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KIND/115: Die Bedeutung der Fachkraft im frühkindlichen Bildungsprozess (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2012 - Nr. 98

Bildung als Zusammenspiel
Die Bedeutung der Fachkraft im frühkindlichen Bildungsprozess

Von Regine Schelle



Die in den vergangenen Jahren gestiegenen Bildungserwartungen an Kindertageseinrichtungen haben direkte Auswirkungen auf die Bedeutung und Aufgaben frühpädagogischer Fachkräfte: Sie sollen die Bildungsprozesse der Kinder anregen, begleiten, individuell unterstützen und die Bildungsstandards aus den Bildungsplänen der Bundesländer umsetzen.

Die frühpädagogische Fachkraft im Bildungsort »Kita« nimmt die entscheidende Schlüsselposition bei der Unterstützung frühkindlicher Bildungsprozesse ein. Denn unabhängig davon, welchen Betrachtungsweisen auf das kindliche Lernen, welchen pädagogischen Ansätzen oder welchen didaktischen Überlegungen man folgt: Es sind die Bezugspersonen der Kinder, die maßgeblich und nachhaltig ihre Bildungs- und Lernprozesse beeinflussen.

Bildung ist ein Prozess, der vom Individuum selbst erzeugt wird, der sich aber immer auf sachliche und soziale Zusammenhänge bezieht und von diesen abhängt. Frühkindliche Bildungsprozesse kommen ohne soziale Resonanz, ohne Vermittlung und ohne eine sichere Rahmung der eigenen Erfahrungen durch Bezugspersonen nicht zustande. Das Kind braucht Personen, die auf seine Erfahrungen eingehen, sie spiegeln und »sie schließlich auch in Worte fassen« (Schäfer 2008). Gelingende Bildungsprozesse in einer Kindertageseinrichtung basieren auf einem Zusammenspiel zwischen Kind und Fachkraft. Die Fachkraft respektiert die Eigentätigkeit und die selbstbildenden Potenziale und Kompetenzen des Kindes. In ihrer Verantwortung liegt es aber gleichermaßen, diese Eigentätigkeit bestmöglich durch eine entsprechende Gestaltung der Rahmenbedingungen und primär durch eine sichere Bindung sowie durch ihr Interaktionsverhalten zu unterstützen.


Eine sichere Bindung aufbauen

Grundlage jeder Bildungsarbeit ist die Fähigkeit der Fachkraft, eine sichere Bindung und Beziehung zwischen sich und dem Kind entstehen zu lassen. Es liegt in ihrer Verantwortung, den Kindern die Erfahrung von Vertrauen, Verlässlichkeit, Verbundenheit und Anerkennung zu ermöglichen und sich ihnen sowohl individuell als auch im Gruppenverbund aufmerksam zuzuwenden (Drieschner 2011).

Eine sichere Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem ist eine Voraussetzung für den aktiven Aufbau des Subjekt-Welt-Bezugs und für die Exploration der Umwelt. Dafür braucht es eine responsive und sensitive Fachkraft, die jedes Kind bewusst wahrnimmt, prompt auf sein Verhalten reagiert und ihm so ihre besondere Aufmerksamkeit signalisiert (Remsperger 2008). Die Fachkräfte müssen möglichst die gesamte Bandbreite an unterschiedlichen Signalen, die Kinder senden, wahrnehmen und nachvollziehen können. Stärker noch als bei familiären Bindungen sollen Bindungen im Rahmen institutioneller Kinderbetreuung nicht nur eine sicherheits- und zuwendungsorientierte, sondern vor allem eine explorativ-kognitive Dimension umfassen (Drieschner 2011), um der zentralen Aufgabe, die kindlichen Bildungsprozesse anzuregen und zu unterstützen, besonders gerecht zu werden.


Im Dialog sein

Innerhalb einer solchen Beziehung und Bindung wird es dem Kind möglich, die eigenen Bedürfnisse und Interessen sowie die eigenen Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Die Reaktionen der Erwachsenen auf diese Erfahrungen geben wichtige Impulse für die kindliche Entwicklung: Emotionale, aber vor allem auch kognitive Resonanzen dienen dem Kind dazu, »sich seiner Erfahrungen bewusst zu werden, sie zu benennen, zu deuten und einzuordnen« (Drieschner 2011, S. 19). Die zunächst »dyadischen Interaktionsstrukturen« (Ahnert 2006, S. 19) zwischen Bezugsperson und Kind werden mit zunehmendem Alter des Kindes um eine gemeinsame Perspektive auf etwas Drittes, auf den Gegenstand der Interaktion, erweitert. Diese Situationen der gemeinsamen Aufmerksamkeit zwischen Bezugsperson und Kind sind wichtig für die kognitive Entwicklung des Kindes (Drieschner 2011).

Untersuchungen aus der Neuropsychologie bestätigen die Rolle der kontinuierlichen Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind über Erfahrungen und Gegenstände. Ohne solche vermittelnden Beziehungen können »Wissensstrukturen nur unpräzise entwickelt werden. Damit gehören Vorstellungen der Vergangenheit an, die vorrangig (Reiz-)Stimulationen als Grundlage mentaler Entwicklung ansehen und dabei ausblenden, dass der Anregungsgehalt einer Umwelt über soziale Vermittlung transportiert werden muss, um mentale Kompetenz entstehen zu lassen« (Ahnert 2006, S. 19). Aus der Perspektive konstruktivistischer Lerntheorien wird der dialogische Bezug zwischen Lernendem und Lehrendem betont, »womit den sozialen Interaktionsprozessen für die Konstruktionsleistungen der Individuen beziehungsweise deren 'Weltverständnis' ein zentraler Stellenwert zukommt« (König 2009, S. 127). Es ist eine Schlüsselkompetenz der Fachkraft, aufbauend auf einer Bindung zum Kind Interaktionen kontinuierlich als Dialog zu gestalten, in dem das Selbstbildungspotenzial der Kinder greifen kann und die Aufmerksamkeit der Kinder gleichzeitig angeregt, unterstützt sowie gelenkt wird.


Qualifizierungsbedarf der Fachkräfte

Eine Beobachtungsstudie von Anke König (2009) lässt schlussfolgern, dass diese Schlüsselkompetenz keineswegs bei Fachkräften vorausgesetzt werden kann. König hat 61 Fachkräfte in 17 Kindergärten in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen jeweils 60 Minuten während der Kernzeit und der Freispielsituation beobachtet. Im Mittelpunkt des Interesses stand das Interaktionsverhalten zwischen ihnen und den Kindern. Es scheint den Fachkräften schwer zu fallen, Kinder als »Akteure ihrer Entwicklung«, die ihre Entwicklung selbstbestimmt vorantreiben, mit der notwendigen Unterstützung und Anregung der Bildungs- und Lernprozesse zu verbinden. Häufig gehen die Interaktionen zwischen Fachkraft und Kind nicht über das Initiieren und Reagieren hinaus. Geteilte Denkprozesse nehmen im Kindergarten - trotz ihrer entscheidenden Bedeutung für die kindliche Entwicklung - nur eine untergeordnete Rolle ein. Die Auffassung, dass instruktive Anteile einer Interaktion im Widerspruch zur Theorie der aktiv lernenden Kinder stehen, kann zur Folge haben, dass sich die Fachkräfte zu früh aus dem pädagogischen Prozess zurückziehen und eine erweiterte Auseinandersetzung im Interaktionsgeschehen unterbleibt. »Dieses Phänomen wird in der angloamerikanischen Literatur als 'early childhood error' (Kontos 1999) bezeichnet« (König 2009, S. 265). Weitere Ergebnisse der Studie zeigen, dass - ebenso konträr zu der Vorstellung, dass Kinder Akteure ihrer Entwicklung sind - die Handlungsanweisung das hauptsächliche Interaktionsmuster im Kindergartenalltag ist. Nach Anke König wird der Kindergarten damit für viele Kinder zum »unkreativen Interaktionsraum« (König 2009, S. 273).

Zudem lässt sich das Wissen über das Lernverhalten der Kinder sowie über die Bedeutung der Bindung und Interaktion nicht unmittelbar im pädagogischen Alltag anwenden. Diskrepanzen zwischen Wissen und Handeln lassen sich nicht ausschließlich mit unzureichenden Strukturen und Rahmenbedingungen für die Bildungsarbeit in einer Kindertageseinrichtung erklären. Auch der Qualifizierungsbedarf der Fachkräfte, frühkindliche Bildungsprozesse im Rahmen eines äußerst komplexen pädagogischen Alltags optimal zu unterstützen und zu begleiten und damit den Transfer in die Praxis zu leisten, ist hier zu nennen.

Fachkräfte müssen hohen Anforderungen gerecht werden. Sie brauchen nicht nur grundlegende Kompetenzen für die Gestaltung von Bindung und Beziehung sowie Interaktion und Kommunikation, sondern ebenso für die Bereitstellung lernförderlicher Räume, Rhythmen und Materialien. Darüber hinaus zählt es zu ihren Aufgaben, jedes Kind fundiert zu beobachten und regelmäßig seinen Entwicklungsstand einzuschätzen. Hinzu kommt, dass verschiedene Lernsettings geplant und durchgeführt werden müssen. Kompetenzen, auf die besonderen Lernformen der Kinder eingehen zu können (wie zum Beispiel das Lernen durch Spiel), sind ebenso entscheidend wie die Kompetenz, den Sozial- und Kulturraum für die Bildungsprozesse der Kinder zu nutzen (WiFF Wegweiser Weiterbildung 2011). Fachkräfte müssen sich kontinuierlich »systematisch und methodisch abgesichert differenziertes Wissen über die Kinder, ihre Persönlichkeit, ihre Bildungsbedürfnisse, Besonderheiten und Potenziale (...) erschließen«. Dafür brauchen sie »an Forschung orientierte und für die Praxis ausdifferenzierte Methoden der Erfassung, Interpretation, Reflexion und Dokumentation von Erziehungs- und Bildungsprozessen« (Nentwig-Gesemann / Nicolai 2008, S. 117). Vor allem der Spagat zwischen der individuellen Förderung des Kindes und der Förderung der Kinder im Rahmen kooperativer Lernprozesse stellt eine Herausforderung an die Fachkraft dar. Die komplexen Handlungsfelder der Fachkraft verlangen zudem eine hohe Reflexionskompetenz. Das eigene Handeln, zum Beispiel bei der Durchführung eines Projekts oder einer Lernwerkstatt mit den Kindern, muss fortwährend reflektiert werden. Auch die Reflexion des eigenen Zugangs zu bestimmten Bildungsbereichen sowie der eigenen biografischen Bildungserfahrungen ist wichtig.


DIE AUTORIN

Dr. Regine Schelle ist wissenschaftliche Referentin in der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) am Deutschen Jugendinstitut.
Kontakt: schelle@dji.de


LITERATUR

AHNERT, LIESELOTTE (2006): Anfänge der frühen Bildungskarriere. Familiäre und institutionelle Perspektiven. In: Frühe Kindheit, Heft 6, S. 18-23

DRIESCHNER, ELMAR (2011): Bindung und kognitive Entwicklung - ein Zusammenspiel. WiFF Expertisen Band 13. München

REMSPERGER, REGINA (2008): Feinfühligkeit im Umgang mit Kindern. In: kindergarten heute, Heft 2, S. 8-12

KÖNIG, ANKE (2009): Interaktionsprozesse zwischen ErzieherInnen und Kindern. Eine Videostudie aus dem Kindergartenalltag. Wiesbaden

NENTWIG-GESEMANN, IRIS / NICOLAI, KATHARINA (2008): Praktische, theoretische und persönliche Annäherung an das forschende Lernen. In: Daiber, Barbara / Weiland, Inga (Hrsg.): Impulse der Elementardidaktik. Baltmannsweiler, S. 117-128

OSTERMAYER, EDITH (2007): Frühkindliche Bildung und Entwicklung nicht ohne adäquate Qualifizierung von Erzieherinnen. In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis, Heft 1, S. 9-12

SCHÄFER, GERD E. (2008): Das Denken lernen. Bildung im Krippenalter. In: Betrifft Kinder, Heft 8/9, S. 7-15

WiFF WEGWEISER WEITERBILDUNG (2011): Frühe Bildung - Bedeutung und Aufgaben der pädagogischen Fachkraft. Grundlagen für die kompetenzorientierte Weiterbildung. WiFF Wegweiser Weiterbildung 4. München


IM INTERNET

Das Bundesprogramm »Männer in Kitas« des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren und Jugend soll dazu beitragen, den Anteil der pädagogisch arbeitenden Männer in Kitas zu erhöhen. Auf der Internetseite gibt es unter anderem Informationen über Modellprojekte sowie Forschungsergebnisse.
www.koordination-maennerinkitas.de


DJI Impulse 2/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2012 - Nr. 98, S. 27-29
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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Telefon: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2012