vor Nigel Short und Nils Grandelius und glänzte in Warschau mit 9,5 Punkten aus 11 Partien bei der Europameisterschaft im Schnellschach. Nationale Ehren holte er 2014, als er erstmals für Ungarn an der Schacholympiade teilnahm und die Silbermedaille errang.

Anders als in Deutschland, wo die Schulpflicht in aller Regel unverhandelbar ist, sind in Ungarn - wie auch der Fall der Polgar-Schwestern zeigt - Ausnahmeerlasse möglich. So verließ Rapport als 9jähriger die reguläre Schule, um sich verstärkt dem Schachspiel widmen zu können, und mußte fortan nur an den Prüfungen teilnehmen. Bereits als 12jähriger galt er im erweiterten Sinne als Schachprofi, der bis zu zehn Stunden am Tag Schachtheorie und -strategie paukte. Schon seit längerem wird die Nummer 1 der Weltrangliste der Junioren vom Juristen und Schachmeister Andras Flumbort als Manager betreut.

Rapport ist bei allem Ernst, mit dem er seine Profikarriere verfolgt, keineswegs schachbesessen und weiß seine Prioritäten zu ordnen. So stellt er sein Privatleben, zumal nach seiner Heirat 2016 mit der serbischen Großmeisterin Jovana Vojinovi´c, über das Schachspiel, auch wenn es ein wichtiger Teil seines Lebens bleibt. Verdruß und Langeweile empfindet er bestenfalls bei der täglichen Routine und Vorbereitung auf Turniere, am Brett selbst, wenn ihn das Feuer der Leidenschaft packt, genießt er dagegen die Adrenalinschübe. Wie unverkrampft und ehrlich er dabei in den Spiegel schauen kann, ohne altbekannte Phrasen über das Schachspiel dreschen zu müssen, zeigt sich auch daran, daß er ohne Gewissenspein zugibt, nichts schrecklicher zu finden, als keine Fortschritte zu machen, wenn er merkt, daß sein Spiel sich in Wiederholungen und Spiralen verfängt. Dann sei es am besten, einfach einen Tag Pause zu machen oder in die Ferien zu gehen, bis sich der Kopf wieder leert und man neu beginnen kann. Zum Stubenhocker hat ihn das Schachspiel jedenfalls nicht gemacht.

Nach den vielen Jahren der Askese, wo das Schach seinen Alltag dominiert hatte, geht er inzwischen befreiter mit sich und seiner Profession um. Als Schachprofi müsse man nicht mehrere Stunden am Tag an einer bestimmten Thematik arbeiten, um etwas herauszufinden. Wo seine Schachkollegen am PC jede Variante bis ins kleinste analysieren und sezieren, ist er bestrebt, Abkürzungen zu nehmen, also sich mit einem Problem erst unmittelbar am Brett zu konfrontieren. Kreativität lasse sich nicht erzwingen oder nach der Uhr regeln. Wer immer mit dem Kopf durch die Wand will, holt sich nur Beulen. Zudem ist Rapport ein aggressiver Spieler, der im Taktischen sein Metier hat. Die Herausforderung im Turnier, wenn alle Sinne sich auf die vorliegende Aufgabe stürzen, ist seiner Ansicht nach inspirierender auch in Hinblick auf eine Weiterentwicklung als das sture Ansammeln von Schachwissen.

In diesem Sinne ist Rapport ganz Praktiker und kein Theoriebüffel, einer, der das Originelle sucht und ungewöhnliche Züge liebt, auch wenn dies für andere nach einem unentschuldbaren Frevel aussieht. Warum nicht früh in der Partie etwas ganz Verrücktes machen, was gegen jede Sitte verstößt und alle Regeln auf den Kopf stellt, wenn es hilft, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Losgelöst von den Fesseln der Eröffnungstheorie ist der Himmel die einzige Grenze für ihn. Kein Buch oder Schachprogramm kann einem das Wesen und die Geheimnisse einer Schachstellung vermitteln. Sein Schachtrainer Adrian Mikhalchishin ist beileibe kein Anwalt der Künstlichen Intelligenz. Schachcomputer bergen für ihn die unermeßliche Gefahr, das Denken zu übernehmen und ins Maschinenhafte zu verzerren. Wo für den Computer alles klar scheint, ist die Unsicherheit das einzig Verläßliche, und nur dort trifft man auf das authentische Moment der Kreativität.

Der Zweikampf in Yancheng stand also ganz im Zeichen des Post-Carlsen-Paradigmenwechsels. Keine staubtrockene Theorie, sondern originelles Spiel verzauberte die Zuschauer vor Ort, die in der ersten Partie ihrem Lokalmatador zujubeln konnten. Wei Yi ging mit einer furiosen Angriffspartie in Führung, in der er seine taktische Brillanz unter Beweis stellen konnte. Doch Rapport konterte gleich in der nächsten Runde mit den weißen Steinen, als er den Chinesen vor den gordischen Knoten positioneller Probleme stellte, die er technisch nicht angemessen lösen konnte. In der dritten Partie griff der Ungar mit Schwarz auf eine seltene Variante der Caro-Kann-Verteidigung zurück und konnte ein klares strukturelles Übergewicht herausspielen. Doch Wei Yi erwachte rechtzeitig aus der Schreckstarre und generierte genügend Gegenspiel, um die Partie in einem Leichtfigurenendspiel ins Remis zu retten. In der vierten Partie des Wettkampfs war der Chinese besser auf den Weißaufschlag seines Kontrahenten vorbereitet, so daß ein unspektakuläres Remis den 2:2-Ausgang sicherstellte.

Nach dem Reglement folgte darauf ein Stechen über zwei Blitzpartien mit je 5 Minuten Bedenkzeit und drei Sekunden für jeden ausgeführten Zug extra. Wei Yi gewann die erste, Rapport die zweite Blitzpartie. Wieder Ausgleich, aber nun folgte die finale Armageddon-Partie, wo nicht so sehr das Geschick der Spieler entscheidend ist als vielmehr das Los der Farben. Weiß bekommt fünf Minuten Bedenkzeit, Schwarz nur vier Minuten, aber Weiß muß gewinnen, andernfalls geht der Sieg an Schwarz, auch wenn die Stellung auf dem Brett tot und remis ist. Wei Yi hatte das Pech, mit Weiß spielen zu müssen und kein Matt erzwingen zu können. Die Minute extra zahlte sich für ihn nicht aus. Schachlich gesehen war der Ausgang des Wettkampfs alles in allem gerecht. Rapport ging daraus als verdienter Sieger hervor, weil er nach der Auftaktniederlage seinen Kontrahenten am Folgetag regelrecht überspielt hatte und in der dritte Partie eindeutig am Drücker war. Daß Armageddon-Partien einen unfairen Vorteil für den Schwarzen darstellen, ist unstrittig. Hätte Wei Yi partout nicht gewinnen müssen, dann hätte er eine dreimalige Stellungswiederholung zum Remis herbeiführen können. So gesehen sind sich in Yancheng ebenbürtige Spieler begegnet. Das Regelwerk hat den Ausschlag gegeben. Wichtiger als die Frage nach dem Sieger oder Verlierer des Wettkampfs war jedoch, daß zwei Spieler jenseits der ausgetretenen Pfade Schach auf einem hohen Niveau gespielt haben, ohne daß der Unterhaltungswert zu kurz kam.


30. Dezember 2016


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