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SCHACH-SPHINX/05627: Launisch-lakonischer Einwand (SB)


Einmal angenommen, es gäbe so etwas wie ein natürliches Selbstverständnis zwischen dem Künstler und seinem Werk - wie sollte ein Außenstehender den Zusammenhang begreifen? Zunächst ist jede Partie selbstredend ein Unikat. Der leidige Gelehrten- und Rechtsstreit darüber, wann eine Partie in Hinsicht auf die vielen theoretischen Musterbeispiele aus dem Bereich des Plagiats heraustritt, ist müßig. Ein Maler, der dieselben Farben und Formen wie ein anderer Künstler benutzt, schafft notwendig durch seine Intention, und zwar vom ersten Pinselstrich an, ein rein individuell gefärbtes Kunstwerk. Erinnern wir uns an die werte Dame, die bei einer Ausstellung launisch-lakonisch zu Franc Marc bemerkte, "aber Pferde sind nicht blau". Um die Laienproblematik wissend, entgegnete dieser darauf müde: "Das sind auch keine Pferde, das ist ein Bild." Ebenso wird der Betrachter einer Partie in ein undurchdringliches Dickicht geraten, wenn er sich anschicken wollte, den Gedankengang einer Meisterpartie zu erforschen. Er wird immer auf eine Grenze ohne Einlaß stoßen. Was sich einmal in einem Werk manifestiert hat, erscheint in den Augen der Gegenwart als starres Monument, als ein Fixum jenseits des Begreiflichen. Mehr als einen Versuch zur Deutung hat auch ein Kritiker nicht zur Hand. Die Intimität eines Künstlers mit seinem Werk ist nicht nachempfindbar. Gewiß gibt es ästhetische Kategorien. Auch analytisch mag man sich an eine Partie annähern und entfernt sich dabei im selben Schritt doch unerreichbar vom Eigentlichen. Sprach- und Wortlosigkeit sind die Wegweiser auf den Pfaden hin zum Verständnis einer Partie, und so mischt sich in die Faszination oder Ablehnung immer und fast ausschließlich die Deutungswut desjenigen ein, der, in einem Bild gesprochen, von einer Schlacht gehört hat, aber nicht dabei war. Das heutige Rätsel der Sphinx kann daher nichts anderes anregen, als sich an die wohlgemerkt kombinatorische Logik in der Partie zwischen Schlechter und Mieses heranzutasten. Schlechter hatte zuletzt 1.e4-e5 gezogen, aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Was hatte ihm Mieses an künstlerischem Freiheit entgegenzusetzen, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05627: Launisch-lakonischer Einwand (SB)

Schlechter - Mieses
St. Petersburg 1909

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Trügerisch war die Chance, mit der Siegbert Tarrasch sich wie der berühmte Herr am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf ziehen wollte, denn nach 1.Td1xd6? Td8xd6 2.e4-e5 konterte Emanuel Lasker vernichtend 2...Tc4xf4!, worauf er nach 3.g3xf4 Df6-g6+ eine leicht zu gewinnende Stellung erhielt.


Erstveröffentlichung am 02. November 2002

14. Oktober 2015


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