Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PÄDAGOGIK

KIND/131: Wo hilft die Schule, wo die Familie? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 143, März 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wo hilft die Schule, wo die Familie?
Kompetenzentwicklung in der Unterrichts- und Ferienzeit

von Anne Christine Holtmann



Kurz gefasst: Können Schulen benachteiligende Familienbedingungen kompensieren? Oder wäre es effektiver, die sozioökonomische Ungleichheit zwischen Familien zu bekämpfen, um Kindern gleichere Bildungschancen zu eröffnen? Um den Einfluss von Familien und Schulen zu trennen, vergleiche ich den Lernfortschritt während der Sommerferien mit dem Lernfortschritt während des Schuljahres. Die Ergebnisse zeigen, dass leistungsschwache Schüler aus benachteiligten Familien während der Sommerferien zurückfallen, leistungsstarke Schüler aus benachteiligten Familien dagegen während des Schuljahres. Dies legt nahe, dass leistungsschwache Schüler aus benachteiligten Familien von besseren Familienbedingungen und leistungsstarke Schüler aus benachteiligten Familien vom Zugang zu besseren Schulen profitieren würden.


"Economic Time Bomb: U.S. Teens Are Among Worst at Math." So klang der PISA-Schock in den USA, konkret: in einer Überschrift des Wall Street Journals. Und nicht nur in puncto Schulleistung schnitten die USA im Ländervergleich von 2003 schlecht ab - auch die Chancengleichheit ließ stark zu wünschen übrig. Wie in Deutschland hängen auch in den USA die Kompetenzen der Schüler besonders stark von ihrer sozioökonomischen Herkunft ab. Beide Länder haben mit Bildungsreformen reagiert. Deutschland hat sich über die Jahre in PISA verbessert, in den USA ist diese Entwicklung ausgeblieben. Haben die Schulreformen versagt? Oder ist die wachsende soziale Ungleichheit die Ursache der Bildungskrise (Berliner 2013)? Für die Bildungspolitik stellt sich die Frage, ob Schulen benachteiligende Familienverhältnisse kompensieren können oder ob es effektiver wäre, durch wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen die Ungleichheit zwischen Familien zu reduzieren.

Eine genaue Antwort auf die Frage zu finden, wie Familien und Schulen die Entwicklung junger Menschen beeinflussen, ist schwierig. Denn gebildetere oder wohlhabendere Familien können ihre Kinder besser fördern und bei den Hausaufgaben unterstützen. Und sie schicken sie auch auf bessere Schulen. Wenn ihre Kinder bei Tests besser abschneiden, ist deshalb nicht klar, ob dies an der Unterstützung der Familie, an der guten Schule oder an beidem liegt.

Ähnliches gilt, wenn ein Land bei PISA gut abschneidet. Dann ist nicht sicher, ob dies an seiner Bildungspolitik oder an der guten Förderung der Kinder in den Familien liegt. Jack Buckley, Beauftragter des Zentrums für Bildungsstatistik der USA, drückt das so aus: "I never expect tests like these to tell us what works in education. That's like taking a thermometer to explain why it's cold outside." Ein Thermometer kann die Temperatur nur messen, nicht erklären. Eine Möglichkeit, den Einfluss von Familie einerseits und Schule andererseits analytisch zu trennen, ist ein Vergleich: Wie viel lernen die Schüler in den Sommerferien und wieviel in der Schulzeit? In den Sommerferien wird das Lernen hauptsächlich durch außerschulische Einflüsse, also vor allem von der Familie geprägt. Während des Schuljahres dagegen wird das Lernen von Familie und Schule beeinflusst.

Datensätze, die diese Unterscheidung erlauben, gibt es nur wenige, denn man benötigt Kompetenzmessungen derselben Schüler mindestens am Anfang und am Ende eines Schuljahres sowie am Anfang und Ende der Sommerferien. Eine solche Studie ist die "Early Childhood Longitudinal Study" aus den USA. Das dortige Schulsystem bietet sich besonders an, da die Sommerferien mit drei Monaten doppelt so lang sind wie in Deutschland, die entsprechenden Prozesse also deutlicher zutage treten dürften. Die Studie begleitet etwa 20.000 Kinder in 1.000 Schulen, die im Herbst 1998 ihr letztes Kindergarten-, also ihr Vorschuljahr begannen. Die Schüler bearbeiteten Lese-, Mathematik- und Sachkundetests jeweils am Anfang und am Ende des letzten Kindergartenjahres, der Sommerferien und des ersten Schuljahres.

Der Soziologe Douglas B. Downey zeigte mit Kollegen anhand dieser Daten, dass sich die Lese- und Mathematikkompetenzen von Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft in den Sommerferien auseinanderentwickeln. Während des Schuljahres dagegen entwickeln sie sich parallel. Das heißt, die Schule verhindert, dass sich die Kompetenzlücke zwischen Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft weiter öffnet, so wie dies in den Sommerferien geschieht.

Die Kompetenzlücke zwischen den guten und den schlechteren Schülern wird während der Kindergarten- und Schulzeit sogar kleiner. Während der Sommerferien dagegen wächst sie. Die leistungsschwächeren Schüler holen also während der Vorschulzeit und in der ersten Klasse gegenüber ihren Mitschülern auf. Sowohl die Vorschule als auch die Schule reduzieren Leistungsunterschiede zwischen den Schülern.

Die schulische Entwicklung eines Kindes hängt also zum einen von seinem sozialen Hintergrund ab, zum anderen von den Kompetenzen, die es bereits in die Schule mitbringt. Um die Leistungsentwicklung von Kindern zu erklären, ist es sinnvoll, beide Faktoren gleichzeitig zu berücksichtigen. Denn nicht alle Kinder aus benachteiligten Familien sind schlecht in der Schule und nicht alle Kinder aus privilegierten Familien zeigen gute schulische Leistungen. Kinder, die trotz hoher sozioökonomischer Ressourcen im Vorschultest schlecht abgeschnitten haben, holen während der Sommerferien gegenüber ihren Mitschülern auf, nicht aber während des Schuljahres. Das legt nahe, dass schlechte Schüler mit vorteilhaftem sozioökonomischem Hintergrund sich verbessern, weil sie von ihren Eltern besonders unterstützt werden, und nicht, weil sie auf bessere Schulen gehen. Die Schule unterstützt vielmehr leistungsschwache Kinder aus benachteiligenden Verhältnissen: Sie holen den Rückstand, der während der Sommerferien entstanden ist, in der Schulzeit weitgehend wieder auf. Ganz schließt sich die in den Sommerferien entstandene Lücke allerdings nicht. Trotzdem ist die ausgleichende Wirkung der Schule bemerkenswert, da in den USA die Qualität einer Schule stark davon abhängt, wie reich der Bezirk ist, in dem sich die Schule befindet. Es ist deshalb zu vermuten, dass der kompensatorische Effekt der Schule in Ländern mit einem weniger ungleichen Schulsystem noch größer ist.

Interessanterweise ist das Entwicklungsmuster für die leistungsstärkeren Vorschüler anders. Schüler, die in der Vorschule gut abschneiden, obwohl sie aus sozioökonomisch benachteiligenden Familienverhältnissen kommen, fallen während der Sommerferien nicht hinter ihre Mitschüler mit gleicher Leistung in der Vorschule zurück. Dies ist zunächst überraschend und legt den Schluss nahe, dass diese Schüler in ihren Familien gefördert werden, auch wenn ihre Eltern wenig Geld und wenig Bildung haben. Wenn diese Schüler zurückfallen, dann eher während der Vorschulzeit (in Mathematik) und während des Schuljahres (im Lesen). Dies legt nahe, dass leistungsstarke Kinder aus benachteiligten Familien schlechtere (Vor-)Schulen besuchen als Gleichaltrige aus bessergestellten Familien und deshalb schlechtere Bildungschancen haben.

Was bedeuten diese Befunde nun für die Frage, ob Bildungsungleichheiten in den USA besser durch Schul- oder durch Sozialpolitik zu bekämpfen sind? Es ergibt sich keine eindeutige, für alle Gruppen gleich geltende Antwort. Für leistungsschwache Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Status scheinen familiäre Bedingungen die Hauptursache zu sein, warum sie im Lesen und in Mathematik hinter ihre Altersgenossen zurückfallen. Deshalb wären für diese Schüler sozialstaatliche Umverteilung oder höhere Mindestlöhne eine gute Bildungspolitik. Dies gilt zumindest, wenn Geld einer der Faktoren ist, die den Familien helfen, ihre Kinder beispielsweise durch Nachhilfe oder Privatschulen zu fördern. Kinder dagegen, die trotz des niedrigeren sozioökonomischen Status schon in der Vorschule gut im Lesen und mathematischen Denken abschneiden, scheinen trotz der geringeren Ressourcen ihrer Eltern zu Hause gut gefördert zu werden. Sie fallen nicht während der Sommerferien zurück, sondern eher während der Vorschulzeit und während des Schuljahres. Dies legt nahe, dass sie von einem Zugang zu besseren (Vor-)Schulen, also von einem weniger ungleichen Schulsystem profitieren würden.

Die USA haben in den PISA-Studien vor allem deshalb schlecht abgeschnitten, weil Schüler aus benachteiligten Familien schlechte Leistungen erzielt haben. Diese Schüler, das zeigt der Vergleich schulischer Lernzeiten mit Ferienphasen, würden sowohl von sozioökonomischer Umverteilung zwischen Familien als auch von einem weniger ungleichen Bildungssystem profitieren. Die Realität in den USA sieht dagegen anders aus: Die soziale Ungleichheit steigt weiter an und die Bildungsreformen fördern die Ungleichheit zwischen Schulen, indem sie schlechten Schulen die Mittel kürzen und Eltern die freie Schulwahl ermöglichen.

Anne Christine Holtmann ist Doktorandin am European University Institute in Florenz. Bis zum Sommer ist sie zu Gast in der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt am WZB. In ihrer Dissertation vergleicht sie, wie Schulen und Familien in verschiedenen Ländern den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen beeinflussen.


Literatur

Berliner, David: "Effects of Inequality and Poverty vs. Teachers and Schooling on America's Youth". In: Teachers College Record, 2013, Vol. 115, No. 12.

Downey, Douglas B./von Hippel, Paul T./Broh, Beckett A.: "Are Schools the Great Equalizer? Cognitive Inequality during the Summer Months and the School Year". In: American Sociological Review, 2004, Vol. 69, No. 5, pp. 613-35.

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 143, März 2014, Seite 33-35
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2014