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BERICHT/085: Die Lust des Älterwerdens (Gehirn&Geist)


GEHIRN&GEIST 9/2011
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Emotionsforschung
Die Lust des Älterwerdens

Von Christian Wolf


Ohne dass wir es recht bemerken, verschieben sich im Lauf des Lebens die Einzelposten in unserem Gefühlshaushalt: Negative Empfindungen wie Wut oder Angst treten laut Psychologen im späteren Erwachsenenalter seltener auf - und das allgemeine Wohlbefinden steigt. Doch woran liegt das?


AUF EINEN BLICK

Die Gnade der späten Jahre

1. Forscher beobachten oft einen Anstieg des Wohlbefindens bei Menschen im höheren Erwachsenenalter.

2. Trotz sinkender körperlicher und geistiger Kapazität bleibt die emotionale Grundstimmung auch jenseits der 50 bei den meisten Menschen stabil.

3. Drei Erklärungsansätze halten Psychologen für denkbar: Ältere haben im Schnitt weniger Stress, sind physiologisch nicht so leicht erregbar und können ihre Emotionen besser kontrollieren.


Peter Hummel wundert sich über sich selbst. Der 53-Jährige grüßt den Mechaniker, dem er seinen Wagen zum dritten Mal innerhalb von 14 Tagen zur Reparatur bringt, augenzwinkernd: »Vielleicht bekommen Sie die seltsamen Motorgeräusche ja diesmal weg?« Früher hätte er sich maßlos geärgert über das Versagen der Werkstatt. Doch heute denkt sich Herr Hummel: Was soll's - sich aufregen bringt eh nichts! Und so steht er freundlich, aber hartnäckig beim Mechaniker auf der Matte.

Ärger und Frust über Versagen, die Trauer über den Verlust eines Angehörigen, das unverhoffte Glück des Verliebtseins - unser Leben ist voller Gefühle. Welche Stimmungen im Empfinden eines Menschen dabei dominieren, unterliegt vielen Einflüssen: Seine Persönlichkeit und die Umstände, in denen er lebt, wirken sich ebenso darauf aus wie körperliche Faktoren. Laut Forschern verändert sich deren Zusammenspiel mit dem Alter auf bemerkenswerte Weise. Das Leben hinterlässt offenbar viel tiefere Spuren in unserem Gefühlshaushalt, als wir gemeinhin annehmen.

Lange Zeit glaubten Entwicklungspsychologen, die Stimmungskurve verlaufe über verschiedene Altersphasen hinweg weit gehend parallel zur körperlichen Entwicklung: Den Gipfel der Zufriedenheit erreiche man demnach als junger Erwachsener; von da an gehe es fitness- wie auch gefühlsmäßig bergab. Doch wie eine Reihe von Untersuchungen zeigen, bleibt das emotionale Wohlbefinden meist überraschend stabil - ja, es wächst oft sogar an. 2010 nahmen Forscher um den Psychologen Arthur Stone von der Stony Brook University im US-Bundesstaat New York das Gefühlsleben der Amerikaner genauer unter die Lupe. In einer groß angelegten Telefonbefragung hatte das Beratungsunternehmen Gallup, das unter an derem sozioökonomische Studien durchführt, mehr als 340.000 US-Bürger zwischen 18 und 85 Jahren darüber Auskunft geben lassen, ob und für wie lange sie jeweils am Vortag traurig gewesen waren, sich gestresst gefühlt oder Grund zum Lachen gehabt hatten.

Wie die Auswertung ergab, nahmen vor allem Sorgen und Wut mit wachsendem Lebensalter deutlich ab (siehe Grafik S. 17). Alltagsnöte plagten demnach in besonders hohem Maß Menschen im mittleren Erwachsenenalter bis etwa Anfang 50, von da an gingen sie mehr und mehr zurück. Auch die von Fröhlichkeit und Glück geprägten Tage nahmen zwar im Lauf der Jahre zunächst ab; der Tiefpunkt war jedoch im Schnitt um das 50. Lebensjahr herum erreicht, von da an zeigte die Stimmungskurve wieder nach oben. Einzig Momente der Traurigkeit blieben laut den Befragungen relativ konstant.


Vergleichsweise tückisch

Solche Daten aus Querschnittstudien (siehe »Kurz erklärt« S. 17) haben jedoch ihre Tücken, weil der Vergleich von Altersgruppen anfällig für Verzerrungen ist: Angehörige verschiedener Generationen machten in ihrem Leben oft sehr unterschiedliche Erfahrungen. So haben sich Kriegskinder womöglich ein dickeres Fell zugelegt als Wohlstandssprösslinge, oder Ältere gehen auf Grund ihrer strengeren Erziehung anders mit Gefühlen um. Zu ähnlichen Resultaten wie Stone war allerdings 2001 auch ein Team um die Psychologin Susan Charles von der University of California in Irvine gelangt - nach Auswertung von Daten einer mehrere Jahrzehnte dauernden Langzeiterhebung. Probanden aus vier verschiedenen Generationen hatten teils seit 1971 an einer Reihe von Befragungen teilgenommen; die jüngsten waren zu Beginn der Untersuchung 15 Jahre alt gewesen, die ältesten 90.

Alle Teilnehmer wurden in regelmäßigen Abständen etwa zu ihrem Befinden und dominanten Gefühlslagen in der jeweils vorangegangenen Woche interviewt. Hatten die Betreffenden sich einsam oder unglücklich gefühlt? Hatte etwas ihre besondere Neugier geweckt? Hatten sie gelacht oder sich an lustvollen Beschäftigungen erfreut? Parallel erhoben die Forscher eine Reihe von Umweltfaktoren sowie Persönlichkeitsmaße der Betreffenden.

Abermals zeigte sich, dass Unruhe, Angst und Wutzustände mit der Zeit insgesamt eher abnahmen. Am häufigsten plagten sich Teenager mit Trübsal oder Wutattacken, bei den 80-Jährigen waren diese Emotionen dagegen kaum zu verzeichnen. Positive Stimmungen hielten sich über die Lebensspanne hinweg insgesamt auf relativ gleichmäßigem Niveau. Doch betrachten wir die typischen Entwicklungstendenzen je nach Altersgruppe einmal genauer.


Die Jugend - eine »Achterbahn der Gefühle«

Die Launenhaftigkeit und das Gefühlschaos von Heranwachsenden sind sprichwörtlich. Wie empirische Untersuchungen bestätigen, tritt negatives Befinden, das von Ängsten, Selbstzweifeln und Orientierungslosigkeit geprägt ist, hier grundsätzlich öfter auf als im späteren Leben. Vor allem beim Übergang von der Kindheit zur Jugend, also etwa um das 12. bis 15. Lebensjahr, nehmen negative Emotionen deutlich zu, wie der Psychologe Reed Larson von der University of Illinois at Urbana-Champaign bewies. Die Heranwachsenden verspüren im Alltag nicht nur häufiger konkrete Sorgen, sind enttäuscht von oder wütend auf andere, seien es die Eltern, Mitschüler oder Politiker - die Kids leiden vor allem unter häufig rasanten Stimmungsumschwüngen. So berichten die Jugendlichen in Larsons Untersuchung über weit mehr und unterschiedlichere Gefühle im Lauf eines Tages als Erwachsene.

Warum gerät die Gefühlswelt der Teens so leicht aus den Fugen? Einen möglichen Grund fand 2009 eine Arbeitsgruppe um Michaela R iediger vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin: Demnach streben unter 18-Jährige öfter danach, ihre Emotionen »auszuleben« - selbst wenn es sich um an sich unerwünschte Zustände handelt. Ältere hingegen seien stärker daran interessiert, die schönen Momente im Leben voll auszukosten.

Die Wissenschaftler hatten mehr als 370 Freiwillige im Alter von 14 bis 86 Jahren für drei Wochen mit speziellen Mobiltelefonen ausgestattet, die die Teilnehmer stets bei sich trugen. Rund 50-mal im Untersuchungszeitraum wurden sie kontaktiert, um über ihre aktuelle Stimmungslage Auskunft zu geben: Auf einer Skala von null bis sechs galt es einzuschätzen, wie fröhlich, interessiert, wütend, nervös oder niedergeschlagen man sich just in diesem Moment fühlte. Zudem sollten die Befragten angeben, ob und auf welche Weise sie ihr Befinden verändern wollten.

Erneut zeigte sich: Mit zunehmendem Alter fühlten sich die Teilnehmer insgesamt wohler in ihrer Haut. Offenbar bestimmte die jeweilige Art, die eigenen Emotionen zu steuern, mit darüber, wohin das Stimmungspendel schwang. Heranwachsende, so Riediger, würden den allgemeinen Appell zur Steigerung des Wohlempfindens häufig boykottieren; dies stelle einen wichtigen Bestandteil ihres Unabhängigkeitsstrebens dar. Ähnlich wie das Testen von Grenzen durch riskantes Verhalten hätten auch die emotionalen Alleingänge den Zweck, dass sich die Jugendlichen vom Elternhaus lösen und ihre Identität finden. Vermutlich spielen hierbei die hormonelle Umstellung im Zuge der Pubertät sowie neuronale Umbauprozesse eine Rolle (siehe auch G&G 5/2006, S. 44). Emotionale Instabilität ist nicht umsonst ein dominierendes Kennzeichen dieses Alters. Nach den wilden Jahren der Jugend beginnt mit der Volljährigkeit für die meisten ein grundlegend neuer Lebensabschnitt. Man beginnt eine Berufsausbildung oder ein Studium, zieht von zu Hause aus, nicht selten sogar in eine fremde Stadt, man lernt neue Menschen kennen, macht erste Gehversuche im Job oder gründet eine Familie. Die Zeit bis etwa Anfang 40 ist somit davon geprägt, immer mehr persönliche Verantwortung zu übernehmen und einen festen Platz im Leben zu finden. Kein Wunder, dass sich hier im Schnitt häufiger Sorgen und Stress bemerkbar machen.

Doch auch dabei spielt der Umgang mit Gefühlen eine wichtige Rolle. So wirkt sich bei jungen Erwachsenen häufig nachteilig aus, wie sie in emotional aufwühlenden Situationen reagieren: Sie lassen sich von ihnen eher zu zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen hinreißen als Ältere - empfinden solche Konflikte jedoch gleichzeitig als belastender. Der Hang zur Konfrontation und eine geringere Toleranz gegenüber Kritik an der eigenen Person sind hier kennzeichnend.

Susan Charles und ihre Kollegin Laura Carstensen von der Stanford University in Kalifornien gingen dem in einer Untersuchung von 2008 auf den Grund. Junge Erwachsene im Alter von 18 bis 40 Jahren sowie ältere Menschen zwischen 63 und 86 hörten sich drei verschiedene Gespräche auf einem Tonband an. Zuvor sollten sich die Teilnehmer gedanklich jeweils in eine bestimmte Situation versetzen, in der sie das betreffende Gespräch mit anhören würden: In einer dieser fiktiven Szenen ging es zum Beispiel um zwei Angehörige, die darüber lästerten, wie langweilig und schlecht angezogen der betreffende Zuhörer sei. Die Aufnahmen wurden mehrmals kurz unterbrochen - in diesen Pausen sollten die Probanden angeben, wie empört sie waren. Anschließend durften sie zudem ihrem Ärger Luft machen und laut aussprechen, was ihnen durch den Kopf ging.

Siehe da: Die jungen Erwachsenen steigerten sich oft regelrecht in das Szenario hinein. Sie konzentrierten sich stärker als die Älteren auf den Inhalt der herablassenden Kommentare und äußerten offen ihren Unmut darüber. »Was fällt denen ein, so über mich zu sprechen!« Auch interessierten sie sich viel mehr für die Gründe der wenig schmeichelhaften Kommentare.


»Sozioemotionale Selektivität«

Diese Beobachtung stützt das von Charles und Carstensen entwickelte Modell der »sozio emotionalen Selektivität«. Demnach haben zwischenmenschliche Harmonie und Verständnis für andere unter jungen Erwachsenen nicht oberste Priorität. Es geht ihnen eher darum, sich gegenüber anderen durchzusetzen, auch wenn das zu Konflikten führt. Verglichen mit den Älteren nehmen die Jungen Ärger und Aufregung in Kauf, um ihre Ziele zu erreichen. Zudem fällt es ihnen leichter, mögliche Belohnungen aufzuschieben, denn sie begreifen ihre Lebenszeit noch als quasi unbegrenzte Ressource.

So kommt es, dass junge Erwachsene schlechte Nachrichten oft stärker in den Blick nehmen. Die Psychologinnen Ruthann Thomas und Lynn Hasher von der University of Toronto (Kanada) wollten 2006 herausfinden, ob Menschen verschiedenen Alters positive und negative Informationen unterschiedlich verarbeiten. Sie holten je 48 jüngere Probanden zwischen 18 und 28 Jahren sowie ältere zwischen 60 und 75 ins Labor und präsentierten ihnen auf einem Bildschirm viele Zahlenpaare, in deren Mitte jeweils ein Wort entweder positiven, negativen oder neutralen Inhalts zu lesen war. Diese Begriffe galt es zu ignorieren, denn die Freiwilligen sollten bei einer späteren Abfrage angeben, ob die beiden Zahlen gerade oder ungerade waren oder ob es sich um einen Mix von geraden und ungeraden Zahlen gehandelt hatte. Benötigten die Probanden für die Antwort mehr Zeit bei Zahlenpaaren, die ein negatives Wort enthielten, als bei positiven Begriffen, so hatten sie sich davon offenbar leichter ablenken lassen.


Macht der schönen Erinnerungen

Genau dieser Fokus auf allgemein unerwünschte Gefühlsqualitäten war bei den jungen Erwachsenen deutlich ausgeprägter als bei den älteren. Im weiteren Verlauf des Versuchs wurden die Probanden zudem mit einem Gedächtnistest überrascht: Sie sollten nun in einer Reihe von Wörtern jene wiedererkennen, die ihnen bereits in Kombination mit den Zahlenpaaren begegnet waren. Auch hier zeigte sich: Negative Wörter blieben besser in der Erinnerung der jungen Versuchspersonen haften; ältere behielten fast ausschließlich positive Wörter im Gedächtnis!

Der Begriff »Midlife Crisis« beschreibt einen Einbruch im subjektiven Wohlbefinden - vor allem von Männern - zwischen 40 und 60 Jahren. Empirische Belege für die beliebte Annahme, in diesem Alter würden Menschen ihr Leben häufig grundsätzlich in Frage stellen und aus der Bahn geworfen werden, sind allerdings rar. Zwar kommen in den mittleren Jahren oft neue Probleme auf uns zu: Die Eltern werden gebrechlich, benötigen Pflege oder sterben, und um die eigene Gesundheit und Fitness ist es ebenfalls nicht mehr ganz so blendend bestellt. Mancher muss sich mit dem Scheitern seiner Ehe abfinden, und ein beruflicher Neustart ist nun auch schwieriger, so dass etwa die Angst vor Arbeitslosigkeit zunimmt. Demgegenüber wächst laut Studien aber die Überzeugung, mögliche Probleme aus eigener Kraft in den Griff zu bekommen.

Der Entwicklungspsychologe Daniel Mroczek von der Purdue University in West Lafayette (US-Bundesstaat Indiana) untersuchte 2004 den Gefühlshaushalt von Amerikanern im »besten Alter«, indem er auf Daten aus einer landesweiten Befragung zu den Lebensumständen der US-Bürger zurückgriff. Menschen mittleren Alters, so Mroczek, investieren insgesamt mehr Energie in Aktivitäten, die Stress verursachen können - sei es beruflich oder privat. Darin kann man einerseits Erfüllung finden, häufig gibt es allerdings vermehrt Anlass zu Reibereien.

Unter welch besonderem Druck Menschen in diesem Lebensabschnitt stehen, zeigten 2004 der Psychologe David Almeida von der Pennsylvania State University in University Park und seine Kollegin Melanie Horn. Sie wollten herausfinden, wie Menschen in ihrem Alltag auf Stress reagieren. Ihre Befragten mittleren Alters hatten deutlich mehr Tage vorzuweisen, an denen sie belastende Situationen bestehen mussten, und nahmen die jeweiligen Stressauslöser zudem ernster als Senioren wie auch die untersuchten Jungspunde. Auffällig war jedoch, dass in den mittleren Jahren das Gefühl der Kontrolle besonders stark ausgeprägt war. Parallel mit den Aufgaben und der Verantwortung wächst wohl die Kompetenz, ihnen gerecht zu werden.

Jenseits der 60 hält das Leben in der Vorstellung vieler Menschen nur trübe Aussichten parat. Der körperliche und geistige Abbau schreitet voran, man muss sich mit allerlei Gebrechen herumschlagen und den Verlust nahestehender Menschen hinnehmen. Dennoch sind alte Menschen im Schnitt emotional zufriedener als junge. Wie ist das zu erklären?

Im Jahr 2005 untersuchten Forscher um Kira Birditt von der University of Michigan in Ann Arbor (USA) das typische Konfliktverhalten bei Jung und Alt. Über eine Woche lang sollten mehr als 600 Freiwillige in Telefoninterviews allabendlich von ihren Alltagsnöten berichten. Die Auskünfte teilten die Forscher in verschiedene Kategorien ein - zum Beispiel: Hatte der Befragte einen anderen verbal attackiert? War er gar handgreiflich geworden? Oder hatte er den Konflikt ignoriert?


Gelassenheit am Lebensabend

Ergebnis: Ältere hatten im Schnitt nicht nur weniger Auseinandersetzungen als junge oder mittelalte Probanden, sie reagierten auch gleichmütiger darauf und empfanden Konflikte als weniger nervenaufreibend. Im Gegensatz zu den anderen Altersgruppen blieben sie meistens passiv - eine Strategie, die die Forscher als einen Schlüssel zur Seelenruhe betrachten. David Almeida knöpfte sich gemeinsam mit anderen Kollegen im Jahr 2009 erneut die Daten aus den Telefoninterviews vor. Wie sich zeigte, gingen die Senioren Konflikten nicht nur aus dem Weg; sie bereiteten ihnen zugleich weniger unangenehme Gefühle. Konfrontationen zu vermeiden, kommt den Zielen von Älteren entgegen: Für sie hat das eigene Wohlbefinden oberste Priorität.

Ältere sind eher in der Lage, unangenehme Situationen zu akzeptieren und sich innerlich davon zu distanzieren, erklären Susan Charles und Laura Carstensen. Der Lebensabend sei also meist deutlich angenehmer, als viele vermuten, so die Forscherinnen. Allerdings: Auch ältere Menschen sind natürlich nicht immun gegen Probleme und Konflikte - so zeigen sie vor allem in Sachen Traurigkeit kaum Vorteile gegenüber jüngeren Semestern.

Simone Schlagman von der University of Hertfordshire in Hatfield (England) hat noch eine andere Erklärung dafür, warum sich Ältere nicht mehr so sehr mit Unangenehmem belasten: Es könnte ein Nebeneffekt ihres nach lassenden Gedächtnisses sein. Die Forscherin analysierte 2006 den Inhalt autobiografischer Erinnerungen von Probanden verschiedenen Alters, die über ihr bisheriges Leben ausführlich Buch geführt hatten.

Alt und Jung erinnerten sich unterm Strich zwar an ähnlich viele schöne Dinge, die Beschreibungen der Älteren jedoch kreisten deutlich seltener um persönliche Niederlagen oder Unfälle - und wenn, stuften sie diese allgemein als weniger gravierend ein.

Hirnforscher konnten in Labortests den späten Sinn fürs Schöne im Leben bestätigen. Ein Team um die Psychologin Mara Mather von der University of California in Santa Cruz untersuchte 2004 mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) die Gehirne von 18- bis 29-Jährigen sowie die von Menschen zwischen 70 und 90 Jahren. Im Scanner liegend sahen die Probanden eine Reihe von Bildern und sollten jeweils per Knopfdruck auf einer Skala von eins bis vier angeben, wie sehr sie sich davon angesprochen oder abgestoßen fühlten.

Dabei wühlten negative Bilder jüngere Teilnehmer stärker auf, als dies bei Probanden im fortgeschrittenen Alter der Fall war. Auch fiel die Aktivität der Amygdala - der wichtigsten Schaltstation der Gefühle im Gehirn - bei den älteren stärker angesichts positiver Bilder aus als bei negativen. Unter den jungen Erwachsenen verhielt es sich gerade umgekehrt.

Die Gelassenheit des Alters lasse sich dennoch nicht allein auf biologische Faktoren zurückführen, so Mather, zumal unklar sei, inwiefern die Unterschiede in der Amydalaaktivität ursächlich mit der größeren Resistenz älterer Menschen gegenüber Ärger oder Angstgefühlen zusammenhängt. Gut möglich, dass der Blick ins Gehirn nur eine andere Art der Beschreibung erhöhter emotionaler Kontrolle liefert.

Fazit: Die verbreitete Angst vor dem Älterwerden erscheint im Licht der Wohlbefindensforschung unangebracht. Eine Garantie für den sonnigen Lebensabend gibt es freilich nicht! Doch immerhin, die Statistik macht Mut - und wir haben unser Befinden zu einem gewissen Grad sogar selbst in der Hand.


Christian Wolf ist promovierter Philosoph und freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.


RANDNOTIZ

Kurz erklärt

Quer- und Längsschnittstudien
Psychologische Alterseffekte lassen sich auf zwei Wegen erforschen: entweder durch Vergleich von Menschen unterschiedlichen Alters (im Querschnitt) oder indem man ausgewählte Personen über längere Zeit regelmäßig befragt oder testet (Längsschnitt). Ersteres kann durch den Generationenmix zu Verzerrungen führen; Letzteres ist methodisch aufwändig.


QUELLEN

Birditt, K. et al.: Age Differences in Exposure and Reactions to Interpersonal Tensions: A Daily Diary Study. In: Psychology and Aging 20, S. 330-340, 2005

Charles, S.T., Carstensen, L.L.: Unpleasant Situations Elicit Different Emotional Responses in Younger and Older Adults. In: Psychological Aging 23, S. 495.504, 2008

Charles, S.T. Piazza, J.R.: Age Differences in Affective WellBeing: Context Matters. In: Social and Personality Psychology Compass 3, S. 711-724, 2009

Mather, M. et al.: Amygdala Responses to Emotionally Valenced Stimuli in Older and Younger Adults. In: Psychological Science 15, S. 259-263, 2004

Riediger, M. et al.: Seeking Pleasure and Seeking Pain: Age-Related Differences in Pro- and Contra-Hedonic Motivation from Adolescence to Old Age. In: Psychological Science 20, S. 1529-1535, 2009

Schlagman, S. et al.: A Content Analysis of Involuntary Autobiographical Memories: Examining the Positivity Effect in Old Age. In: Memory 14, S. 161-175, 2006

Stone, A.A. et al.: A Snapshot of the Age Distribution of Psychological Well-Being in the United States. In: Proceedings of the National Academy of Sciences 107, S. 9985-9990, 2010

Weitere Quellen im Internet: www.gehirn-und-geist.de/artikel/1116623


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 15:
Wer zuletzt lacht
Gute Laune ist nicht nur eine Frage der Lebensumstände. Auch die persönliche Reife und Erfahrung tragen erheblich dazu bei.

Abb. S. 17:
Stimmungsbarometer
Laut einer Untersuchung von 2010 an Tausenden von US-Bürgern nimmt das all gemeine Wohlbefinden ab dem 50. Lebensjahr statistisch gesehen zu - bei Frauen wie bei Männern (Grafik links). Dies scheint vor allem mit einem Rückgang von Momenten der Sorge und Wut zusammen zuhängen; Traurigkeit hingegen ist über alle Altersgruppen hinweg relativ gleich verteilt.

Abb. S. 18:
Rosige Zeiten
Eine positive Grundstimmung will kultiviert werden wie der heimische Garten.


© 2011 Christian Wolf, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 9/2011, Seite 14 - 19
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2011