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SCHACH-SPHINX/05516: Den Lauf der Flüsse brechen (SB)


Dem Stempel der Zeit konnten und können nur die wenigsten Schachspieler entgehen. Zumeist ordnen sie sich in den Strom der vorherrschenden Meinung ein, ahmen nach, sind Spiegelgesellen der publizierten Vorbilder und Partien. Wer gegen den Strom schwimmt, muß natürlich Erfolge vorweisen können, sonst wird er als Naivling verlacht und an den Pranger öffentlicher Karikatur gestellt. Beispiele dafür gibt es genug. Mutwillig den Lauf der Flüsse brechen, für diese Großtat gibt es in der Geschichte der Schachkunst nur wenige Namen, einer von ihnen ist Paul Morphy. Sein großes Erbe wird oft verkannt. Zwar werden seine Partien brillant genannt, dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, in welchem zeitlichen Kolorit sie gespielt wurden. Morphy betrat 1857 die große Bühne, zu einer Zeit also, als Anderssens "Unsterbliche Partie" gegen Kieseritzky aus dem Londoner Turnier von 1851 die Grenzen absteckte für das Begreifen der Schachstrategie. Im Grunde jedoch war es nach dem Vorbild des französischen Schachdenkers Philidor sogar ein Rückschritt, weil nämlich die Spielstrategie am Wert kombinatorischer Eingebungen gemessen wurde. Mit Blick auf eine kurzsichtige Erfolgssensation verschmähten die Meister dieser Epoche konzeptionelle Überlegungen, schufen statt dessen wilde Stellungen, aus denen dann der zündende Einfall für den Mattsieg gewissermaßen herausgepreßt, ja erzwungen werden sollte. Anders Morphy, der früh erkannt hatte, nicht mit jedem Zug blindlings auf einen Angriff auszugehen, sondern vielmehr erst die Voraussetzungen struktureller Art hierfür zu schaffen, wie eine fächerförmig entfaltete Figurenaufstellung, Linienöffnung, Stützpunktpolitik usw., ehe der entscheidende Moment für die unwiderstehliche Attacke aus der Stellungsdynamik gleichsam emporgewirbelt wurde. Systematik stand bei Morphy ganz oben, Taktik war dann die notwendige Folge davon. Der russische Ex-Weltmeister Boris Spassky beispielsweise war zu seinen besten Zeiten ein streng systematischer Spieler. Er folgte jedoch nicht so sehr den Richtwerten einer Schachschule, sondern praktizierte durchaus einen eigenen, schwer auszulotenden Stil. Im heutigen Rätsel der Sphinx überrumpelte er damit seinen Kontrahenten Andruet mit den schwarzen Steinen auf eine selten gesehene Weise. Kannst du sie finden, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05516: Den Lauf der Flüsse brechen (SB)

Andruet- Spassky
Bundesliga 1988

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der Weltmeistertitel ging an Garry Kasparow dank seines forschen Zugreifens mit 1...g6-g5! 2.f4xg5 Sf6-g4 - und plötzlich war Kasparow in seinem taktischen Element - 3.Df2-d2 Sg4xe3 4.Dd2xe3 Sb4xc2 und nun verlor Anatoli Karpow in hoher Zeitnot, wenn auch in verzweifelter Stellung, die Übersicht mit 5.De3-b6? und verlor rasch: 5...Lb7-a8! 6.Td1xd6 - 6.Db6xb8 Te8xb8 7.Sb3-c1 Tb8xb2 - 6...Tf7-b7 7.Db6xa6 Tb7xb3 8.Td6xe6 Tb3xb2 9.Da6-c4 - leicht zu durchschauen - 9...Kg8-h8 10.e4-e5 Db8-a7+ 11.Kg1-h1 La8xg2+ 12.Kh1xg2 Sc2-d4+ und Karpow gab auf. Indes, auch das bessere 5.De3-d3 Db8-a7+ 6.Kg1-h1 Sc2-e3 7.Td1-d2 Se3xg2 hätte auf Dauer nicht ausgereicht.


Erstveröffentlichung am 16. Juli 2002

25. Juni 2015


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