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SCHACH-SPHINX/05515: Identifikation mit der Maske (SB)


Wenn ein Gärtner die Zweige eines Baumes schneidet, so treibt er stärker aus. Mit Menschen ist es nicht anders. Allen Lebewesen ist dieser Zug zur Erneuerung, zum wilden Sprießen eigen, wenn sie beschnitten, also in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Junge Klarinettenspieler, Tennisbuben und -mädchen oder Schachkinder schreiben ein Kapitel für sich im Buch der Talente. In der Ausbildung ihrer begabten Fähigkeiten übt jeder Mensch, der ihnen nahesteht, die Funktion ebenjenes Gärtners aus. So erinnert sich Garry Kasparows Mutter Klara: "Von Garrys neuntem Lebensjahr an haben wir jeden Tag hart gearbeitet, das Wort 'Erholung' kennen wir nicht." Wunderkinder nennt man hinterher das Resultat des künstlichen Eingriffs in den natürlichen Wuchs der Seele und des Leibes. Die Identifikation des Zöglings mit seiner Maske ersetzt später die Haut, sie wird sein Abgott im Pantheon der fremdbestimmten Ziele. Kasparow selbst sagte dazu: "Ich lebte schon immer in einer großen Anspannung, vor allem aber seit den Kämpfen um die Weltmeisterschaft. Schließlich wird das Kämpfen zu einer Droge, ohne die man nicht mehr leben kann, ohne die man sich leer fühlt. Manchmal möchte ich einfach weg, aber es geht nicht. Ich habe die Mission zu erfüllen." Metamorphose des Willens. Das Ich wandelt sich zum erzwungenen Selbst. Dazwischen irgendwo sucht sich der solcherart Gefesselte einen alleserfüllenden Sinn für die Qual des immerwährenden Vorwärtsdranges. Mag er dann Meister oder Höheres sein, der Baum des Lebens sprießt nur noch in eine Richtung. Das heutige Rätsel der Sphinx stammt aus dem Weltmeisterschaftskampf gegen Karpow. Es war die 24. und letzte Partie, und alles stand auf dem Spiel. Hätte Karpow gewonnen, so wäre er Weltmeister geblieben. Kasparow reichte bloß ein Remis, um die Krone an sich zu reißen. In einer "denkwürdigen Feldschlacht", so ein Reporter später, "siegte Verbissenheit vor Verstand, das Herz vor dem tausendarmigen Kraken der Gedanken". Karpow hatte überraschend mit dem Königsbauern eröffnet, und natürlich nahm Kasparow den Fehdehandschuh auf und spielte seinen Najdorf-Sizilianer. Mit dem Erreichen der Diagrammstellung war Kasparow in seinem taktischen Element. Mit welchen Donnerschlägen wurde er der jüngste Weltmeister in der Schachgeschichte, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05515: Identifikation mit der Maske (SB)

Karpow - Kasparow
Moskau 1985

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Ziel von Spasskys Kombination war natürlich der schwarze König, und um diesen gefangenzusetzen, vereinigte Spassky Zentrums- und Flügelgeschehen miteinander. Er begann überraschend mit 1.Lg2xd5! Lb7xd5 2.De4-h4 h7-h6 und endete noch überraschender, zumindest für Meister Ciric, mit 3.Dh4xh6!! Sd7-f6 - 3...g7xh6 4.Te6-g6# - 4.Te6xf6!


Erstveröffentlichung am 15. Juli 2002

24. Juni 2015


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