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KIND/134: Der U3-Ausbau - die Last der großen Hoffnungen (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014 - Nr. 107

Der U3-Ausbau - die Last der großen Hoffnungen
Eine Zwischenbilanz

Von Thomas Rauschenbach, Mariana Grgic und Josefin Lotte



Dass Bildung nicht erst in der Schule beginnt, ist in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern inzwischen Konsens. Mehr als ein Jahrzehnt nach der PISA-Studie zieht auch der Bildungsbericht 2014 eine Bilanz der frühpädagogischen Bestrebungen und Reformen: Was wurde nach der "Entdeckung der frühen Kindheit" in Deutschland erreicht? Welche Leistungen und welche Defizite sind erkennbar?


Um eine Leistungsbilanz des Systems der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung vorzulegen, bedarf es der Analyse der quantitativen und qualitativen Entwicklungen. Als erster Zugang bietet sich ein summarischer Überblick an: Wie hat sich das Angebot an Betreuungsplätzen in Deutschland in den letzten Jahren entwickelt, welche Dynamiken sind hier erkennbar? Die Beantwortung dieser Frage, die zuletzt häufig im Fokus der medialen Debatten stand, genügt jedoch nicht, um die Entwicklungen der Kindertagesbetreuung angemessen zu beschreiben. Notwendig ist eine Betrachtung weiterer Aspekte, zum Beispiel der Personalschlüssel in den Einrichtungen, also des Verhältnisses der Anzahl an Fachkräften zur Anzahl der Kinder, oder der Frage, wie ausgeprägt sich soziale Disparitäten bereits in der frühen Kindheit zeigen.


Der Ausbau der Betreuung für unter 3-Jährige: weniger Defizite als erwartet

Im letzten Jahrzehnt war die Entwicklung der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung durch den sogenannten U3-Ausbau geprägt, der durch einen Rechtsanspruch auf ein Angebot der Kindertagesbetreuung ab August 2013 ausgelöst wurde, wie ihn Paragraph 24 im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) formuliert (siehe Infokasten). Infolgedessen hat in Deutschland inzwischen jedes Kind ab dem Alter von einem Jahr bis zur Einschulung einen rechtlich abgesicherten Anspruch auf ein Betreuungsangebot.

Um dem Bedarf an Plätzen gerecht werden zu können, wurde das U3-Angebot nach 2006 massiv ausgebaut. Als Zielgröße des Ausbaus diente dabei lange Zeit der geschätzte Bedarf von deutschlandweit rund 39 Prozent der unter 3-Jährigen. Aktuelle Elternbefragungen im Rahmen der KiföG-Berichterstattung weisen jedoch auf einen inzwischen höheren Bedarf hin: So ergab eine neuere DJI-Befragung im Frühjahr 2013 ein Nachfragepotenzial von knapp 42 Prozent (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2014).

Bis zu diesem Zeitpunkt, dem Frühjahr 2013, war in West- wie in Ostdeutschland ein erheblicher Ausbau und eine deutliche Steigerung der Inanspruchnahme der Plätze zu verzeichnen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 50ff.). Dabei waren der Versorgungsgrad und die Nachfrage in den ostdeutschen Bundesländern von Anfang an deutlich höher als in den westdeutschen, da sich in der DDR bereits lange zuvor eine Tradition der Betreuung für unter 3-Jährige etabliert hatte.

Im Unterschied dazu befand sich in Westdeutschland bis zum Jahr 2006 nur ein sehr geringer Teil der Kinder dieser Altersgruppe in Angeboten der Kindertagesbetreuung. Allerdings wurde der Ausbau auch in den westdeutschen Bundesländern seither deutlich vorangetrieben, wenngleich der ursprünglich geschätzte Platzbedarf für 37 Prozent der unter 3-Jährigen (circa 588.600 Plätze) bis zum Frühjahr 2013 nicht ganz erreicht wurde.

Die inzwischen vorliegenden aktuellen Zahlen zeigen jedoch, dass der Ausbau zwischen März 2013 und 2014 noch einmal intensiviert wurde, sodass in dieser Zeit deutschlandweit weitere 64.500 zusätzliche Plätze für unter 3-Jährige geschaffen wurden (Statistisches Bundesamt 2014). Dennoch liegt das Angebot weiterhin unter den geschätzten Bedarfswerten, auch wenn davon auszugehen ist, dass die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage nicht so groß ist, wie lange befürchtet wurde.

Dies hängt damit zusammen, dass statistisch ein Teil der Kinder, die zu Beginn eines Kindergartenjahres noch unter drei Jahre alt waren und einen U3-Platz erhielten, bis zum Zeitpunkt der Erhebung (stets im März eines Jahres) drei Jahre alt geworden sind und daher nicht mehr mitgerechnet werden. Deshalb wird die Anzahl der vorhandenen Plätze für unter 3-Jährige in der amtlichen Statistik systematisch unterschätzt.

Die damit gegenüber den amtlichen Zahlen vermutlich geringere Kluft zwischen Angebot und Nachfrage deutet sich auch dadurch an, dass zu dem nicht erfüllten Rechtsanspruch vergleichsweise wenige Verfahren an den Verwaltungsgerichten anhängig sind, die befürchtete Klagewelle also ausgeblieben ist (Wiesner/Kößler 2014). Insgesamt kann man daher davon ausgehen, dass mit Blick auf die Zahl der Plätze und des Personals der U3-Ausbau - ungeachtet der Notwendigkeit weiterer Anstrengungen - erstaunlich gut umgesetzt wurde.


Die Qualitätsfragen: weniger Verbesserung als wünschenswert

Während der quantitative Ausbau demnach besser gelungen ist als von vielen erwartet, wird bei der Qualität der Angebote, die zunehmend im Fokus steht, Handlungsbedarf deutlich. Insbesondere ein Vergleich der Personalressourcen in den Bundesländern offenbart ein unübersehbares Problem: Zwar hat sich der Personalschlüssel in den letzten Jahren in vielen Bundesländern tendenziell verbessert, dennoch zeigen sich nach wie vor erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 57ff.).

Zudem wird erkennbar: Der Personalschlüssel ist in den ostdeutschen Bundesländern weiterhin deutlich schlechter als in den westdeutschen. Somit hängt es nach wie vor vom Wohnort der Familie ab, welche Personalausstattung ein Kind in einer Tageseinrichtung vorfindet.

Die Qualität frühkindlicher Bildung und Betreuung wird dabei nicht nur durch die Anzahl der Fachkräfte, sondern auch durch ihre Qualifikation beeinflusst. Im Zuge des Ausbaus sind hinsichtlich der Berufsausbildungsabschlüsse des pädagogischen Personals bis zum Frühjahr 2013 erfreulicherweise keine flächendeckenden Dequalifizierungstendenzen erkennbar. Nicht zuletzt durch eine massive Steigerung der Ausbildungskapazitäten zur Erzieherin oder zum Erzieher konnten viele neu ausgebildete Fachkräfte für Kindertageseinrichtungen gewonnen werden. Allerdings bleibt bislang ein öffentlicher Dialog über die Besonderheiten der unterschiedlichen Qualifikationen von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen und die Konsequenzen für die Praxis aus. Dieser wäre unter anderem wegen der Einführung kindheitspädagogischer Studiengänge sowie wegen der Forderungen nach Inklusion oder nach vermehrter Sprachförderung von Kindern dringend erforderlich.

Insgesamt zeigt sich: Tendenziell sind durch den Ausbau derzeit zwar keine Verschlechterungen hinsichtlich des Personalschlüssels oder der Qualifikation des Personals zu erkennen. Von deutschlandweit vergleichbaren und fachlich begründeten Standards kann jedoch keine Rede sein.


Die sozialen Disparitäten: weniger Erfolge als erhofft

Die zunehmende Aufmerksamkeit für Fragen der Qualität von frühkindlicher Bildung und kindlicher Förderung ist auch eine Folge dessen, dass sich das System der Kindertagesbetreuung oftmals mit der Hoffnung konfrontiert sieht, durch frühkindliche Bildung bestehende soziale Ungleichheiten bereits in den ersten Lebensjahren ausgleichen zu können (siehe dazu unter anderem Aktionsrat Bildung 2013). Dies setzt allerdings nicht nur eine hohe Qualität, sondern auch eine entsprechende freiwillige Nutzung der Angebote durch Kinder voraus, die aufgrund der im Elternhaus vorhandenen bildungsbezogenen oder finanziellen Ressourcen ansonsten möglicherweise benachteiligt wären.

Die Bildungsbeteiligung im Kindergartenjahr 2012/13 - kurz vor Inkrafttreten des Rechtsanspruchs - verdeutlicht die noch immer sozial ungleiche Inanspruchnahme der Angebote für unter 3-Jährige. Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern werden deutlich seltener in Angeboten frühkindlicher Bildung betreut (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 56). Dies kann teilweise durch die lokalen Kriterien zur Vergabe der bislang oftmals nicht ausreichenden Plätze erklärt werden. Allerdings deuten die Daten darauf hin, dass sich seit dem Jahr 2009 die Differenz in der Beteiligung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund sogar leicht erhöht hat.

Die Beteiligung von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern an frühkindlicher Bildung gewinnt insbesondere vor dem Hintergrund an Bedeutung, dass diese Kinder auch innerhalb der Familie seltener gefördert werden. So lesen Eltern in bildungsfernen Familien ihren Kindern seltener vor und entscheiden sich ebenso seltener, für ihre 5-jährigen Kinder eine zusätzliche Förderung in Sportvereinen, Musikschulen oder sonstigen non-formalen Angeboten zu organisieren. Analysen auf Basis des Nationalen Bildungspanels (NEPS) machen deutlich, dass Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache sowie Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Schulabschluss im Alter von fünf Jahren geringere Wortschatz- und Grammatikkompetenzen im Deutschen und häufiger einen Sprachförderbedarf aufweisen (ebd., S. 60f.).

Nicht erst im Schulalter, sondern bereits in der frühen Kindheit weisen Kinder unterschiedlich entwickelte Kompetenzen auf, die in Abhängigkeit zu ihrer sozialen Herkunft stehen. Berechnungen bestätigen, dass es eine Gruppe von Kindern gibt, die innerhalb der Familie stark gefördert wird, gleichzeitig frühzeitig eine öffentliche Kindertagesbetreuung besucht sowie weitere Bildungsangebote nutzt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 49). Zugleich gibt es aber auch Kinder, die wenig Förderung in der Familie erhalten, keine öffentlichen Kindertageseinrichtungen nutzen und letztlich auch keine anderen Bildungsangebote in Anspruch nehmen. Wenn beim Aufwachsen eine - oder sogar alle drei - dieser Förderungsmöglichkeiten unterbleibt, liegt es nahe, dass sich soziale Ungleichheiten in der frühen Kindheit verfestigen und verstärken können.

Während der U3-Ausbau in den letzten Jahren also eine große quantitative Dynamik entwickelte, sind die Veränderungstendenzen beim Thema der ungleichen Bildungschancen bislang deutlich geringer; vereinzelt sind sogar Verschlechterungen erkennbar. Zwar hat beispielsweise die Sprachförderung, insbesondere von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache, in den letzten Jahren einen hohen Stellenwert erlangt. Doch die Förderung des frühzeitigen und gleichberechtigten Zugangs von Kindern mit Migrationshintergrund oder Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern zu Angeboten der Kindertagesbetreuung bleibt neben der qualitativen Ausgestaltung der Angebote eine wichtige Herausforderung. Insbesondere vor dem Hintergrund des Rechtsanspruchs und der heute formal gleichen Zugangsvoraussetzungen für ein- und zweijährige Kinder müssten Ursachen ungleicher Bildungsbeteiligung stärker ins Blickfeld gerückt werden, um elementare Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die frühkindliche Bildung die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen kann.


INFOKASTEN
 
Paragraph 24 SGB VIII

Der Paragraph 24 SGB VIII definiert den Rechtsanspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege. Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, haben bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in öffentlicher Kinderbetreuung. Daneben sind Kinder, die das erste Lebensjahr noch nicht vollendet haben, in einer Einrichtung oder Tagespflege zu fördern, wenn "diese Leistung für ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit geboten ist" oder die Erziehungsberechtigten einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder suchen, sich in Ausbildung oder Bildungsmaßnahmen befinden oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit erhalten.

DIE AUTORINNEN, DER AUTOR

Prof. Dr. Thomas Rauschenbach ist Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und Professor für Sozialpädagogik an der TU Dortmund. Er ist Mitglied der Autorengruppe Bildungsberichterstattung.
Kontakt: rauschenbach@dji.de

Mariana Grgic, Dipl.-Soziologin, ist wissenschaftliche Referentin in der Abteilung "Kinder und Kinderbetreuung" am DJI und arbeitet seit dem Jahr 2009 im Projekt "Nationale Bildungsberichterstattung" mit.
Kontakt: grgic@dji.de

Josefin Lotte, Dipl.-Rehabilitationspädagogin, war wissenschaftliche Referentin im Projekt "Nationale Bildungsberichterstattung" am DJI. Derzeit ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung in der Forschungsstelle Elementar- und Primarpädagogik tätig.
Kontakt: Josefin.Lotte@nifbe.de


LITERATUR

AKTIONSRAT BILDUNG (2013): Professionalisierung in der Frühpädagogik. Qualifikationsniveau und -bedingungen des Personals in Kindertagesstätten. Münster

AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG (2014): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen. Bielefeld

BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND (BMFSFJ; 2014): Hohes Tempo beim Kita-Ausbau für unter Dreijährige. Pressemeldung vom 16.07.2014. Im Internet verfügbar unter:
www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Presse/pressemitteilungen,did=208416.html
(Zugriff: 07.08.2014)

STATISTISCHES BUNDESAMT (2014): Zahl der Kinder unter 3 Jahren in Kindertagesbetreuung auf 662.000 gestiegen. Pressemitteilung Nr. 253 vom 16.07.2014. Im Internet verfügbar unter:
www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/07/PD14_253_225.html (Zugriff: 21.07.2014)

WIESNER, REINHARD/KÖßLER, MELANIE (2014): Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zur Durchsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für unter 3-Jährige. Expertise im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts. München


DJI Impulse 3/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

Dort finden Sie auch im Schattenblick nicht veröffentlichte Tabellen und Graphiken der Printausgabe unter
http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bulletin/d_bull_d/bull107_d/DJI_3_14_WEB.pdf

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014
- Nr. 107, S. 7-10
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
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Die Hefte können kostenlos bestellt und auf Wunsch auch abonniert
werden unter vontz@dji.de.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. November 2014