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SCHULE/247: Lernbegleiter statt sokratischer Gesprächspartner (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 3/2008

PORTRÄT
Lernbegleiter statt sokratischer Gesprächspartner

Gespräch mit Prof. Dr. Manfred Prenzel, Direktor am Institut für die
Pädagogik der Naturwissenschaten an der Universität Kiel


FRAGE: Sie haben die PISA-Erhebungen 2003 und 2006 in Deutschland koordiniert und ausgewertet; was hat sich seitdem an deutschen Schulen verändert?

PROF. DR. MANFRED PRENZEL: Die erste PISA-Runde im Jahr 2000 hatte einige Schwachstellen des deutschen Bildungssystems aufgedeckt, von dem fast alle glaubten, es sei gerecht und leistungsfähig. Danach ist einiges passiert: Ganztagsschulprogramme sind entstanden, nationale Bildungsstandards wurden verabschiedet, Bildung ist wieder ein zentrales Thema in Deutschland. In den letzten PISA-Erhebungen konnten wir bereits über einige Verbesserungen in den Leistungen berichten.

FRAGE: Wie verträgt sich die Forderung nach qualitativ hochwertigem Unterricht mit der Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre (G8)?

PROF. DR. MANFRED PRENZEL: Internationale Vergleiche zeigen, dass Schülerinnen und Schüler gleichen Lebensalters in anderen Ländern mehr können als in Deutschland. Wir leisten uns auch den Luxus häufiger Klassenwiederholungen. Die G8-Frage ist in erster Linie eine curriculare Frage: Was muss man gründlich beherrschen und richtig verstanden haben, was ist Detailwissen, das man sich jederzeit aneignen kann? Fokussieren statt Stofffülle - so lautet die Chance von G8. Schulzeitverkürzung heißt nicht, Ärmel und Beine des Anzugs zu kürzen, sondern ihn neu zu schneidern.

FRAGE: Wie sollte sich der Unterricht ändern?

PROF. DR. MANFRED PRENZEL: Unsere Erwartungen an die schulische Bildung sind oft überhöht. Wir übersehen, was die Schülerinnen und Schüler tatsächlich können. Deutlich wird das an dem bei uns üblichen Unterrichtsgespräch, das sich von der Idee des sokratischen Dialogs ableitet: Die Lehrkraft versteht sich als Gesprächspartner, der den Schülern durch geleitete Fragen hilft, Wissen aufzubauen - in der Realität finden wir aber meist ein mühseliges und kleinschrittiges Frage-Antwortspiel vor. Ein wirklicher Dialog kommt nicht zustande. Unter anderem schwebt über dem Gespräch die mündliche Benotung, die es Schülerinnen und Schülern schwer macht, ihre tatsächlichen Ideen zu äußern.

FRAGE: Die Lehrkräfte können eine mündliche Benotung nicht ausblenden, selbst wenn sie es wollten.

PROF. DR. MANFRED PRENZEL: Bildungsforscher fordern schon lange, Lernund Leistungsphasen zu trennen. Das geht durchaus, wie einige Schulen hierzulande und viele Schulen im Ausland, zeigen. Dort nehmen sich die Lehrkräfte zurück, stellen offene Fragen, lassen die Schüler selbst Fehler und Missverständnisse entdecken. Dadurch entsteht ein Dialog auf Augenhöhe. Das erworbene Wissen wird später oft mittels externer Tests geprüft. Dadurch verstehen sich die Lehrkräfte als Lernbegleiter, die ihre Schülerinnen und Schüler darin unterstützen, die Anforderungen zu meistern.

FRAGE: Wie beurteilen Sie die Schulformen in Deutschland?

PROF. DR. MANFRED PRENZEL: Wir stellen fest, dass in den Grund- und Hauptschulen die größte Methodenvielfalt herrscht, in den Realschulen und Gymnasien hingegen nach wie vor meist lehrerzentriert unterrichtet wird. Besonders in den Gymnasien beginnt man erst, sich auf unterschiedliche Leistungsniveaus einzustellen. Die Lehrkräfte brauchen neue Konzepte, etwa neben dem Klassengespräch vermehrt das Lernen in Gruppen mit unterschiedlichen Aufgaben. Im Hinblick auf die demographischen Veränderungen werden solche Konzepte besonders dringlich: Künftig müssen die Gymnasien mehr Schülerinnen und Schüler erfolgreich zum Abitur bringen. In allen Schularten sollten wir uns mehr um eine Professionalisierung der Lehrkräfte bemühen, und zwar mit Unterstützung von außen. Generell gilt es, die verschiedenen Bildungseinrichtungen und ihre Curricula - vom Kindergarten über die Grundschule und weiterführende Schulen bis zum Studium und zur Berufsausbildung - besser abzustimmen, um die Übergänge zu erleichtern und die Durchlässigkeit "nach oben" zu erhöhen.

FRAGE: Wie sehen Sie den unterschiedlichen Schulerfolg von Jungen und Mädchen? Sollten beide Geschlechter - etwa in den Naturwissenschaften - getrennt unterrichtet werden?

PROF. DR. MANFRED PRENZEL: Die Mädchenförderung an den Schulen ist, betrachtet man die letzten fünfzig Jahre, eine absolute Erfolgsgeschichte. Heute haben die Mädchen bessere Noten und Abschlüsse und liegen bei der Lesekompetenz weit vor den Jungen. Trotzdem wählen sie seltener Studiengänge oder Berufe im naturwissenschaftlichen Bereich. Das liegt oft daran, dass sich die Mädchen weniger zutrauen, als sie wirklich können. Sie haben ein anderes Selbstbild. Die berichteten Erfolge reiner Mädchenklassen in der Förderung naturwissenschaftlicher Kompetenzen lassen sich meist auf die soziale Zusammensetzung privater Schulen für Mädchen zurückführen. Ich sehe es als besondere pädagogische Herausforderung, einerseits beide Geschlechter gemeinsam zu unterrichten und den Jungen zu helfen, sich bei Experimenten nicht als Besserwisser und "Macher" aufzuspielen. Andererseits müssen wir heute die Rückstände der Jungen ernst nehmen und zum Beispiel bei der Leseförderung verstärkt Lektüre anbieten, die Jungen interessiert und motiviert.

Die Fragen stellte Dr. Isabell Lisberg-Haag


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 3/2008, Seite 20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2008