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REZENSION/017: Blübaum/Müller/Krallmann - Schachtraining mit Matthias Blübaum (SB)


Matthias Blübaum/Karsten Müller/Matthias Krallmann


Schachtraining mit Matthias Blübaum

Sein Weg zum Europameistertitel



Der Titel des Buches "Schachtraining mit Matthias Blübaum" ist ein wenig unglücklich und stolpernd gewählt. Es scheint in Mode gekommen zu sein, Neuveröffentlichungen an die Adresse des umworbenen Lesers mit einem ideellen Lehrzweck auszustatten. In dem vorliegenden Fall wäre dies gar nicht nötig gewesen. Tatsächlich geht es in dem jüngst erschienenen Buchwerk aus dem Joachim Beyer Verlag um weitaus mehr als ein simples Trainingsprogramm. Der Untertitel "Sein Weg zum Europameistertitel" genügt den verlegerischen Ambitionen, und doch wird dem Leser, sobald er das Buch aufschlägt und sich von seinem Zauber umfangen lässt, auf über 300 Seiten etwas geboten, das selbst in der reichen Fachliteratur Seltenheitswert hat. Man könnte gut und gerne von den "Lehrjahren eines Großmeisters" sprechen, um Inhalt und Intention des Buches wiederzugeben.

Die Frage, wie ein junger Mensch sein vorhandenes Talent über viele Jahre zu entfalten lernt, um auf seinem Karriereweg die höchsten Weihen und Hindernisse zu nehmen, wie zum Beispiel die nationale Rangliste bis nach oben zu erklimmen und schließlich als erster deutscher Schachspieler den Titel des Europameisters zu erringen, wird oftmals leider heldenhaft überzeichnet. Vermisst wird ein ehrliches Bekenntnis über die vielen Mühen und Kämpfe, die Zahl turnierlicher Rückschläge und Qualen der Geduld, von den moralischen Herausforderungen und Selbstzweifeln gar nicht zu sprechen.

Ob Robert James Fischer oder Garry Kasparow, man nehme, wen man will aus den Reihen der Elitespieler, in der Regel wird dem Leser die Mär vom Autodidakten aufgetischt, der für sich allein in der Studierstube, ein einsames Genie, die Geheimnisse der Schachkunst ergründet und gegen einen Wald von Widerständen zuguterletzt den Schachthron für sich erobert. Solche Biographien wirken leicht überzuckert wie ein antikes Heldenepos. Die Rolle des Trainers wird dabei gerne unterschätzt oder einfach unterschlagen.

Blübaums Weg zum Gewinn des Europameistertitels ist und bleibt die Hauptachse im Buch, es bildet gewissermaßen das erzählerische Rückgrat, und auch die einzelnen Etappen bei diesem Aufstieg werden ausgiebig behandelt und durch wundervoll kommentierte Partien, anekdotische Einschübe und lebensvolle Impressionen umrahmt. Schon diese Erfolgsgeschichte für sich genommen verleiht dem Buch einen spannenden und lesenswerten Elan. Und doch wäre der mühsame Marathon, den Blübaum zu bestreiten hatte, ohne die funktionelle Zusammenarbeit mit Matthias Krallmann nicht in aller Breite nachvollziehbar. Krallmann, der über viele Jahre die besten Kinder und Jugendlichen aus Ostwestfalen/Lippe trainierte und später als Coach zum Schachbundesligisten Werder Bremen wechselte, hatte Blübaum bereits in jungen Jahren unter seine Fittiche genommen und ihm später einen periodischen Heimunterricht gegeben. Er war auch maßgeblich an Blübaums Eröffnungsvarianten beteiligt. So wählte er Systeme aus, die zu dessen persönlichem Stil passten, nicht mit dem Lehrstock, sondern mit dem einfühlsamen Wissen darum, dass unter seinen Augen ein echtes Talent heranreifte.

In einem eigenen Kapitel erzählt Krallmann von der ersten Begegnung mit dem achtjährigen Knirps auf dem Landesleistungsstützpunkt in Herford und dass er bald schon erkannte, dass ein immenses Ausnahmetalent in Blübaum ruhte. Wenn sich zwei Wege kreuzen und ein gemeinsames Interesse am Wegrand erscheint, kann daraus, wie sich beispielsweise sehr gut am Boxsport nachweisen lässt, ein sehr intensiver und nachhaltiger Ansporn entstehen. Ziele, die vorher träumerisch fern erschienen, geraten allmählich in Griffnähe. Krallmann war über die zehn Jahre seiner Trainertätigkeit bei allen wichtigen Etappen seines Schützlings dabei. Auch das trockene Studium der Endspiele anhand ausgesuchter Lehrbücher, über die ein Schacheleve wohl kaum von sich aus den Rücken krümmen würde, half, aus Blübaum einen vollwertigen Turnierspieler zu machen. 2015 musste Krallmann allerdings erkennen, dass Blübaum eine Schwelle genommen hatte, wo er ihm nichts mehr beibringen konnte, "die besten Züge müssen ihm nun andere empfehlen". (S. 85)

Viele von Blübaums Partien im Buch sind von Krallmann kommentiert, ein Beleg für die enge Zusammenarbeit und Abstimmung; sie atmen den Geist dieser Trainingskooperation und vermitteln einen Blick auf die taktischen und strategischen Fortschritte Blübaums aus der Sicht seines Lehrmeisters. Sie zeigen auch auf, wie sich manche von Blübaums Eröffnungsvorlieben mit der Zeit wandelten und sich andere, die lange wenig Beachtung fanden, zur ersten Wahl verfestigten.

Es finden sich auch eine Reihe von Partien, die von Blübaum und Krallmann gemeinsam kommentiert sind und so verschiedene Blickwinkel auf das Brettgeschehen zulassen. Ausgewählte Partien mit den Top-Stars der Szene wie Wladimir Kramnik und Alexei Schirow hat Blübaum in einem gesonderten Kapitel in Eigenregie erläutert und analysiert. Auch hier besticht das ehrliche Bekenntnis zu den eigenen Schwächen und Zweifeln während einer Turnierbegegnung. Die leidige Vorstellung von einer Partie aus einem Guss, die gespensterhaft seit den Tagen von Siegbert Tarrasch und Emmanuel Lasker die Turnierhallen durchweht hat, ist damit im Lichte der Ernüchterung klar widerlegt. Dass nun allzu Menschliches aus den Entscheidungsprozessen durchschimmert, dass gar Hoffnungen und simple Fehleinschätzungen das Denken trüben können, zeigt eben, dass am Brett menschliche Charaktere, nicht Computer spielen.

Ein sehr umfangsreiches und in verschiedene Themenkomplexe gegliedertes Kapitel hat der renommierte Endspielexperte und Hamburger Großmeister Karsten Müller gestiftet, der neben Blübaum und Krallmann als dritter Autor im Buch auftritt. Im Vorwort zu dem Kapitel hebt Müller nochmals die unverzichtbare Rolle in der Trainerfunktion von Krallmann hervor, der mit seinem Lehrling die "Endspiel Universität" von Mark Dworezki sowie "Winning Endgame Strategy" von Alexander Beljawski und Adrian Mikhaltschischin regelrecht durchgeackert hatte. Erlesene Proben aus der Praxis Blübaums hat Müller zu einem fundierten und lehrintensiven Trainingskurs zusammengeschmiedet.

In den Buch findet sich alles, was einer Biographie ein vollständiges Gesicht gibt wie zum Beispiel die Bedeutung seines Vaters Karl-Ernst Blübaum, der selbst ein erfolgreicher Regionalspieler war und der bereits die schachliche Leidenschaft von Blübaums älteren Schwestern Bettina und Johanna gefördert hatte. Die Atmosphäre im Hause Blübaum war so stets vom Schachzauber durchdrungen. Auch die Aufnahme Blübaums in die Prinzengruppe des Deutschen Schachbundes, die vom Bundesnachwuchstrainer Bernd Vökler ins Leben gerufen wurde, bedeutete einen wichtigen Schritt nach vorne in der schachlichen Entwicklung des amtierenden Europameisters. Diverse Lehrgänge zu speziellen Schachfragen, von international renommierten Meistern geleitet, sowie die erleichterte Teilnahme an großen Turnieren hatten Blübaums Fortschritten Flügel verliehen. Das Interview mit Karl-Ernst Blübaum ist schon deswegen interessant, weil er aus dem familiären Nähkästchen plaudert und viele denkwürdige Momente, als er seinen Sohn noch privat unterrichtete, zur Sprache kommen. Im Buch finden sich zudem zwei Interviews mit Matthias Blübaum, in denen er sich dazu äußert, wie er sich im einzelnen auf hochrangige Turniere und die wachsende Zahl an Weltklassespielern vorbereitet. Auch seine Erfahrungen im Umgang mit dem Schach zu Zeiten der Pandemie kommen zu Wort.

Einen Leckerbissen der besonderen Art stellen die von Krallmann zusammengestellten Eröffnungsvarianten von Blübaum dar, die er von der frühen Jugend an gespielt hat, die jedoch aufgrund seiner Turniererfahrungen, Siege und Niederlagen, einen Wandel durchmachten, manchmal waren es Nuancen, manchmal nahm er ganz neue Eröffnungssysteme in sein Repertoire auf. Krallmann zeigt die Pfade dieser Entwicklung anhand ausgewählter Partien und eines breiten Unterverzeichnisses auf. Im Grunde ist Blübaum ein konservativer Spieler, der sich auf die Hauptvarianten verlässt.

Einblicke in seinen geheimen Variantenkoffer bleiben jedoch verwehrt, aus gutem Grund: Welcher Großmeister würde schon verraten, welche Stellungstypen er bei diesem oder jenem Kontrahenten bevorzugt oder wie er sich auf seine Großmeisterkollegen explizit vorbereitet? Manche Entscheidung fällt tatsächlich am Brett unmittelbar vor dem Partiebeginn. Doch auch so kann der Leser daraus einen Nutzen für sich ziehen, indem er erfährt, auf welchen verschlungenen Wegen sich mitunter ein Eröffnungsrepertoire herausbildet. Eine tiefere Logik liegt einem solchen Aufbau immer zugrunde. Mit dem Buch teilt Blübaum, und auch das ist nicht selbstverständlich, die Besonderheiten seines Spieltyps, seiner Taktik und seines Kombinationsvermögens mit dem Leser.

Und weil es heutzutage fast schon zum guten Ton gehört, darf natürlich der Taktiktest nicht fehlen. Und dieser hat es in sich. Die Aufgaben sind nach Schwierigkeitsgraden geordnet und verlangen vom Leser viel Hirnarbeit und nicht minder eine blühende Phantasie. Das Buch endet mit Turniertabellen und - für alle Freunde der Statistik - Blübaums Elo-Entwicklung.

Ein Buch, das zu lesen und zu studieren, keiner Aufforderung bedarf. Niemand wird es aus der Hand legen wollen, und ja, es erzählt viele Geschichten, so wie jede Biographie viele Verästelungen kennt, und doch gehört alles zusammen, weil ein Mensch dahinter steht.

8. August 2022

Matthias Blübaum/Karsten Müller/Matthias Krallmann
Schachtraining mit Matthias Blübaum
Sein Weg zum Europameistertitel
Joachim Beyer Verlag 2022
308 Seiten, 29,80 EUR
ISBN 978-3-95920-160-5


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 176 vom 13. August 2022


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