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ETHNOLOGIE/017: Südsudan - Schwere Geburt eines Staates (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung -
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 2/2014

Schwere Geburt eines Staates

Von Birgit Fenzel



Staaten entstehen keineswegs aus dem Nichts, sondern sind immer das Ergebnis von Prozessen politischer Willensbildung der Menschen, die in ihnen leben. Konfliktfrei laufen solche Vorgänge in den seltensten Fällen ab, wie das Beispiel von Südsudan als jüngstem Mitglied in der Gemeinschaft souveräner Staaten zeigt. Katrin Seidel und Timm Sureau vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle kommen viele Muster der Entwicklung sehr bekannt vor.


Nach fast einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg trennte sich der Südsudan vor rund drei Jahren vom Sudan, mit dem zusammen er einst das größte Land Afrikas bildete. Endlich schien Frieden eingekehrt, nach einem Konflikt, der Schätzungen zufolge rund zwei Millionen Menschen das Leben gekostet hat - und dessen brutale Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung nach Auffassung der Vereinten Nationen in die Kategorie des Völkermordes fallen.

Doch gegen Ende vergangenen Jahres flammten neue Konflikte auf. Nun waren es nicht die Rebellenarmeen des Südens, die gegen die Soldaten und alliierten Milizen der sudanesischen Zentralregierung antraten. Diesmal war es ein Krieg unter Südsudanesen, als der vom südsudanesischen Präsidenten Salva Kiir Mayardit seines Amtes enthobene Vizepräsident Riek Machar seine Anhänger gegen den politischen Gegner mobilisierte und dieser mit Gewalt antwortete. Im Mai, etwa fünf Monate später, haben Präsident Salva Kiir Mayardit und sein ehemaliger Stellvertreter Riek Machar auf den Druck internationaler Akteure ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, das auch die Bildung einer neuen Übergangsregierung zur Bedingung macht.

Phasenwechsel von Krieg und Frieden

Dass dieser erneute Befriedungsversuch von Dauer sein wird, ist für Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle alles anderes als sicher. "Phasen von gewaltsameren und friedlicheren Dynamiken beobachten wir am Horn von Afrika bereits seit einigen Jahrzehnten", erklärt die Juristin und Afrikawissenschaftlerin Katrin Seidel. Die Mitarbeiterin der Abteilung "Recht und Ethnologie" von Marie-Claire Foblets hat gemeinsam mit ihrem Kollegen Timm Sureau, einem Ethnologen aus der ebenfalls am Institut in Halle angesiedelten Abteilung "Konflikt und Integration" um Direktor Günther Schlee, diese Dynamik anhand der Abfolge von Ereignissen im zeitlichen Umfeld einer Friedenskonferenz untersucht.

Noch bei der Eröffnung einer regionalen Friedenskonferenz, die im April 2012 in Torit stattfand, der Hauptstadt des südlichsten südsudanesischen Bundesstaates Eastern Equatoria, habe der Vorsitzende der Nationalen Landkommission, Robert Ladu Lwoki, sich bester Dinge gezeigt, erinnert sich Sureau. "Er betonte, wie gut es sei, zu dieser Konferenz zusammenzukommen, weil dies bedeute, dass die beiden Gruppen der Mà'di und der Acholi der Panyikwara-Region sich gegen illegale Wege der Konfliktlösung entschieden hätten", berichtet er über den hoffnungsvollen Auftakt des Zusammentreffens der Konfliktparteien. In diesem Sinne verlief auch die Konferenz verhältnismäßig friedlich.

Nur wenig später beobachteten Seidel und Sureau einen enormen Spannungsaufbau auf nationaler Ebene, als der südsudanesische Präsident anfing, unliebsame politische Akteure ins Abseits zu schieben. Der aus heutiger Sicht folgenreichste Schachzug war ihrer Betrachtung nach die Entmachtung des Vizepräsidenten Riek Machar. Nachdem dieser Ambitionen gezeigt hatte, im Jahr 2015 für das Amt des Präsidenten zu kandidieren, hatte Präsident Salva Kiir Mayardit im Juli 2013 mit seinem Stellvertreter gleich das gesamte Kabinett vor die Tür gesetzt: Als Grund für die Regierungsauflösung habe er die Notwendigkeit angegeben, eine schlankere, effektivere Regierung zu bilden.

Das immer gleiche Konfliktmotiv ist Macht

"Seltsamerweise dauerte es einige Monate, bis die Gegenseite öffentlich reagierte", berichtet Seidel. In einer Pressemitteilung im Dezember des gleichen Jahres beschuldigten einige Mitglieder verschiedener Organisationen um den früheren Vizepräsidenten und die mit ihm aus dem Amt entfernten Minister den Präsidenten des Machtmissbrauchs. Außerdem kritisierten sie seinen autokratischen Führungsstil und bezichtigten ihn der Vetternwirtschaft. Der Präsident habe die Anschuldigungen nicht hingenommen, so die Forscherin. "Er stellte sie als vergebliche Versuche verärgerter politischer Verlierer dar, ihn in Misskredit zu bringen." Und so blieb die Auseinandersetzung nicht lange auf verbaler Ebene. Vielmehr eskalierte die Situation kurz darauf zu dem Konflikt, der abermals unzählige Todesopfer forderte, die ad hoc eingerichteten Flüchtlingslager weit über die Kapazitätsgrenzen hinaus füllte und der jetzt mit dem bereits erwähnten Waffenstillstandsabkommen beendet werden soll.

Das Hin und Her zwischen Gewalt und friedlichen Phasen schwingt wie eine Abrissbirne über einem äußerst fragilen staatlichen Gebilde. Zwar gehört der Südsudan, rein formal betrachtet, seit Juli 2011 als jüngstes Mitglied in die internationale Gemeinschaft souveräner Staaten. "Doch damit ist der Prozess der Staatsbildung dort noch längst nicht abgeschlossen", sagt Seidel, die mit Timm Sureau die neue Grundordnung des Südsudans in Theorie und Praxis untersucht hat.

Von einem festen Stand, Zustand oder einer stabilen Entität mit klaren Konturen, wie sie das lateinische "Status" als Lehnwort für den deutschen Begriff impliziert, sei das Gemeinwesen im Südsudan weit entfernt. "Man muss sich das vorstellen wie eine Wolke, die Wassermoleküle versammelt und wieder verliert", beschreibt Seidel das eher zutreffende Konzept. Der kleinste gemeinsame Nenner bei solchen räumlich-zeitlich veränderlichen Konglomeraten sei nicht das Wort, die Idee oder das Konzept, sondern das Gebilde an sich. "In dieser Anhäufung werden aber auch Grenzen zwischen jenen gezogen, die sich in ihr befinden, und jenen außerhalb", sagt sie.

Solche Prozesse der Inklusion und Exklusion sind nach Beobachtung der Wissenschaftler aus Halle im Südsudan allgegenwärtig. Auch wenn die Übergangsverfassung gleiches Recht für alle Südsudanesen formuliert, sieht die Praxis anders aus. Längst nicht alle Bewohner des Landes kommen in den Genuss der Staatsbürgerschaft und der damit verbundenen Rechtsansprüche und Privilegien, haben die Forscher vielerorts festgestellt. Bei ethnologischen Feldstudien, die ihn in die Region um die Provinzhauptstadt Torit führten, beobachtete Timm Sureau, wie die gegenwärtige Regelung der Landrechte gleichermaßen Ausdruck neuer Formen von Diskriminierung ist. "In diesem Fall trifft es urbane Migranten", hat er festgestellt.

Zumeist sind es Menschen, die in den Wirren des Krieges ihre Ursprungsdörfer verlassen haben, entweder um vor Mord und Totschlag zu fliehen oder um selbst als Kämpfer in den Bürgerkrieg gegen die Zentralregierung zu ziehen, und die nun im Umfeld der kleinen, aber zügig wachsenden Hauptstadt von Eastern Equatoria eine neue Existenz aufbauen wollten. So wie Lucy, eine Lokoya-Frau, die als Farmerin unweit der Hauptstadt Hirse angebaut hatte. Von Lucy erfuhr Sureau, der sie im Rahmen seiner Studien neun Monate lang begleitete, eine für die derzeitige Praxis der Rechtsausübung und Behandlung von Staatsbürgerschaft exemplarische Geschichte.

Laut Übergangsverfassung gehört das Land allen Menschen im Südsudan. Derjenige, der ein Stück Wildnis urbar macht, darf es auch bewirtschaften. So gesehen, machte Lucy nur von ihrem Recht als Staatsbürgerin Gebrauch, als sie ein brachliegendes Areal umpflügte und darauf Hirse anbaute. Das durfte sie auch; so lange, bis die United Nations Mission in South Sudan (UNMISS) Platz für den Erweiterungsbau ihrer Niederlassung benötigte und von den Vertretern der Landbehörde ein Stück Baugrund zugewiesen bekam, auf dem sich auch Lucys Feld befand. Plötzlich stand die Farmerin vor einem Stacheldrahtzaun.

Landrecht ja, aber nicht für jeden

Tatsächlich wird der verfassungsrechtlich festgeschriebene, faire und gerechte Zugang zu Land für alle Südsudanesen in der Praxis sehr frei interpretiert, wie Timm Sureau in seinen Interviews erfuhr, die er anschließend mit Vertretern der für die Landvergabe zuständigen Ministerien, der ebenfalls involvierten lokalen Behörden und der Moyomiji, die als eine Art Ältestenrat die höchste Autorität vor Ort vertreten, führte. In diesen Gesprächen stieß der Wissenschaftler auf bemerkenswerte Widersprüche in den Aussagen seiner Gesprächspartner. Auf der einen Seite akzeptierten sie das gesetzlich verbriefte Landrecht für alle Südsudanesen, andererseits auch wieder nicht - mit dem Argument, dass die Farmerin ursprünglich nicht aus Torit stammt - also nicht indigen ist, sondern in einem Dorf in vierzig Kilometern Entfernung geboren wurde und aufgewachsen ist.

Durch diese Praxis der Behörden, die Staatsbürgerrechte mit zweierlei Maß zu messen, werde eine neue Generation "Zweiter-Klasse-Bürger" generiert, so Sureau, der diese Entwicklung als brisant einschätzt. Wie die jüngere Vergangenheit gezeigt hat, bergen solche Differenzierungen erheblichen sozialen Zündstoff. "Auch beim Widerstand gegen die Regierung in Karthoum, aus dem heraus sich der Bürgerkrieg zwischen Norden und Süden und letztlich die Abspaltung entwickelte, war es den Bewohnern im Süden zunächst nur darum gegangen, sich gegen eine empfundene Ausgrenzung zu wehren", sagt Sureaus Kollegin Seidel. Im Wesentlichen sei es dabei um die Teilhabe an politischen Entscheidungen und an den Gewinnen aus Ölquellen zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse gegangen.

Schon damals hätten die politischen Eliten des Südens die "Indigenität" als Kategorie ins Spiel gebracht, um ihre Ansprüche zu legitimieren und den Widerstand in dem Vielvölkerstaat zu mobilisieren. Jetzt wird sie - wie das Beispiel der Landrechte zeigt - ganz anders interpretiert und führt zu weiteren Abspaltungen. "Die im Zuge der Unabhängigkeitserklärung vielbeschworene 'Einheit in der Vielfalt', die das Fundament bilden soll, auf dem der Südsudan als souveräner Staat ruht, und die auch als Bestandteil der Übergangsverfassung festgeschrieben wurde, erscheint in Wirklichkeit nach wie vor als Verhandlungssache", so Seidel.

Überhaupt sei es schwierig, auf der Grundlage des vorliegenden normativen Regelwerks ein funktionierendes Gemeinwesen zu konstituieren, sagt die Rechtsexpertin. "Bei der Übergangsverfassung handelt sich um ein sehr hastig produziertes Amalgam, das unter immensem internationalem politischem Druck und unter Zeitnot erstellt wurde." Für sie stellt sich das Werk als vorgeformter Rechtsrahmen dar, der weder mit politischer Willensbildung zu tun hat, noch der Vielfalt und den Ansprüchen der in dem neuen Staat zusammengefassten lokalen Gemeinschaften und ihren jeweiligen Ordnungsvorstellungen entspricht, geschweige denn Ausdruck von Souveränität ist. "Im Wesentlichen kann die territoriale Idee eines südlichen Sudans zum Teil noch auf koloniale Vorstellungen der 1920er-Jahre zurückgeführt werden, als die anglo-ägyptische Regierung die Einwanderungsbewegungen durch eine sogenannte Distriktpolitik regulierte", so Seidel.

Dass diese Fiktion der territorialen Verfasstheit aus der Kolonialzeit jenseits der Rechts- oder sozialen Wirklichkeit ist, scheint auch einigen politischen Akteuren der ersten Regierungsrunde bewusst gewesen zu sein. Bezeichnend klingt in diesem Zusammenhang eine Äußerung des ehemaligen Unterstaatssekretärs im Kulturministerium, Jok Madut Jok, den die Forscherin im April 2013 traf. "Er hält den Südsudan in seiner jetzigen Verfassung für kaum mehr als ein geografisches Faktum, dessen Einheit nur zustande gekommen ist durch die gemeinsame Ablehnung der Zentralregierung des Sudans", sagt sie.

Der ethnische Konflikt ist nur vorgeschoben

Tatsächlich vollziehen sich die Abspaltungsprozesse auch nach dem Wegfall des gemeinsamen Feindbildes im Südsudan weiter, haben die beiden Wissenschaftler aus Halle festgestellt. Für den Max-Planck-Direktor Günther Schlee, der die Mechanismen der kollektiven Identitätsbildung schon in etlichen ehemaligen Bürgerkriegsländern Afrikas untersucht hat, spielt die Frage sozialer Identifikation auch bei der Entstehung der Konflikte im Südsudan eine entscheidende Rolle. "Es geht immer darum, wer gehört zu wem und warum. Denn die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Allianz regelt auch den Zugang zu Ressourcen, Unterstützung und anderen Vorteilen, die diejenigen, die sich außerhalb der so gezogenen sozialen Grenzen befinden, nicht genießen."

Im Südsudan erweisen sich aus Sicht der Wissenschaftler "Ethnizität" und "Indigenität" als jene Kategorien, mit denen Inklusion und Exklusion betrieben werden. Sie werden von politischen Akteuren und lokalen Eliten gleichermaßen ins Feld geführt - etwa bei der Klärung der Frage der Staatsangehörigkeit wie auch der damit zusammenhängenden Rechte, die jemand besitzt oder - wie im Fall der enteigneten Farmerin Lucy - anscheinend eben nicht."

Solche Beispiele sind für die Forscher Muster für die Flexibilität soziopolitischer Kategorien. "Bei Bedarf könnten diese politischen Einteilungen ohne Verlust ihrer Glaubwürdigkeit verändert werden, indem zum Beispiel in einem Fall ethnische, in anderen Fällen religiöse oder regionale Kriterien in den Vordergrund gerückt werden. Auch kann man all diese Einteilungen enger oder weiter fassen", so Schlee. Darüber hinaus zeigten die Vorgänge im Südsudan deutlich, wie eng der Souveränitätsanspruch von politischen Akteuren mit dem Bestreben verbunden ist, für sich selbst privilegierte Stellungen und politischen Handlungsraum zu gewinnen.

Auch bei diesem Prozess spielen Gruppenbildung und Ausgrenzung eine Rolle, diesmal allerdings, indem die Ethnie ganz deutlich bloß als Instrument eingesetzt wird. Präsident Kiir gehört der Bevölkerungsgruppe der Dinka an, sein ehemaliger Vizepräsident und politischer Gegner Riek Machar den Nuer. Beide instrumentalisieren jetzt ihre Gruppenzugehörigkeit, um ihr Gefolge gegen den Gegner zu mobilisieren. Interessanterweise sind es die beiden ähnlichsten Volksgruppen im Südsudan, die jetzt gegeneinander in Stellung gebracht werden. "Dinka und Nuer sind kulturell eng verwandt", so Schlee. Gerade deswegen sei es in der Geschichte immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Hirtenvölkern um gemeinsam genutzte Ressourcen wie Weideland oder Wasserlöcher gekommen. "Mit der Ähnlichkeit nimmt auch das Streitpotenzial zu", beschreibt er die aus der Konfliktforschung bekannten Mechanismen, die ganz im Gegensatz zu der verbreiteten These vom Kampf der Kulturen stehen.

Darüber, wie die Bevölkerung die politischen und militärischen Konfrontationen, die sich am 15. Dezember vergangenen Jahres, ausgehend von Eskalationen in der Hauptstadt Juba über das ganze Land ausbreiteten, konnte Katrin Seidel zusammen mit ihrem Kollegen Timm Sureau nur wenige zuverlässige Informationen finden. Darunter allerdings eine, die aufschlussreiche Folgerungen über die wahre Natur des vermeintlich ethnischen Konflikts zulässt. Es handelt sich um eine öffentliche Meinungsumfrage, die von einer Nichtregierungsorganisation in Juba durchgeführt worden ist. "Darin drückten viele ihre Verwunderung darüber aus, dass die Regierungspartei es bislang nicht geschafft hat, ihre Differenzen gewaltfrei zu lösen", berichtet sie. Offenbar ist selbst großen Teilen der Zivilbevölkerung bewusst, dass es um die Diadochenkämpfe von Vertretern politischer Eliten geht, die jetzt ihre Ethnie instrumentalisieren, um den notwendigen Rückhalt zu bekommen. Ähnlich sehen es auch die Forscher aus Halle. "Es ist das typische Gerangel der Sieger um Ressourcen, Ämter und Macht, das, wie Beispiele aus der Geschichte zeigen, häufig die ersten Jahrzehnte eines Staatswerdungsprozesses begleiten kann", erläutert Katrin Seidel.

Staatsbildungsprozesse als solche sind allerdings nur schwer miteinander zu vergleichen, weil sie nicht nach bestimmten Mustern verlaufen. Trotzdem werden Staaten auf ihr Zerfallsrisiko anhand von bestimmten Maßstäben gemessen. Nach dem aktuellen "Fragile States Index 2014", der vom Fund for Peace und Foreign Policy veröffentlicht wurde, führt der Südsudan die Liste der "gescheiterten" Staaten an. "So wird paradoxerweise ein werdender Staat abklassifiziert", sagt Seidel. Diese Kategorisierung treffe so gar nicht den Kern der Sache, weil sie auf bestimmten europäischen Ideen von Staatlichkeit basiere. Für Günther Schlee beruht dieses Urteil schlicht auf falschen Prämissen. "Es setzt eine kollektive Identität, also eine fiktive Entität des gesamten 'Staatsvolkes' voraus, für die der Staat gescheitert ist", stellt er klar. "Diese hat sich im Fall des Südsudans jedoch noch nicht konstitutiert."

"Der Wechsel von gewaltsamen und gewaltfreien Phasen ist ein häufiger Begleiter von Staatswerdungsprozessen", sagt Seidel. Dabei gibt es nach Auffassung des Konfliktforschers Schlee durchaus Schritte, die den Weg in den Frieden ebnen. Es sind drei: "Man darf der Ethnisierung und der religiösen Polarisierung keinen Vorschub leisten und sollte ethnische Stereotypisierungen und Grenzziehungen immer hinterfragen. Man sollte eine allgemeingültige Staatsbürgerschaft und die Idee der Gleichheit nicht aufgeben zugunsten von Gruppenrechten. Und man sollte an der Idee des Kosmopolitismus oder des universalen Staatsbürgertums festhalten."


AUF DEN PUNKT GEBRACHT
  • 9. Juli 2011 erlangte die Republik Südsudan die Unabhängigkeit vom Sudan nach langem Krieg; das jüngste Mitglied der Staatengemeinschaft war geboren. Doch die Staatsbildung ist damit noch nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Im Südsudan müssen nun Prozesse der Inklusion und Exklusion ausgehandelt werden. Konfliktfrei geht das nicht.
  • Als staatstragendes Fundament wurde "Einheit in der Vielfalt" beschworen. Doch der Südsudan ist momentan nicht mehr als ein geografisches Faktum. Es fehlt an politischer Willensbildung, die Zeit kostet.
  • Obwohl alle Bürger rechtlich gleichgestellt sind, begründen Kategorien von Volkszugehörigkeit und regionaler Herkunft Abspaltungen und ungleiche Behandlung.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Rindfleisch ist Grundnahrungsmittel im Südsudan. Der Schutz der Tiere - wie hier im Dezember 2013 durch einen Angehörigen des Dinka-Volkes - ist deswegen eine wichtige Aufgabe. Mittlerweile droht eine katastrophale Hungersnot, weil wegen der Kämpfe im Land kein Saatgut ausgebracht werden konnte.

- Gleiches Recht für alle: Das gilt für die Menschen im Südsudan bisweilen nur auf dem Papier. Warum das so ist, versucht Juristin und Afrikawissenschaftlerin Katrin Seidel vor Ort zu recherchieren, hier im Gespräch mit Richtern am "High Court" des Bundesstaates Lakes.

- Land der Extreme: Knapp drei Jahre liegen zwischen diesen Bildern. Jubelnde Menschen feiern die Unabhängigkeitserklärung des Südsudans in der Hauptstadt Juba (links) und Flüchtlinge in der Nähe von Bentiu im Bundesstaat Unity im April 2014.

- Für Katrin Seidel wechseln sich Phasen der Schreibtischarbeit in Halle mit Feldstudien ab. Im Institut lassen sich zum Beispiel die kolonialen Vorstellungen der anglo-ägyptischen Regierung der 1920er-Jahre für einen südlichen Sudan anhand von Literatur studieren. Historische Akten aus dieser Zeit sichtete die Forscherin im Rahmen des Nationalarchiv-Projekts in der Hauptstadt Juba (rechtes Bild).


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http://www.mpg.de/8317031/F001_Fokus_018-023.pdf

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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der
Max-Planck-Gesellschaft, Ausgabe 2/2014, Seite 18 - 23
Hrsg.: Wissenschafts- und Unternehmenskommunikation der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2014