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BERICHT/086: Wahrnehmung - Bilder im Dunkeln (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 11/2011
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Psychologie | Wahrnehmung
Bilder im Dunkeln

Von Erich Kasten


Was passiert, wenn man gesunde Menschen vorübergehend aller äußeren Sinneseindrücke beraubt? Ihr Gehirn fängt nach kurzer Zeit an, ihnen Bilder und Geräusche vorzugaukeln. Der Neuropsychologe Erich Kasten verrät, warum »sensorische Deprivation« Halluzinationen hervorruft.


»Im Jahr 2006 begann ich plötzlich hellzusehen«, schilderte mir vor Kurzem eine Patientin. Nach einer Fehlgeburt habe sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Anschließend sei sie im Krankenhaus von seltsamen Visionen heimgesucht worden. »Zuerst konnte ich in meine Zukunft blicken. Dann tauchten sehr lebhafte, bislang offenbar verschüttete Details aus meiner Vergangenheit auf. Ich konnte mich plötzlich erinnern, dass ich in Frankreich auf einem Schloss zur Welt gekommen und als Baby von einem Arzt nach Deutschland entführt worden war. Das alles erschien mir viel zu deutlich, als dass es bloß ein Hirngespinst sein konnte. Wie entstehen solche gestochen scharfen Bilder im Kopf?«

Die Antwort auf diese Frage ist schwierig. Seit Jahrzehnten versuchen Wissenschaftler, die neurobiologischen Ursachen solcher Trugwahrnehmungen zu ergründen. Doch warum manche Menschen Dinge sehen, hören oder fühlen, die nicht der äußeren Realität entsprechen, ist noch immer eines der großen Rätsel der Psychiatrie. Immerhin gibt es einige verblüffend einfache Experimente, die zeigen: Halluzinationen treten nicht nur bei psychischen Erkrankungen auf. Jeder Mensch kann sie erleben - wenn man sein Gehirn lange genug von äußeren Einflüssen abschirmt!

Anfang der 1970er Jahre hatte ich das am eigenen Leib erfahren. Damals verbreitete sich die transzendentale Meditation wie ein Virus in der Generation der Hippies und »Gammler«. Bei dieser Technik gilt es, in einer stillen Umgebung die Augen zu schließen und gedanklich immer wieder ein und dasselbe Mantra zu wiederholen. Derart von der Außenwelt abgeschottet, hatte ich in tiefster Versenkung Eindrücke, die mit den Trugbildern der anfangs erwähnten Patientin vergleichbar waren. Ich erinnerte mich so klar wie nie zuvor an Szenen aus meiner Kindheit oder sah wunderschöne Bilder, in denen ich über fantasierte Wälder, Berge und Schluchten flog.


Drastische Forschungsmethoden

Schon Anfang der 1950er Jahre hatte der kanadische Psychologe Donald Hebb begonnen, die Effekte der »sensorischen Deprivation« systematisch zu untersuchen - mit drastischen Methoden. Zusammen mit seinem Schüler Walter Bexton suchte Hebb an der McGill University in Montreal Teilnehmer für einen ungewöhnlichen Versuch: Sie boten Studenten die für damalige Verhältnisse exzellente Entlohnung von 20 Dollar dafür, dass sie tagelang gar nichts machen sollten. Die Versuchspersonen lagen auf einem Bett in einem schalldichten Raum und trugen isolierende Rollen über ihren Händen und Armen. Kissen auf den Ohren schirmten sie von jeder akustischen Wahrnehmung ab, und sie trugen eine Brille, durch die sie so gut wie nichts mehr sehen konnten.

Nach ein paar Stunden begannen viele Probanden, in der absolut stillen Umgebung Stimmen oder Musik zu hören,manche sahen Farben und Formen, Muster oder ganze Szenen

Zunächst erschien die Teilnahme an diesem Experiment den Versuchspersonen leicht verdientes Geld zu sein. Doch daraus wurde nichts. Schon bald stellten die Probanden fest, dass sie sich in der Isolation nicht konzentrieren konnten. Ihre Gedanken schweiften ständig ab, unwillkürliche Erinnerungen drangen in ihr Bewusstsein. Nach ein paar Stunden begannen viele, in der absolut stillen Umgebung Stimmen oder Musik zu hören, manche sahen Farben und Formen, tapetenartige Muster oder ganze Szenen. So erblickte ein Teilnehmer urzeitliche Tiere in einem Dschungel, ein anderer sah Eichhörnchen mit Schneeschuhen durch den Raum stapfen. Die meisten Studenten gaben nach ein paar Tagen auf - kein einziger hielt den Versuch länger als eine Woche durch.


Monotonie vernebelt das Denken

Hebb schlussfolgerte, dass die Nervenzellen in den sensorischen Regionen des Gehirns ständige Stimulation brauchen - sonst würden sie offenbar anfangen, sich »mit sich selbst« zu beschäftigen und irreale Sinneseindrücke zu produzieren. Ohne es zu ahnen, begründete der k anadische Psychologe damit eine völlig neue Forschungsrichtung: die Isolationsexperimente. Eine Reihe von Wissenschaftlern sperrte fortan Teilnehmer in schalldichte, später auch in völlig finstere Räume, um die Effekte auf das Gehirn zu untersuchen.

Meistens hielt es keiner der Teilnehmer länger als drei Tage in einer solchen Kammer aus. Die Monotonie veränderte nicht nur ihre Wahrnehmung und rief lebhafte Halluzinationen hervor, sie beeinträchtigte auch das Denken. Nach einer Weile fühlten sich die Teilnehmer fremd in ihrem Körper. Es fiel ihnen zunehmend schwer, einfache Rechenaufgaben oder Logikrätsel zu lösen. Seelisch bis dahin völlig gesunde Probanden zeigten durch den Entzug sämtlicher Umweltreize starke psychische Veränderungen, die in einigen Fällen an die Symptome einer Schizophrenie erinnerten.

1956 erfand der Mediziner John Lilly den Sensory Deprivation Tank, einen großen schallisolierten Behälter, der mit körperwarmem Öl oder Salzwasser gefüllt ist. Wer in der Finsternis schwimmt, erlebt totale Isolation in einem nahezu schwerelosen Zustand. Studienteilnehmer verloren in diesem Tank schnell jede Orientierung und wussten schließlich nicht mehr, wo der eigene Körper endete und die Umwelt begann. Auch sie litten unter Halluzinationen.

Mittlerweile sperren Wissenschaftler nur noch selten Probanden für Tage in eine finstere Kammer. Stattdessen arbeiten sie beispielsweise mit blindfolding, dem Zudecken der Augen. 2004 etwa ließen Forscher um Alvaro Pascual-Leone von der Harvard Medical School in Boston (US-Bundesstaat Massachusetts) Versuchsteilnehmer vorübergehend erblinden, indem sie ihnen einen solchen vollkommen dichten Blickschutz aufsetzten. Ein Streifen Fotopapier im Inneren der Brille diente zur Kontrolle, ob im Lauf des Experiments auch wirklich kein Licht hindurchdrang.

Die Probanden sollten trotz der Beeinträchtigung weiterhin versuchen, ihrem üblichen Tagesablauf nachzugehen. 10 der 13 Teilnehmer begannen nach kurzer Zeit, Trugbilder zu sehen. Die Halluzinationen reichten von einfachen Lichtblitzen bis hin zu farbenfrohen, wunderschönen Landschaften.

Zu einer Verarmung von Reizen aus der Außenwelt kann es auch durch Erkrankungen kommen, die zu Blindheit oder Taubheit führen. Schon 1760 beschrieb der Genfer Naturforscher Charles Bonnet die lebhaften Halluzinationen seines Großvaters, der an grauem Star litt und langsam sein Augenlicht verlor. Von Zeit zu Zeit sah er nicht existierende Personen, Kutschen und Gebäude, war sich jedoch der unwirklichen Natur dieser Erscheinungen bewusst. Mittlerweile ist bekannt, dass viele Blinde oder fast erblindete Personen am »Bonnet-Syndrom« leiden (siehe G&G 5/2010, S. 44).

Ähnlich ergeht es Schwerhörigen, wie die Medizinerin Tanit Ganz Sanchez von der brasilianischen Universität von São Paulo 2011 in einer Übersichtsarbeit berichtete. Demnach erleben viele ältere Menschen, deren Gehör nachlässt, so genannte musikalische Halluzinationen. Da ein Hörgerät die Symptome der Patienten nachweislich verbessere, seien die imaginären Melodien vermutlich auf sensorische Deprivation zurückzuführen, schreibt die Ärztin.

Was können wir aus den Daten dieser Studien über die Entstehung von Trugwahrnehmungen lernen? Offenbar ist das Gehirn auf permanente Stimulation angewiesen. Denn Nervenzellen, die nicht benutzt werden, drohen zu verkümmern. Um funktionsfähig zu bleiben, müssen sie sich daher hin und wieder spontan selbst entladen. Diese zufälligen, schwachen Impulse gehen normalerweise im allgemeinen Rauschen der neuronalen Kommunikation unter. Dafür verantwortlich sind vor allem hemmende Botenstoffe wie GABA (Gamma-Aminobuttersäure). Mit ihrer Hilfe kann ein Netzwerk von Nervenzellen, das gerade aktiv ist, konkurrierende neuronale Prozesse blockieren. Ein typisches Beispiel für diese Hemmprozesse ist, dass uns die volle Blase weniger unangenehm erscheint, wenn wir uns mit Musik ablenken oder uns bewegen.

Woher stammen aber innere Bilder? Für jedes Objekt, das wir kennen, besitzen wir ein neuronales »Assembly« - eine Gruppe von Nervenzellen, die immer dann gemeinsam feuern, wenn wir das Objekt sehen. Der Neuronenverband für »Tisch« oder Teile davon werden zum Beispiel immer aktiv, wenn wir ein solches Möbelstück wahrnehmen. Diese im Gedächtnis gespeicherten Muster können wir aber auch ohne Anregung durch äußere Seheindrücke abrufen. Das ist sinnvoll, denn so können Sie sich jetzt einen Tisch vor Ihrem geistigen Auge vorstellen, egal wo Sie sind.

Entladen sich spontan eine oder mehrere Nervenzellen in dem Assembly, sehen wir aber keinen Tisch, denn bei der großen Zahl zufälliger Impulse würde das jede normale Wahrnehmung unmöglich machen. Die aufkommenden Bilder werden daher üblicherweise durch andere neuronale Abläufe blockiert. Doch was geschieht, wenn das Gehirn gerade nichts Besseres zu tun hat?


Zufällige Signale

Wie die Isolationsexperimente zeigen, können sich die Spontanerregungen dann offenbar ihren Weg ins Bewusstsein bahnen. Das erklärt auch, warum sich bei solchen Bildern - im Gegensatz zu bewusst erzeugten Fantasien und Vorstellungen - niemals vorhersagen lässt, was als Nächstes auftauchen wird. Welcher der Tausenden von Spontanimpulsen aus den Gedächtnisspeichern sich gegen die übrigen durchsetzt, ist purer Zufall.

Die inneren Bilder, die sich in dunklen Kammern als Halluzinationen bemerkbar machen, sind im Prinzip also immer da - wir bemerken sie nur normalerweise nicht, da wir ständig mit anderen Dingen beschäftigt sind, die unser Gehirn auf Trab halten. Sie können selbst mit einfachen Mitteln versuchen, diese verborgene Innenwelt sichtbar zu machen. Legen Sie sich dazu in einer ruhigen Umgebung entspannt hin und schließen Sie die Augen. Denken Sie über nichts nach, sondern konzentrieren Sie sich ganz auf die Schwärze der Innenseite Ihrer Augenlider.

Wenn sie es schaffen, so eine Weile wach zu bleiben, treten bei den meisten Menschen schon nach kurzer Zeit seltsame visuelle Phänomene auf, die früher als »fantastische Gesichtserscheinungen« bezeichnet wurden. Im Gegensatz zu willentlich erzeugten Vorstellungen und Erinnerungen entstehen sie völlig spontan und sind erstaunlich klar, lebendig und oft bewegt. Neben geometrischen Formen kommen häufiger Gegenstände, Tiere, Personen und Landschaften vor, die meist schön anzusehen sind.

Wie unterscheiden sich diese Trugbilder nun von den Halluzinationen bei Schizophrenie, die für die Patienten oft Furcht einflößend sind? Offenbar gibt es im Gehirn ein Modul, das uns mitteilt, ob ein Bild der äußeren Wirklichkeit entspricht oder nur vorgestellt ist. Bei einer psychischen Erkrankung funktioniert dieses Modul nicht mehr korrekt - die Betroffenen können nicht zwischen fantastischer Erscheinung und Realität unterscheiden.

Auch viele Teilnehmer der Isolationsexperimente in den 1950er Jahren reagierten angstvoll auf die Trugwahrnehmungen, denn sie hatten diese nicht erwartet und wussten sie nicht zu deuten. Mittlerweile jedoch ist zumindest die totale Isolation in John Lillys Deprivationstank, auch Floating genannt, hochbegehrt. Heute nutzen wir das Verfahren, um zu entspannen oder spirituelle Erfahrungen zu machen - und lernen dabei sogar etwas über die irreale Welt in unserem Kopf.


Erich Kasten ist Professor für Medizinische Psychologie an der Universität Göttingen.


RANDNOTIZEN

Künstlich isoliert
Um zu erforschen, wie das Gehirn auf das Fehlen von äußeren Einflüssen reagiert, schalten Forscher vorübergehend Umweltreize aus. Die »totale Isolation« erleben die Probanden oft als bedrohlich.

Fantasiereisen
Eine abgeschwächte Form von sensorischer Deprivation tritt bei monotonen Langstreckenfahrten über Nacht auf: die so genannte highway hypnosis. Dabei sehen Autofahrer plötzlich Objekte, Personen oder Tiere auf der Straße, die nicht real sind. Auch viele Abenteurer und Entdecker berichten von solchen Trugwahrnehmungen. Hannes Lindemann segelte 1955 im Alleingang über den Atlantik. Im Gurgeln des Wassers hörte er Stimmen, die zunächst nur flüsterten oder lachten. Später wurden sie so deutlich, dass er an ihren Gesprächen teilnahm. Einmal machte Lindemann sogar eine verschwommene Gestalt über dem Wasser aus, die zu ihm sprach.


QUELLEN

Bexton, W.H. et al.: Effects of Decreased Variation in the Sensory Environment. In: Canadian Journal of Psychology 8, S. 70-76 1954

Ganz Sanchez, T. et al.: Musical Hallucination Associated with Hearing Loss. In: Arquivos de Neuro-Psiquiatria 69, S. 395-400, 2011

Merabet, L.B. et al.: Visual Hallucinations During Prolonged Blindfolding in Sighted Subjects. In: Journal of Neuro-Ophthalmology 24, S. 109-113, 2004


© 2011 Erich Kasten, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 11/2011, Seite 37 - 39
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2011