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SCHULE/362: Mehr als Lernen (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2012 - Nr. 99

Mehr als Lernen

• Schulen kooperieren mit außerschulischen Partnern, um Ganztagsangebote zu realisieren.
• Wie verändert sich dadurch das Miteinander in der Schule?

von Christine Steiner und Bettina Arnoldt



In den vergangenen Jahren wurden in Deutschland weitreichende Bildungsreformen angestoßen, von denen viele einem erweiterten Bildungsverständnis folgen. Ziel ist nicht allein die Verbesserung der Schulleistungen von Kindern und Jugendlichen, sondern auch die Förderung weiterer Fähigkeiten, zum Beispiel von sozialen und emotionalen Kompetenzen (Bertelsmann 2012). Die Ganztagsschule steht exemplarisch für diese Reformprogrammatik. Sie ist nicht einfach eine Verlängerung der herkömmlichen Halbtagsschule, sondern integriert Bildungs- und Freizeitaktivitäten in den Schulalltag, die bislang eher außerhalb der Schule angesiedelt waren.

Weitgehend Einigkeit besteht in der Fachöffentlichkeit darüber, dass Ganztagsschulen ein solches erweitertes Programm nur umsetzen können, wenn sie mit außerschulischen Akteuren, zum Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe, zusammenarbeiten (Speck u.a. 2011). In diesem Zusammenhang wird besonders auf die Notwendigkeit einer Öffnung der Schule zum Sozialraum und zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler hingewiesen. Das Konzept der Öffnung der Schule hatte im Zuge der bildungspolitischen Diskussion über mehr schulische Eigenverantwortung und Profilbildung bereits vor dem Ausbau ganztägiger Angebote an Bedeutung gewonnen. Es ist sowohl in den Schulgesetzen (Kersten 2008) als auch in den Ganztagsschulprogrammen (Kaul 2006) der meisten Bundesländer verankert.

Zugleich gehört das Prinzip der Öffnung zur Lebenswelt seit geraumer Zeit sowohl in der sozialen als auch in der reformpädagogisch orientierten Arbeit zum Wissensrepertoire verschiedener pädagogischer Professionen. Bei aller Vielschichtigkeit, die sich zwischenzeitlich um den Begriff rankt, geht die Kernidee weit über eine pragmatische Kooperation (zum Beispiel die Unterstützung bei einem Schulfest) hinaus: Hier zielt die Öffnung von Schule auf eine grundlegende Veränderung der schulischen Lernformen und Sozialbeziehungen zwischen allen schulischen Akteuren (u.a. Baacke 1993; Rother 2005). Es geht um die Veränderungen des jeweiligen (professionellen) Rollenverständnisses, um mehr Beteiligungsmöglichkeiten insbesondere für die Schülerinnen und Schüler und die Gestaltung eines lebens- und lernförderlichen Schulklimas. Das Prinzip der lebensweltlichen Öffnung steht dafür, dass das Mehr an Zeit in der Schule in der Perspektive von Kindern und Jugendlichen nicht einfach nur mehr Schule und Unterricht ist.


Multiprofessionelle Kooperation

Ganztagsschulen hatten in den vergangenen Jahren ihren Weg im Spannungsfeld von schlichter Kooperationsnotwendigkeit und ambitionierter Reformidee zu finden. Die bisherigen Befunde zu den Kooperationsbeziehungen an Ganztagsschulen zeigen zweierlei: Erstens verwirklicht kaum eine Schule den Ganztagsbetrieb ohne außerschulische Partner. Zudem existiert an den Ganztagsschulen inzwischen ein Personalmix aus Mitarbeitenden mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen, Arbeitsweisen und Aufgaben (im Überblick Züchner/Fischer 2011). Eine Befürchtung, die vor allem zu Beginn des Ausbaus der Ganztagsschulen bestand, konnte entkräftet werden: Es gibt kaum Kooperationsprobleme zwischen Lehrkräften und weiterem pädagogisch tätigen Personal, die auf mangelnde wechselseitige Anerkennung oder ein unterschiedliches berufliches Handeln zurückzuführen wären. Vielmehr kommt eine Reihe von Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die Angebote der außerschulischen Partnerinnen und Partner als Bereicherung erlebt werden und ihre Anwesenheit von Lehrkräften als Entlastung wahrgenommen wird (im Überblick Speck u.a. 2011).

Zweitens zeichnen sich deutliche Probleme im Hinblick auf die Arbeitsbelastung des weiteren pädagogisch tätigen Personals ab. Ursache dafür sind ihre unterschiedlichen und zum Teil sehr unsicheren Arbeitsverhältnisse. Diese führen zu Zeitdruck, Zuständigkeitsproblemen und mangelnden Möglichkeiten, konzeptionell arbeiten zu können. Das sind typische Momente einer flexibilisierten Arbeitswelt, die immer stärker auf netzwerkförmige Koordination setzt, die an den meisten Schulen bislang wenig Eingang gefunden hatte. In der Folge bleiben der Unterricht und die Ganztagsangebote oft nicht aufeinander abgestimmt, die Lernbereiche inhaltlich und personell getrennt (im Überblick Speck u.a. 2011). Ein klarer Befund der Ganztagsschulforschung ist ein deutlicher Bedarf an Steuerung des Ganztages durch die Schulleitungen (Speck 2010). Mit diesem Bedarf an Ganztagsmanagement zeichnet sich eine mögliche Rollen-Re-Definition ab, die momentan aber eher eine Forderung denn gelebte Praxis ist.

Bisher erfolgt die Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften in erster Linie auf der Basis des jeweiligen professionellen Selbstverständnisses, schärft dieses vielleicht sogar, weil man sich der Standards der eigenen Profession bewusst wird. Die angestrebte Erweiterung des pädagogisch-erzieherischen Handlungsrepertoires ist bisher allenfalls in Ansätzen zu verzeichnen. Das ist angesichts der dargestellten Rahmenbedingungen, vor allem aber der vielen Vorbehalte gegen eine solche Zusammenarbeit, nicht wenig, aber noch keine substanzielle Veränderung im Rollenverständnis der beteiligten Professionen. Ganztagsschulen schöpfen damit das Potenzial kooperativer pädagogischer Arbeitsformen nur bedingt aus und damit auch die Möglichkeiten, die Kompetenzentwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler besser zu unterstützen.


Neue Schule, neue Schüler?

Die Kooperation zwischen Schulen und außerschulischen Partnern ist kein Selbstzweck. Es geht darum, Kindern und Jugendlichen ein abwechslungsreiches und an ihren Interessen ausgerichtetes Schulleben zu ermöglichen, das sie in ihrer sozialen und kognitiven Entwicklung unterstützt. Dass Ganztagsschulen die individuelle Entwicklung der Schülerinnen und Schüler fördern, belegen die Befunde der »Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen« (StEG). Sie zeigen, dass die Teilnahme an Ganztagsangeboten positiv auf das Sozialverhalten wirkt und unter bestimmten Bedingungen (etwa bei einer hohen Qualität der Angebote) die Schulleistungen verbessern kann.

Zum Konzept der lebensweltlichen Öffnung gehört aber auch die Veränderung des Rollenverständnisses, und dies bedeutet in Bezug auf Kinder und Jugendliche das Einbeziehen ihrer außerschulischen Interessen und Bedürfnisse und die Möglichkeit, ihnen eigenverantwortlich - auch im Rahmen der Ganztagsschule - nachgehen zu können. In diesem Sinn geht es um die Möglichkeiten zur Partizipation der Heranwachsenden.

Generell gilt die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Schulen als eher schwach ausgeprägt. Dies trifft auch auf die Ganztagsschule zu (Bertelsmann 2012). Zudem sind die Mitwirkungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler unterschiedlich stark ausgeprägt: Älteren Kindern werden weitreichendere eingeräumt als jüngeren. Die Mitwirkung der Schülerinnen und Schüler ist auch an Ganztagsschulen vor allem auf den außerunterrichtlichen Bereich bezogen, während die Mitwirkungsmöglichkeiten im Unterricht vergleichsweise gering sind (Arnoldt/Steiner 2010). Trotzdem werden auch im außerunterrichtlichen Bereich keine neuen Formen der Partizipation ausprobiert. Studien belegen, dass auch hier Kinder und Jugendliche in erster Linie konsultiert, aber kaum aktiv in die Angebotsgestaltung einbezogen werden. Das betrifft sowohl die Frage, was angeboten wird, als auch die Art und Weise, wie die Angebote pädagogisch gestaltet werden (Bertelsmann 2012).

Dabei liefern die Einschätzungen und Beurteilungen der Schülerinnen und Schüler nützliche Hinweise, wie das Verhältnis von Lernenden und Lehrenden an Schulen neu gestaltet werden kann. Insgesamt finden Ganztagsangebote unter den Kindern und Jugendlichen eine positive Resonanz. Allerdings bewerten ältere Schülerinnen und Schüler die Angebote oft kritischer (dazu auch StEG-Konsortium 2010). Beispielsweise empfinden sie die Angebote häufig als nicht altersangemessen (Arnoldt/Stecher 2007).

An vielen Schulen ist die Teilnahme an Ganztagsangeboten freiwillig. Wenn Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden können, wählen sie andere Kurse, als wenn sie die Entscheidung gemeinsam mit Eltern und/oder Lehrkräften treffen: Reden Erwachsene mit, belegen sie mehr lernunterstützende Angebote. Entscheiden Kinder und Jugendliche alleine, nehmen sie eher an Arbeitsgemeinschaften und fächerübergreifenden Kursen teil. Die zusätzlichen Angebote der Ganztagsschule werden von ihnen vor allem als Möglichkeit der Freizeitgestaltung wahrgenommen. Das ist durchaus legitim, steht aber in einem Spannungsverhältnis zur angestrebten Verbindung zwischen ganztägigem Angebot und Unterricht.


Hohe Qualität der Ganztagsangebote ist wichtig

Die Teilnahme an Ganztagsangeboten allein hat keinen Einfluss auf das schulische Wohlbefinden und die Freude am Lernen. Positiv wirkt sich eine Teilnahme nur dann aus, wenn das Angebot eine hohe Qualität aufweist und die Kinder und Jugendlichen eine gute Beziehung zu ihren Betreuerinnen und Betreuern haben (Fischer u.a. 2011). In beiden Fällen ist Partizipation ein entscheidendes Moment.

Mit dem Ausbau der Ganztagsschule verband sich die Befürchtung, dass Kindern und Jugendlichen zu wenig Zeit für außerschulisches Engagement, für Freunde und Familie bleibt. Dies hat sich nicht bewahrheitet. Generell lässt sich festhalten, dass der Besuch von Ganztagsangeboten weder die Inanspruchnahme von außerschulischen Freizeit- und Bildungsangeboten nachhaltig beeinflusst noch das Familienleben stark beeinträchtigt. Im Hinblick auf Erstgenanntes ist der vorherrschende Eindruck, dass sich Engagementformen und Sozialbeziehungen durch den Ganztagsbesuch der Kinder und Jugendlichen kaum verändert haben (Züchner/Arnoldt 2011). Aus der Sicht der Eltern gab es sogar positive Veränderungen: Zum Beispiel fühlen sie sich bei der elterlichen Hausaufgabenunterstützung entlastet und bei erzieherischen Problemen unterstützt (Züchner 2011).

Ganztagsschulen sind in den vergangenen Jahren zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Gemessen an den vielen und vielfältigen Erwartungen und den oft schwierigen Rahmenbedingungen ist ihre Bilanz beeindruckend. Zu einer weitreichenden Neuformierung der schulischen Sozialbeziehungen im Sinn des Konzeptes der lebensweltlichen Öffnung der Schule ist es bisher allenfalls in Ansätzen gekommen. Für Jugendliche heißt das: Trotz des Einbeziehens von außerschulischen Partnern und freizeitpädagogischen Angeboten bleibt die Ganztagsschule ein Ort, an dem noch zu wenig Platz für die Mit- und Selbstbestimmung von Schülerinnen und Schülern ist.


DIE AUTORINNEN
Dr. Christine Steiner und Bettina Arnoldt sind Mitarbeiterinnen im Projekt »Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen« (StEG) am Deutschen Jugendinstitut.
Kontakt: steiner@dji.de, arnoldt@dji.de

IM INTERNET
www.projekt-steg.de

LITERATUR
ARNOLDT, BETTINA / STECHER, LUDWIG (2007): Ganztagsschule aus der Sicht von Schülerinnen und Schülern. Entwicklung von Ganztagsschulen, 3. Folge. In: Pädagogik, Heft 3, S. 42-45

ARNOLDT, BETTINA / STEINER, CHRISTINE (2010): Partizipation an Ganztagsschulen. In: Betz, Tanja / Gaiser, Wolfgang / Pluto, Liane (Hrsg.): Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Forschungsergebnisse, Bewertungen, Handlungsmöglichkeiten. Schwalbach am Taunus, S. 155-177

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.; 2012): Ganztagsschule als Hoffnungsträger für die Zukunft? Ein Reformprojekt auf dem Prüfstand. Bielefeld

Baake, Dieter (1993): Sozialökologische Ansätze in der Jugendforschung. In: Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.): Handbuch der Jugendforschung. Opladen, S. 134-158.

Fischer, Natalie / Brümmer, Felix / Kuhn, Hans Peter (2011): Entwicklung von Wohlbefinden und motivationalen Orientierungen in der Ganztagschule. In: Fischer, Natalie / Holtappels, Heinz-Günter / Klieme, Eckhard / Rauschenbach, Thomas / Stecher, Ludwig / Züchner, Ivo (Hrsg.): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Weinheim, S. 227-245

Kaul, Stephanie (2006): Kriterien guter Kooperation von Schule und außerschulischen Mitarbeitern an der Ganztagsschule. Expertise im Kontext des BLK-Verbundprojektes »Lernen für den Ganztag«. Saulheim Im Internet verfügbar unter
www.ganztag-blk.de/cms/upload/pdf/rlp/Kaul_ Kooperation.pdf
(Zugriff: 14.06.2012)

Kersten, Jens (2008): Die Öffnung der Schulen zur Stadt. Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB), Heft 1, S. 84-94

Rother, Ulrich (2005): Öffnung von Schule. In: ABC der Ganztagsschule. Ein Handbuch für Ein- und Umsteiger. Schwalbach am Taunus, S. 146-147 Speck, Karsten (2010): Qualifikation, Professionalität und pädagogische Eignung des Personals an Ganztagsschulen. Der pädagogische Blick , Heft 1, S. 13-21

Speck, Karsten / Olk, Thomas / Böhm-Kasper, Oliver / Stolz, Heinz-Jürgen / Wiezorek, Christine (2011): Multiprofessionelle Teams und sozialräumliche Vernetzung? Befunde zur Ganztagsschulentwicklung. In: dies. (Hrsg.): Ganztagsschulische Kooperation und Professionsentwicklung. Studien zu multiprofessionellen Teams und sozialräumlicher Vernetzung. Weinheim, S. 7-28

StEG-KONSORTIUM (2010): Ganztagsschule: Entwicklung und Wirkung. Ergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen 2005-2010. Frankfurt am Main

Züchner, Ivo / Arnoldt, Bettina (2011): Schulische und außerschulische Freizeit- und Bildungsaktivitäten. Teilhabe und Wechselwirkungen. In: Fischer, Natalie / Holtappels, Heinz-Günter / Klieme, Eckhard / Rauschenbach, Thomas / Stecher, Ludwig / Züchner, Ivo (Hrsg.): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Weinheim, S. 267-290

Züchner, Ivo / Fischer, Natalie (2011): Ganztagsschulentwicklung und Ganztagsschulforschung. In: Fischer, Natalie / Holtappels, Heinz-Günter / Klieme, Eckhard / Rauschenbach, Thomas / Stecher, Ludwig / Züchner, Ivo (Hrsg.): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Weinheim, S. 9-29

Züchner, Ivo (2011): Ganztagsschulen und Familienleben. In: Fischer, Natalie / Holtappels, Heinz-Günter / Klieme, Eckhard / Rauschenbach, Thomas / Stecher, Ludwig / Züchner, Ivo (Hrsg.): Ganztagsschule: Entwicklung, Qualität, Wirkungen. Weinheim, S. 290-310

DJI Impulse 3/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2012 - Nr. 99, S. 22-25
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Telefon: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
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DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2013