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SCHACH-SPHINX/04585: Meisterschaft ist nur eine Etappe (SB)


Michail Tal hatte nie viel Aufhebens um seine Garderobe gemacht, und auch sein Haupthaar fiel ihm, wie es wollte, über die Stirn. Modebewußtsein kannte er im Gegensatz zu vielen seiner zumal jüngeren Mitstreiter nicht. Sein nie gewichtig hervorgekehrtes Mienenspiel, sein freundliches Wort zu jedermann, der sanfte Glanz seiner Augen, all dies trug dazu bei, Tal zu einer respektierten Persönlichkeit zu machen. Da verzieh man ihm gern, daß sein Anzug allzu speckig war und seine Zigarettenasche achtlos zu Boden fiel, wenn er gerade angeregt in ein Gespräch vertieft war. Tal hatte mit 24 Jahren den Weltmeistertitel errungen, was jedoch nebensächlich, nur eine Etappe in seiner spielerischen Entwicklung war. Was ihn über das Grab hinaus unvergeßlich macht, sind seine gewaltigen Partien und Züge, die er mit unvergleichlichem Kombinationsgenie hervorzauberte. In der Schachwelt hat es wohl keinen anderen Meister gegeben, der wie er die Schwerfälligkeit der Materie überwand, Kunstwerke schuf, die man bewundern, im Grunde jedoch nicht nachvollziehen konnte. Seine Partien abenteuerlich zu nennen, wäre ein Ding der Untertreibung. Goethe hat einmal behauptet, "wer zu viel verlangt, wer sich am Verwickelten erfreut, der ist den Verirrungen ausgesetzt", doch andererseits war er kein besonders guter Schachspieler. Er hätte sonst seinen Spruch ins Gegenteil umgeschrieben, hätte die Verwickeltheit weniger gefürchtet und erkannt, daß der morsche Sinn des Gradlinigen kein Talent hervorbringt, geschweige denn ein Genie. Um die Ecken den Blick wandern lassen, in die Tiefe graben, die Berechnung als einen begrenzten Pfad verlassen, dieser Schritt ins unbekannte Land, wo Phantasie verarmt, Verstand sich nur als Schatten wähnt, wo der Geist den jungfräulichen Atem tut, nur dort, wo die Kerkerwand des Kleinmütigen keine sperrende Gewalt mehr hat, sich jeder Gedanke zum Flügelschlag schwingt, wird Unsterblichkeit geboren. Also, Wanderer, Tal flog im heutigen Rätsel der Sphinx nach nunmehr 1.Sc3-d5! c6xd5 2.Dd3xd5+ Sd6-f7 3.Dd5xa8 Le8-c6 wie nebenher ein genialer Gedanke zu!



SCHACH-SPHINX/04585: Meisterschaft ist nur eine Etappe (SB)

Tal - Wisozki
Leningrad 1954

Auflösung letztes Sphinx-Rätsel:
Tschigorin verzieh sich 1.Ld6-b4?? Te2xh2+ 2.Kh1-g1 Td2-g2# nie; einer der schlimmsten Patzer der Schachgeschichte.


Erstveröffentlichung am 10. Januar 2001

06. Dezember 2012





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