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KIND/089: Frühe Bildung im Kindergarten (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2010

Frühe Bildung im Kindergarten

Von Peter Erath u. Markus Rossa


Wollen und sollen Kinder im Kindergarten einfach nur spielen und in Ruhe gelassen werden oder brauchen sie Anregungen durch Bildungsangebote? In einem zweijährigen Projekt wurden altersgerechte und praxisnahe Lehr- und Lernformen entwickelt. Die Kinder waren mit Eifer dabei.


Wollen und sollen Kinder im Kindergarten einfach spielen und in Ruhe gelassen werden oder brauchen sie Anregungen durch Bildungsangebote. Diese Debatte spaltet derzeit das Land und hat zu einer neuen fachlichen Auseinandersetzung über die Möglichkeiten und Grenzen einer "Pädagogik vom Kinde aus" geführt. Im Rahmen der Entwicklung des Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplanes (BEP), der politisch als "Teil der Qualitäts- und Bildungsoffensive Bayerns" gilt, wurde versucht, dieses Problem "salomonisch" zu lösen: der Plan rät nicht nur zu einer Verbindung aller im Kindergartenbereich bekannten methodischen Vorgehensweisen, wie z.B. "innere Öffnung", "innere Differenzierung", "Projektansatz", "Alltagsorientierung" und "Mitwirkung der Kinder", sondern fordert die Erzieherinnen und Erzieher auch dazu auf, lenkend einzugreifen.

"Freispiel ist wichtig, sollte jedoch unterstützt werden und muss in einem angemessenen Verhältnis zu Lernaktivitäten stehen, die die Erwachsenen planen und initiieren. Das tägliche Erleben strukturierter Situationen als Lernmodell ist wesentlich." (ebd. S. 32f.)

Wie dieses strukturierte Lernen erfolgen soll, wird im Bildungsplan nicht näher ausgeführt. Zur Orientierung werden lediglich 11 Bildungs- und Erziehungsbereiche benannt

• Wertorientierung und Religiosität
• Emotionalität, soziale Beziehungen und Konflikte
• Sprache und Literacy
• Informations- und Kommunikationstechnik/Medien
• Mathematik
• Naturwissenschaften und Technik
• Umwelt
• Ästhetik, Kunst und Kultur
• Musik
• Bewegung, Rhythmik, Tanz und Sport
• Gesundheit


Im Projekt sollte daher die Forderung nach einer stärkeren "Strukturierung des Lernens" aufgegriffen und auf ihre mögliche didaktisch-methodische Umsetzung hin erprobt werden. Außerdem sollte geprüft werden, wie die dabei entstehenden neuen Lehr-/Lernformen im Kindergarten in den Alltag der Einrichtungen eingebaut werden können. Am zweijährigen Projekt nahmen Kindertagesstätten der Diözesen Eichstätt und Regensburg teil. Sie wurden von den Mitarbeiterinnen der jeweiligen Fachberatungen (Gesamtverantwortung: Edith Schmitz) ausgewählt und begleitet. Die fachliche Beratung und wissenschaftliche Unterstützung wurde seitens der Katholischen Universität Eichstätt - Ingolstadt von Prof. Dr. Peter Erath und Markus Rossa (DiplSozpäd) geleistet. Das Projekt wurde vom Caritasverband Eichstätt finanziert und zusätzlich durch eine großzügige Spende der Audi Akademie Ingolstadt gefördert.


Ausgehend von der Annahme, dass Kinder dann gerne lernen, wenn sie das Thema interessiert und die Struktur des Lernprozesses verstehen, wurde auf der Basis des Bildungsplanes in drei Schritten vorgegangen: In einem ersten Schritt wurde der jeweilige Bildungsbereich nach sachlogischen und systematischen Aspekten in Teilbereiche aufgegliedert (siehe Abbildung, linke Spalte) und in einem zweiten Schritt wurden auf der Basis prozesslogischer Überlegungen unterschiedliche und kindgemäße Lehr-/Lernformen (Modultypen) entwickelt (siehe auch Kopfzeile in der Abbildung). In einem dritten Schritt wurden schließlich interessante Themenstellungen identifiziert und in die (für jeden Bildungs- und Erziehungsbereich) entstehende Modulmatrix eingetragen.

Klingt kompliziert ist aber ganz einfach: Erzieher/innen und Kinder sollten stets wissen, warum man im Rahmen eines bestimmten Themas und zu einem gewissen Zeitpunkt im Lernprozess etwas tut und etwas anderes nicht. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass alle Beteiligten den Lernprozess als "sinnhaft" erfahren und leicht mit- und nachvollziehen können.


Insgesamt wurden so in den Arbeitsgruppen über 20 Lernmodule entwickelt. Besondere Aufmerksamkeit kam dabei u.a. dem Bereich Technik zu, in dem die Erzieher/innen noch nicht viel Erfahrung haben. Dr. Michael Köck (Didaktik der Arbeitslehre an der KU) entwickelte in diesem Zusammenhang ein Modul zur Arbeit am Computer. Die Kinder durften mit Hilfe der Software Lego Digital Designer Autos am Bildschirm entwerfen und dann nachbauen. Auf diese Weise lernten sie, zwischen Abbildungen realer Objekte und solchen, die mit dem Computer gezeichnet wurden zu unterscheiden. Bei einem Besuch in der Audi Akademie konnten Sie dann - von Ingenieuren vorgeführt - erleben, wie virtuelle Modelle von Autos bei der Produktentstehung verwendet werden.

Zusätzlich zu den verschiedenen Lernmodulen entstanden (finanziert aus Mitteln der Audi-Akademie Ingolstadt) einige "Expertisen" zu ausgewählten Bildungsplänen. Im Einzelnen entstanden solche Expertisen für den Bereich Religion (Prof. Dr. Bruno Schmid, Prof. em. für Religionspädagogik, Pädagogische Hochschule Weingarten), für den Bereich Kunst (Manfred Nürnberger, Akademischer Direktor. Institut für Kunsterziehung. Universität Regensburg), für den Bereich Technik (Dr. Michael Köck, KU), für den Bereich Soziales (Markus Rossa, KU) und für den Bereich Gesundheit (Dr. Daniela Muhr-Becker, Diplom - Oecotrophologin). Zudem entstanden fünf Diplomarbeiten und Ausarbeitungen von Schüler/innen einer Fachschule in Trier.


Parallel zur Arbeit mit den Lernmodulen setzte sich eine "Strukturgruppe" mit der Frage auseinander, wie die neuen Lernformen im Rahmen der Tages- und Wochenplanung einer Kindertageseinrichtung so ein- und umgesetzt werden können, dass der pädagogischen Ausrichtung der Einrichtung und den Erwartungen von Kindern und Eltern optimal Rechnung getragen werden kann. Insgesamt zeigte sich die Strukturgruppe überzeugt davon, dass mehrere Möglichkeiten der Verknüpfung von freiem Spiel, Projektarbeit und Lernen in Lernmodulen sinnvoll und möglich sind und dass sich alle organisatorischen Probleme lösen lassen. Wichtig erscheint es vor allem, die Eltern umfassend zu informieren und den Zugang zu den Lernmodulen so zu öffnen, dass alle Kinder, die dies wollen, auch teilnehmen können und es nicht zu einem Wettlauf um Zulassung kommt. Zusatzkosten können, da wo dies geboten und einsichtig erscheint (z.B. für Eintrittskarten, Fahrten, besondere Anlässe, etc.), von den Eltern erhoben werden.


Bei der Durchführung des Projekts wurden insbesondere drei pädagogisch-methodische Erkenntnisse sichtbar:

1. Die Arbeit mit Lernmodulen setzt selbstbewusste und weltzugewandte Kinder voraus. Erzieher/innen müssen folglich einen Erziehungsstil entwickeln, der Kinder in diesen Grundhaltungen unterstützt. Die Rede vom "starken", "widerstandsfähigen", "selbstbewussten" Kind" ist heute in aller Munde und wird von Entwicklungspädagog/innen gefordert. Allerdings sind noch nicht alle Kindertageseinrichtungen in der Lage, die damit verbundene erzieherische Haltung seitens der Erzieher/innen sicher zu stellen. Daher gilt es über Fortbildungen und Teamentwicklungen einen neuen, offenen, Kinder stärkenden, "ko-konstruktiven Erziehungsstil" zu entwickeln, der den Kindern dort Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten offeriert, wo es für deren Entwicklung wichtig ist.

2. Die verschiedenen Arten von Lernmodulen müssen in ihrer Grundstruktur verstanden werden - vorher macht es keinen Sinn, sie anzuwenden. Erzieherinnen und Erzieher sollen eine bewusste Entscheidung über die Verwendung einer bestimmten Modulart, wie z.B. Denkerclub, Entdeckergruppe, Kurs, Kreativwerkstatt, etc. treffen. Ist diese didaktisch-methodische Entscheidung aber gefallen, müssen sie sich bei der Ausarbeitung der konkreten Lerneinheit strikt daran orientieren.

3. Eine intensive Zusammenarbeit zwischen didaktisch versierten Expert/innen und den Erzieher/innen ist unerlässlich. Momentan kann der Kindergarten diese Herausforderungen nicht aus eigener Kraft lösen, dazu muss er sich insbesondere mit den entsprechenden Fachvertreter/innen an Hochschulen zusammenschließen.


Die Annahme, Kinder wollten vor allem in Freiheit spielen, hat sich im Projekt nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, die Kinder waren bei allen Lernmodulen mit Eifer dabei und entwickelten Freude und Spaß am Lernen und sogar am Üben. Positive "Bildungserfahrungen" sind offensichtlich auch im frühen Alter schon möglich: richtig angelegt lassen sie die Kinder erleben, dass die methodisch angelegte Auseinandersetzung mit der Welt zur Weiterentwicklung des eigenen Denkens und Wollens und damit zur persönlichen Bereicherung führt. Nichts anderes aber verbinden wir üblicherweise mit dem Begriff der "Bildung".

Nähere Einzelheiten zum Projekt und den Ergebnissen finden sich unter der Rubrik "aktuelles / downloads" unter
www.ku-eichstaett.de/Fakultaeten/SWF/Lehrpersonal/erath


Prof. Dr. Peter Erath ist seit 1988 Professor für Pädagogik und Sozialarbeit an der Fakultät für Soziale Arbeit der KU. Zu seinen Schwerpunkten zählt u.a. Qualitätsmanagementsysteme in Kindertageseinrichtungen, Einrichtungen der Jugendhilfe und Schulen.

Markus Rossa ist Projektmitarbeiter von Professor Erath.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2010, Seite 20-21
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
Tel.: 08421 / 93-1594 oder -1248, Fax: 08421 / 93-1788
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2010